Sozial, transkulturell und herrschaftsfrei – Leonardo Boff über die Zukunft des charismatischen Christentums

Ich sitze an meiner Predigt für den dritten Advent und lese dazu Leonardo Boffs (morgen wird er 70!) Gedanken zur Zukunft des Christentums in einer globalen Kultur. Er hat ein sehr schönes Stück zur Bedeutung des charismatischen Christentums darin, und als ich das las, spürte ich eine wachsende Begeisterung für meine charismatischen Wurzeln:

Seit den siebziger Jahren ist überall auf der Welt ein beeindruckendes Anschwellen der charismatischen Bewegung zu beobachten, zunächst auf ökumenischer und dann auch auf katholischer Ebene. Das Phänomen ist Teil jener aufbrechenden Kultur, dass die Menschen Durst und Hunger nach Spiritualität, nach lebendiger Gotteserfahrung und nach flexiblem Umgang mit Traditionen haben. Millionen und Abermillionen von Charismatikern zeigen, dass es möglich ist, ein anderes Modell von Kirche zu haben, ohne dass dabei die Werte der großen Überlieferung zu Bruch gehen. Natürlich stimmt es, dass diese Bewegung noch kein definitives Profil zu erkennen gibt. Aber es stimmt auch, dass sie eine mächtige Leidenschaft für Gott und für den Geist an den Tag legt, ohne dass es ihr bisher allerdings gelungen wäre, diese mit der Leidenschaft für die Armen und dem Geist als dem pater pauperum, als Vater der Armen in ein rechtes Verhältnis zu bringen. Sobald der charismatischen Bewegung dieses neue Zu- und Miteinander gelungen sein wird, wird sie auch ihre volle evangeliumsgemäße Reife erreicht haben.

Die charismatische Bewegung lebt aus der Erfahrung des Geistes. Deshalb mangelt es ihr auch nicht an einer ausgearbeiteten Theologie. Diese gibt es also, wenn auch in der Form reflektierter Spiritualität, und der liegt freilich nicht sonderlich an Deckungsgleichheit mit der Gesamtarchitektur des religiösen Wissens.

Was für eine Zukunft hat das charismatische Christentum? Die charismatische Dimension am Christentum ist unvergänglich, weil sie zur Struktur des Ganzen gehört, welches per se in Bewegung ist. Aus diesem Grund hatte sie stets Vergangenheit, und aus diesem Grund wird sie auch stets Zukunft haben. In Begegnung mit den vielen spirituellen Wegen, die sich auf dem religiösen Weltmarkt tummeln, ist diese Spielart von Christentum womöglich eines der Modelle, die sich am besten dafür eignen, den inneren Wert der verschiedenen Ausdrucksformen des Geistes in den Kulturen der Völker zu erfassen. Es macht einen freimütigen Dialog zwischen allen möglich, und die Welt kann es akzeptieren, insofern es ein nichtimperialistisches, herrschaftsfreies Christentum darstellt, zugleich aber voller Spiritualität und Treue zum transkulturellen Charakter der Erfahrung Gottes.

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Das Vorbild-Problem

Tim Keel macht sich in Intuitive Leadership Gedanken zu idealisierten Vorstellungen von Kirche und Gemeinde und den problematischen Folgen:

Unzählige Male habe ich Leiter und Gemeindeglieder (oder desillusionierte Ex-Kirchgänger) sagen hören: „Hätten wir doch nur so eine Gemeinde wie in Apostelgeschichte 2,“ oder „wir müssen eine neutestamentliche Gemeinde sein“ oder „Gott möchte, dass Gemeinden Gemeinschaften sind, die nach Apostelgeschichte 2 leben“. Wenn aber solche Erklärungen Gottes dauerhafte Absicht für die Kirche wiedergeben, hat er in der Umsetzung lausige Arbeit geleistet. So weit ich sagen kann, hielt die Gemeinde von Apostelgeschichte 2 nur zwei bis drei Kapitel, und von da ab beobachten wir ein gerade eben noch beherrschtes Chaos, während die Gemeinden treu versuchen, mit dem Leben Schritt zu halten, das unter ihnen und um sie her explodierte.

