Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit (1)

Knapp 30 Seiten verwendet Judith Butler auf die Einleitung ihres Buches, das deutet schon an, dass sie gründlich an die Sache herangehen will. Es ist 2020 erschienen, der Überfall auf die Ukraine ist also noch nicht am Horizont, es stehen vielmehr die „Black Lives Matter“-Proteste in den USA im Vordergrund und die Reaktionen der Trump-Regierung.

Butler beginnt mit der Feststellung, dass schon die Semantik von Gewalt und Gewaltfreiheit umstritten ist. Längst reicht es nicht mehr aus, sich für Gewaltlosigkeit auszusprechen, wenn vor allem staatliche Akteure alles unternehmen, gewaltlose Praktiken zu gewaltsamen umzuetikettieren. Erdogan etwa bezeichnete die Demonstrationen im Gezi-Park als „Terrorismus“. In Putins Russland ist es seit einigen Tagen verboten, den Krieg in der Ukraine überhaupt als solchen zu benennen. Der jüdische Demokrat Selenskyi wird in der Propaganda aus Moskau zum völkermordenden Nazi.


(Photo by Jason Leung on Unsplash)

Es ist also in vielen Fällen alles andere als klar, was als Gewaltakt gilt und wie sich das von gewaltlosem Handeln unterscheiden lässt. Gewalt ist immer schon interpretiert, und das bedeutet, dass auch der Interpretationsrahmen, innerhalb dessen etwas als „Gewalt“ eingestuft wird, mitbetrachtet werden muss. Wenn Gewalt zur Selbstverteidigung in Ordnung ist, dann ist zu klären, wer oder was dieses Selbst ist, wo seine Grenzen verlaufen und wie seine sozialen Bindungen und Bezüge aussehen.

Lässt sich Gegengewalt gegen ein Regime wie das der Apartheid pragmatisch bzw. als Mittel zu einem legitimen Zweck rechtfertigen? Hier stellt Judith Butler Fragen, auf die sie im Verlauf der folgenden Kapitel eingehen wird, zum Beispiel:

"Muss man unter Umständen hinnehmen, dass sich kein Unterschied zwischen der einen und der anderen Gewalt mehr angeben lässt?"
"Verdoppelt der Einsatz von Gewalt die Gewalt, und zwar in Richtungen, die sich nicht vorher eingrenzen lassen?"
"Kann Gewalt bloßes Instrument und Mittel sein, um gegen Gewalt – ihre Strukturen, ihre Regime – anzugehen, ohne selbst zum Zweck zu werden?"
"Was, wenn Gewalt eben die Art von Phänomen ist, das immer wieder "außer Kontrolle" gerät?"
"Wenn Werkzeuge sich ihre Benutzer zunutze machen können, und Gewalt ein Werkzeug ist, folgt dann nicht, dass Gewalt sich ihren Nutzer zunutze machen kann?"
"Wenn Gewaltlosigkeit wie eine »schwache« Haltung erscheint, sollten wir fragen: »Was gilt als stark?« Wie oft sehen wir, dass Stärke mit der Ausübung von Gewalt oder dem Hinweis auf die Bereitschaft zur Gewaltausübung gleichgesetzt wird?"

Dann formuliert Butler ihre Ziele für das Buch: Sie möchte Gewaltlosigkeit weniger als eine Frage indivdueller Moral, sondern als soziale und politische Praxis verstehen, die sich systemischer Zerstörung widersetzt und die Freiheit und Gleichheit fördert. Sie möchte die Rolle von Wut, Empörung und Aggression für Gewaltlosigkeit in den Blick nehmen. Sie möchte bewusst machen, dass Gewaltlosigkeit ein Ideal ist, das sich nicht immer zu hundert Prozent umsetzen lässt, dass also immer Unschärfen und Ambiguitäten bleiben.

Gewaltlosigkeit bedeutet nicht in erster Linie, dass man keine Gewaltakte begeht (sie ist also nicht in erster Linie Verzicht), sondern sie ist handfester „Einsatz für die Ansprüche des Lebens“. Damit unterläuft sie das entscheidende Ziel gewaltsamer Macht, nämlich „die Randständigen als entbehrlich hinzustellen und sie in die Zone des Nichtseins abzudrängen“.

Eben das geschieht gerade in der Ukraine: Wie schon in Syrien und Tschetschenien werden ganze Städte in die „Zone des Nichtseins“ gebombt. Was können wir angesichts dessen für die Ansprüche des Lebens tun? Ein Schritt wäre sicher, Putins Gewaltexzesse nicht als „stark“ und das Zögern und die Zurückhaltung beim Einsatz von Gewalt als „schwach“ zu framen. In verschiedenen Kommentaren und Berichten der letzten Wochen kam das immer wieder so vor. Auch der Vergleich mit einem Bären ist für einen Kriegsverbrecher mehr als schmeichelhaft (oder für das Raubtier eine Beleidigung).

Stark ist hingegen die Unbeugsamkeit der Ukrainer, stark ist die Hilfsbereitschaft in den Nachbarländern, stark ist auch die Bereitschaft vieler hier, für den Frieden Verzicht zu üben – durch Spenden, das Aufnehmen und Versorgen von Geflüchteten. Noch stärker wäre der vollständige Verzicht auf fossile Energieträger aus Russland (und mittelfristig aus allen Regionen der Welt, wo Despoten regieren, die mit dem Gewinn ihre Kriege finanzieren, langfristig müssen wir ohnehin ganz raus). Schwach hingegen war jeder Schritt, der uns seit dem Einmarsch auf der Krim in Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gehalten hat. Mit diesem Makel wird vor allem Angela Merkel und ihre Ministerriege um Peter Altmaier leben müssen.

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