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Christen, die der Welt gut tun

Andrea Riccardi von der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio bekommt den renommierten Karlspreis. Das wird die Initiative Miteinander für Europa freuen, die gerade in Stuttgart den Ökumenepreis 2008 verliehen bekommen hat. Neben Sant’Egidio gehören da auch der CVJM, die Fokolarbewegung und gut 200 andere Bewegungen dazu – Alpha International ist auch dabei. Vorbildlich ist das soziale Engagement von Riccardis Gemeinschaft, die 50.000 Mitglieder in 70 Ländern zählt:

Weltweite Aufmerksamkeit erregten Riccardi und seine Mitstreiter spätestens zu Beginn der 90er Jahre. Über die Lieferung von Hilfsgütern und einfache Aufbauprojekte mit den Kriegswirren in Mosambik in Berührung gekommen, wurden sie zu Vermittlern bei den Verhandlungen, die nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Bürgerkrieg zum Friedensschluss führten. (SZ vom 6.12.08)

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The Great Emergence: Aufbruch in eine multipolare Welt

(Dies ist der vorletzte Post zu The Great Emergence, hier die vorherigen Teile: 1, 2, 3, 4, 5)

Das bunte Treiben geht weiter und wie in jeder Neukonfiguration stellt sich die Frage, wo die Autorität nun liegt. Es gab dabei schon früher Unterschiede zwischen den vier Feldern, die nun wieder eine Rolle spielen. In der linken Hälfte des Diagramms galt das sola scriptura immer schon mit gewissen Einschränkungen. Die Renewalists waren immer der Auffassung, dass der Geist als Quelle von Autorität und leitende Instanz nicht einfach auf das Schriftwort reduziert werden darf. Die Liturgicals hatten zwar Vorbehalte gegen allzu spontane Eingebungen, die sich noch nicht ausreichend bewährt hatten, aber auf der anderen Seite hatten sie auch Vorbehalte gegen ähnlich „unmittelbare“ Schriftauslegung, die sich dem Dialog mit der reichen Tradition der Christenheit verweigert oder sich darüber hinwegsetzt.

Das Bild wird komplizierter. Über und unter dem kreisenden Zentrum bilden sich neue Felder mit den bekannten Bezeichnungen. Die obere Hälfte betont dabei das rechte Handeln (Orthopraxie – ob liturgisch oder sozial), während die untere Hälfte die rechte Lehre in den Vordergrund stellt (Orthodoxie). In der wachsenden Mitte aber ist diese Unterscheidung aufgehoben.

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Doch die Frage nach der Autorität stellt sich immer noch und führt nun zu einer Polarisierung der Mitte. Tickle sieht hier eine Alternative zwischen Theonomie und Orthonomie. Das muss kurz erklärt werden: Unter Orthonomie (orthos: aufrecht, gerade und nomos: Gesetz, Norm) versteht sie ein ästhetisches Prinzip: Die Wahrheit kann an ihrer Schönheit (d.h. auch der bewegenden Erfahrung) erkannt werden, und sie bewirkt eine gewisse Harmonie in Lehre und Praxis. Viele „emergents“, schreibt Tickle, schütteln den Kopf über die Debatten der Konservativen zu (modernistischen) Fragen wie der Historizität der Jungfrauengeburt. Für sie ist diese Geschichte zu schön, um nicht wahr zu sein – egal, ob das nun „tatsächlich“ so geschehen ist oder nicht.

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Auf der rechten Seite wird dagegen das alte sola scriptura zur Theonomie umfunktioniert: Nur Gott ist die Quelle der Wahrheit, Schönheit liegt im Auge des Betrachters und kann trügerisch sein. Aber auch hier ist unklar, wie menschliche Erkenntnis diesen Gedanken praktisch einholt. Die beiden Ansätze stehen in einer (gelegentlich heftig ausgetragenen) Spannung zu einander. Aber es ist noch nicht gesagt, dass sie einander tatsächlich ausschließen.

In welcher Richtung wäre eine Lösung zu suchen? Die Antworten der früheren Entwicklungsstadien spiegeln immer auch die politischen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit wider, argumentiert Tickle. Die Mönchskirche Gregors des Großen entspricht den frühmittelalterlichen Stammesverbänden, das Papsttum nach dem Schisma ist das Pendant zum Kaisertum (die Kardinäle bilde den Hofstaat), und die Reformation mit dem Priestertum aller Gläubigen, Synoden und gewählten, auf Schrift und Bekenntnis verpflichteten Amtsträgern, spiegelt die wachsende Bedeutung des Bürgertums wider, die dann auch die westlichen demokratischen (im Sinne einer repräsentativen Demokratie) Rechtsstaaten hervorbringt.

Aber die Zeit der nationalen Demokratien geht dem Ende entgegen. Sie verlieren in einer global vernetzten Welt rasch an Bedeutung. Recht und Macht werden neu definiert. Wenn „emergents“ heute nicht mehr eindeutig sagen können, ob die Schrift oder die Gemeinschaft die bestimmende Autorität ist, ist das nicht nur eine Kapitulation vor widerstreitenden Prinzipien, sondern ein Schritt in Richtung System- oder Netzwerktheorie. Das Schlagwort heißt crowdsourcing, das Vorbild ist die Wikipedia. Kein einzelner, keine Kartell der Fachleute und keine Hierarchie kann das ganze Bild mehr überschauen. Erst das Zusammenwirken des ganzen Netzwerks mit allen Knoten und Komponenten führt zu einer angemessenen Reaktion:

Weder institutionelle menschliche Autorität noch gelehrte oder priesterliche Unterscheidung alleine kann den Ton angeben, denn weil beides menschlich ist, ist es den Bedningungen von Raum und Zeit unterworfen und kann zu keiner Perspektive umfassenden Verstehens gelangen. Vielmehr ist es die Art und Weise, wie die Botschaft über die Knoten des Netzwerks auf und ab, hin und her läuft, durch die sie erprobt, ausgebessert, von Weisheit zu rechtem Handeln gemäßigt wird, um den Willen des Vaters auszurichten.

Kein Wunder also, dass sich diese Bewegung nur als Gespräch (conversation) fassen lässt, und eben nicht als theologische Position oder Institution. Und doch stammen die neuen Strukturen des Gesprächs, des Wartens auf den Geist, das Glaubens und des Hörens auf die Schrift aus den vier Quadranten der globalen Kirche, und nicht aus dem kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld, in das sie so gut passen.

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The Great Emergence: Das 20. Jahrhundert und seine Fragen (2)

Das Sinn stiftende „Cable of Meaning“, das von einer gemeinsamen Geschichte und Vorstellungen umhüllt wird, hat drei Stränge: Spiritualität, Moral und gemeinsame Praxis („corporeality“). Der Wandel des Schriftverständnisses im 20. Jahrhundert, den ich am Ende des letzten Posts beschrieben habe, gehört zum letzten Strang. Durch die Entscheidung, sich auf eine Art biblischen Absolutismus zu gründen, hat der Protestantismus sich durch den Bezug auf bestimmte, kodifizierte Glaubenssätze definiert. Der einzelne definiert sich durch die Zustimmung zu diesen Sätzen, die Institution zeigt die korporative Dimension davon auf. Zugleich verweist Tickle auf die Erneuerung der katholischen Lehre in den vatikanischen Konzilen, die den traditionalistischen Kurs vorsichtig öffnete für den Dialog der Konfessionen und Religionen.

Der Strang der Moral bekam es mit der Frage zu tun, was ein menschliches Wesen ausmacht und wo menschliches Leben beginnt und endet – die Themen Abtreibung und Sterbehilfe. Die Definitionen erwiesen sich als schwierig.

Technische Neuerungen wie Unterhaltungselektronik, Computer und das Internet stellten die religiösen Institutionen vor neue Herausforderungen und bedrohen herkömmliche Hierarchien. Der Nationalstaat verliert an Bedeutung in einer globalisierten Welt, Information wird wichtiger als Geld. Aber auch das Risiko der Desinformation steigt in einer „wiki world“.

Der zweite Weltkrieg hatte durch die Abwesenheit der Männer die amerikanischen Hausfrauen in den Beruf gedrängt und nach Kriegsende waren ihnen die Häuser, in die sie zurückkehrten, zu eng geworden. Ein neues Frauenbild war entstanden und die Kirchen überboten sich mit Angeboten, wie man die freie Zeit ausfüllen konnte. Und die Entwicklung setzte sich in den Folgejahren fort: Die Familie als Grundbaustein der Gesellschaft wandelte sich fundamental. Die Pille ermöglichte wirksame Geburtenkontrolle. Beide Ehepartner verdienten sich Geld und Anerkennung zunehmend außerhalb der Familie. Das Zuhause war nicht mehr der Grund für die Arbeit, sondern der Rückzugsraum, in dem jeder neue Kräfte sammelte, um die Arbeit wieder in Angriff zu nehmen. Inzwischen lebt die Mehrheit der Amerikaner schon nicht mehr in klassischen Familien (Vater, Mutter und die eigenen Kinder).

Auch das hatte seine Auswirkungen auf die religiöse Erziehung: Nun fielen auch die Mütter als Vermittler von Geschichten und Glaubensinhalten zunehmend aus. Eine Art biblischer Analphabetismus hielt bei den heute unter Fünfzigjährigen Einzug.

Hier sind zwei Youtube-Videos, auf denen Tickle die wesentlichen Fragen umreißt:

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The Great Emergence: Das 20. Jahrhundert und seine Fragen (1)

Ich hatte diese Fortsetzung ja neulich versprochen: Phyllis Tickle sieht eine theologische und spirituelle Zeitenwende heranziehen, die mit der Reformation vergleichbar ist und deren Vorgeschichte in Nordamerika schon ein gutes Jahrhundert andauert. Hier sind einige Schlaglichter:


Der Verlust der Gewissheit: Das 20. Jahrhundert beginnt mit einem naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Einsteins Entdeckung der Relativität und Heisenbergs Unschärferelation (engl. „uncertainty“) sorgten dafür, dass allmählich für das gesamte akademische Denken absolute Wahrheiten nicht mehr existierten – es gab nur noch Beobachtungen, die vom relativen Standpunkt des Beobachters abhängen. In der Theologie hat die historische Kritik etwa bei Schweitzer die Relativität der Jesusbilder des 18. und 19. Jahrhunderts als Projektionen entlarvt, und Literar- und Formkritik trugen weiter dazu bei, dass auch Schriftauslegung als ein subjektiver Vorgang verstanden wurde – der Glaube an eine unfehlbare Schrift als direkte, unvermittelte Quelle absoluter Wahrheit war dahin.

Die Pfingstkirchen: Zeitgleich entsteht aus der lebendigen, in Gemeinschaft verwurzelten afroamerikanischen Spiritualität eine Bewegung, die ausgesprochen egalitär ist und die Barrieren zwischen Schichten, Geschlechtern und Rassen überwand und eine partizipatorische Gottesdienstkultur entwickelte. Theologie spielte dabei kaum eine Rolle. Die Bibel war nicht unwichtig, aber in Zweifelsfall war klar, dass der Heilige Geist das letzte Wort haben würde.

Die Freizeitgesellschaft: Mit dem Automobil wurden seit Fords „Tin Lizzie“ (1908) große Städte möglich, das Wochenende wurde allmählich zum Ort vielfältiger Freizeitaktivitäten und die Großfamilie saß nicht länger nach der Kirche um Großmutters Tisch – den Ort, an dem bis dahin ein Großteil der religiösen Erziehung stattgefunden hatte. Der Zwei-Generationen-Familie fehlte die „Bremse“, die den Fortschritt im Zaum hielt.

Im Gefolge der Wirtschaftskrise erlebten sozialistische Ideen eine Blütezeit. Traditionelles Christentum geriet in den Verdacht, den gesellschaftlichen Wandel durch ein Bündnis mit den alten, kapitalistischen Autoritäten zu verhindern. Um die Mitte des Jahrhunderts hatten sich die Gemeinden gewandelt. Man baute Gemeindezentren und Sportanlagen und ermöglichten das Erleben sozialer Gleichheit, auf der der gemeinsame Glaube dann aufbaute.

Der Sprung von der traditionellen, konfessionell und dogmatisch geprägten Kirchlichkeit zu einer undogmatischen, erfahrungsorientierten Spiritualität kam mit den Anonymen Alkoholikern. Jeder Teilnehmer hatte die Freiheit, sich Gott so vorzustellen, wie er wollte. Die Gesundung schien auf dieser Fähigkeit zu beruhen. Zugleich wurden die „Fachleute“ in dem Heilungsprozess durch ehemalige Abhängige ersetzt, was wiederum die Rolle des Klerus allmählich untergrub.

Die Begegnung mit dem Buddhismus: Immer neue Wellen von Einwanderern, vor allem aus Asien (und dann die Kriege in Japan, Korea und Vietnam mit den Begegnungen zwischen den Kulturen), trugen dazu bei, dass seit dem Immigration Act von 1965 eine Spiritualität ins Land schwappte, die keine Religion mehr brauchte, um zu funktionieren. Das Christentum in den USA war bis dahin in seiner Mehrheit ländlich, hart arbeitend, ästhetisch unterentwickelt und lebte aus einer Frömmigkeit des Wortes. Der Buddhismus begann, ein großes Vakuum zu füllen:

Dann kam der Buddhismus mit seiner reichen, reichen Erzähltradition weisheitlicher Erfahrung, Jahrhunderten entspannter Konversation über das Leben des menschlichen Geistes, einer Fülle von Ausdrücken und einer üppigen Rhetorik, mit seiner sensiblen und sinnlichen Praxis, die den Körper in die Geisteswelt einbezog, exotischen Ornamenten und einer ruhigen Ästhetik, mit der Zusicherung, dass hochstehende und sogar beneidenswerte Kulturen aus der Meditation genauso entstehen können wie aus einer frenetischen Arbeitsethik, mit der Betonung auf der Stille und der Lehre von einer Realität jenseits der Illusion. (…) Die Reise des Geistes erforderte nicht das Gepäck der Religion, um zu einer sinnvollen, lohnenden Wanderung zu werden. (S. 96)

Die Drogenerfahrungen der sechziger und siebziger Jahre vertieften diese Tendenz der Erforschung der eigenen Innerlichkeit und warfen zudem die Frage auf, was denn Bewusstsein eigentlich ist.

Die Erosion des Sola Scriptura: Seit Luthers Zeiten war die Schrift die unangefochtene Autorität im Protestantismus, der in Nordamerika (anders als in weiten Teilen Europas) dominierte. Schon der Bürgerkrieg offenbarte, dass sich sowohl Gegner als auch Befürworter der Sklaverei auf die Schrift berufen konnten. Fast alle protestantischen Kirchen hatten sich über dieser Frage damals gespalten. Nach dem ersten Weltkrieg stand die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter zur Debatte, Frauen erhielten nach einigen Jahren das Wahlrecht und waren als Bürgerinnen nicht mehr den Männern unterworfen.

Zur Mitte des Jahrhunderts stand die Frage der Ehescheidung an. Allmählich durften Geschiedene Teil der Gemeinde sein, Wiederheirat wurde akzeptiert und gegen Ende des Jahrhunderts galt dies auch für den Klerus. Die nächste Auseinandersetzung drehte sich um die Ordination von Frauen und die Zulassung zum Bischofsamt und als letzte dieser Fragen steht das Thema Homosexualität zur Debatte. Mit ihr – als letztem und eben deshalb bitterstem Streitfall – wird das protestantische Schriftverständnis zu Grabe getragen. Nicht die Autorität der Schrift (!)

… aber was die protestantische Tradition über das Wesen dieser Autorität gelehrt hat wird entweder tot sein oder um des Überlebens willen neu konfiguriert werden müssen. (S. 101)

(Fortsetzung folgt)

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Schrift ohne Prinzip?

Das kommt kurz nach dem Reformationstag: Ich habe The Great Emergence weitergelesen und bin nach einem Kapitel über die Vorgeschichte und Wirkung der Reformation (beziehungsweise den Fragen, die sie aufwarf) nun bei den Entwicklungen, die das reformatorische Paradigma sprengen, das vor 500 Jahren die mittelalterlichen Autoritäten ersetzte. Sehr spannend, ich werde in den nächsten Tagen mal eine Zusammenfassung wagen.

Tickle ist überzeugt, dass das protestantische Schriftprinzip (wichtig: nicht die Schrift selbst!) in naher Zukunft mausetot sein wird. Wenn ich es richtig sehe, sieht sie das Wirken des Heiligen Geistes an dessen Stelle treten, das deutet sich in ihrer Darstellung der Pfingstbewegung an.

Bis ich das alles verstehe und wiedergeben kann, hier ein Artikel von Kurt Willems aus The Ooze, der sich mit einem postmodernen Schriftverständnis befasst und ein paar Fehlinterpretationen von Derrida und Lyotard zu korrigieren versucht.

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Zu viel der Nächstenliebe?

Gestern hat mir Daniel den Link zur zweiten Ausgabe von Glauben und Denken geschickt, weil dort N.T. Wrights „Surprised by Hope“ rezensiert wurde. Ich habe das Magazin mit wachsendem Unmut quer gelesen und bin so langsam dabei zu verstehen, was mir da etwa bei Michael Horton so unangenehm aufstößt.

Um zum Kern der Sache zu kommen: Ich fürchte, hier wird das klassisch reformierte Anliegen, die Souveränität Gottes über alles zu stellen, in einer Art und Weise durchgezogen, die Gottes- und Nächstenliebe eben nicht mehr als gleichrangig behandelt. Mit schwerwiegenden Folgen, denn nun gerät das Engagement für den Nächsten (da wo Liebe also konkret wird, und sie muss konkret werden) unter Generalverdacht. Nicht die müssen sich rechtfertigen, die nichts tun, sondern die Engagierten, weil sie den Nächsten womöglich etwas zu sehr lieben.

Die Sorge ist, dass die Nächstenliebe zum Versuch wird, sich um die Gottesliebe herumzumogeln. Ich halte das schon praktisch für abwegig, denn nie bin ich auf Gott mehr angewiesen, als wenn ich einen unvollkommenen Nächsten lieben muss, obwohl der zum Beispiel Calvinist ist 🙂 Ich hatte vor 25 Jahren mal ein Buch aus mit ähnlichem Ansatz (Johan Bouman, Der Glaube an das Menschenmögliche), das die kirchliche Friedensbewegung eher undifferenziert als pelagianisch verurteilte und unterstellte, dass man den Himmel auf Erden aus eigener Anstrengung schaffen wollte.

Klar gibt es das auch hin und wieder. Aber so wie Konservative gern den Begriff „Gutmensch“ als semantische Keule auspacken, wenn sie mit ihrem Law-and-Order Ansatz in der Defensive sind, so wird hier all jenen, die sich konkret um Gerechtigkeit bemühen (nebenbei werden noch der Heilige Franziskus und Rick Warren mißbilligend zitiert), tendenziell unterstellt, sie würden das aus den falschen Motiven tun (und damit letztlich gegen Gott arbeiten). Und das natürlich, weil sie dem Zeitgeist oder einer weltlichen Ideologie anhängen und die reine Lehre verlassen haben.

Vielleicht bin ich jetzt unfair, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Leute, die so etwas schreiben, vielleicht doch ganz zufrieden damit sind, wenn wir alle unser Sündersein betrauern, erschaudern angesichts der Heiligkeit Gottes – und nichts weiter. Die reine Lehre scheint, vielleicht ohne es tatsächlich je auszusprechen, zu sagen, dass wir eh nichts machen können gegen die Bosheit der Welt. Wer das anerkennt, beschränkt sich auf die Verbreitung dieser Erkenntnis (heißt es deshalb nur „Glauben und Denken“?) und geht das Risiko erst gar nicht ein, beim Helfen die unausweichlichen Fehler zu machen. Oder der Vorsehung Gottes ins Handwerk pfuschen zu wollen.

Aber ist das Ganze nicht die Folge einer nicht minder ideologischen, antipelagianischen Paulusfixierung mit einem Schuss dialektischer Theologie, die vielleicht gerade noch die johanneische Bruderliebe zulässt, bei der für die Gleichnisse Jesu aber eigentlich schon kein Platz mehr ist? Der barmherzige Samariter glaubt eh schon das Falsche und die Reinheit seines Verhältnisses zu Gott wird in dem Gleichnis gar nicht thematisiert – sie spielt keine Rolle. Der Punkt, um den man bei Jesus schier nicht herumkommt, ist der: Echte Nächstenliebe ist Gottesliebe und umgekehrt.

Wenn Ron Kubsch am Anfang Jesajas Ruf nach Gerechtigkeit zitiert – um sich dann gleich wieder auf den Ruf (d.h. die Verkündigung der Wahrheit) zu konzentrieren, und nicht die konkrete Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte – frage ich mich: wozu muss man sich dann auf diesem Weg eigentlich ständig wieder theologisch ein Bein stellen, wenn man das ernst meint?

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Willowmergent

Bill Hybels erklärt im aktuellen Willow Audio-Journal „Mutig Führen“, dass er Brian McLarens Everything Must Change“ (das in Kürze auf Deutsch erscheint unter dem Titel Höchste Zeit, Umzudenken!) gleich paketeweise gekauft hat und sagt:

Dieses Buch hat mich begeistert. Ich habe 50 oder 60 Exemplare gekauft und es als Pflichtlektüre eingeführt für leitende haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter, Vorstandsmitglieder und Älteste. Außerdem habe ich es überall empfohlen. Ich sehe es als wichtigen Beitrag für den Denkprozess von Christen und christlichen Leitern, die die Sache wirklich ernst nehmen.

Natürlich kommt der übliche McLaren Disclaimer – „ich glaube nicht alles, was er schreibt“ – aber dann entwickelt sich ein gutes Gespräch zwischen Hybels, Beach und McLaren, das zeigt, wie breit die Front des Umdenkens inzwischen geworden ist und dass Emerging Church keine Spielwiese für Exoten mehr ist, sondern tatsächlich den evangelikalen Mainstream erreicht und durchdringt. Wie das mit Bewegungen eben so ist.

Wenn jetzt alle möglichen Leute das emergent/emerging Label in dieser oder jeder Schattierung für entbehrlich halten, dann doch auch deshalb, weil man inzwischen außerhalb dieser kleinen Brutkästen für Querdenker über die Themen reden kann, vor die uns der gesellschaftlichen Wandel stellt. Und darüber kann man sich eigentlich nur freuen!

Kleiner Nachtrag: Ich finde, es ist auch ein Kompliment, wenn man es als Autor schafft, mehr zu sagen, als viele andere auf Anhieb glauben können. Das bedeutet doch auch, dass wir noch ein paar Jahre mit – im guten Sinne – provozierenden Gedanken versorgt werden.

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Interaktive Ahnengalerie

In den nächsten Wochen möchte ich eine Ahnengalerie der Emerging Church schreiben. Wer sind die Vorläufer, wessen Saat geht hier auf, wessen Bücher und Gedankengut wurde wie rezipiert? Bisher umfasst meine Liste:

Dietrich Bonhoeffer

N.T. Wright

Dallas Willard

Jürgen Moltmann

Ron Sider

Tony Campolo

Lesslie Newbigin

David Bosch

Ob man Derrida & Co auch dazu zählen sollte, da bin ich mir noch unschlüssig. Aber vermutlich gehören noch mehr Namen auf diese Liste. Für Vorschläge Eurerseits bin ich dankbar, am besten gleich unten als Kommentar. Und wenn zu dem Namen noch eine kurze Umschreibung des wesentlichen Impulses dazu kommt, um so schöner

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Die Erneuerung der Erneuerung

Jason Clark hat unter dem Titel „Hands down, we’re British“ ein paar lesenswerte Gedanken zum Abklingen charismatischer Praxis, die wohl nicht nur die Situation auf der Insel beschreiben. Im Anschluss an eine Umfrage der Zeitschrift „Christianity“ lässt sich Folgendes sagen:

  1. Die typisch charismatischen Äußerungen sind in öffentlichen Gottesdiensten und Versammlungen rückläufig.
  2. Oft hat das mit problematischen Erfahrungen, z.B. Übertreibungen und einem gewissen Hype, zu tun.
  3. Viele Geisterfahrungen haben ruhigere, weniger dramatische und emotionale Formen angenommen.
  4. Aus Gruppen und unstrukturierten Hauskirchen sind Gemeinden geworden, die eine Ordnung brauchen und auf Außenstehende Rücksicht nehmen.
  5. Manches wird wohl auch nicht mehr so eingeübt und trainiert wie früher.

Jason sieht darin eine Gegenreaktion auf die Machtspiele charismatischer Leiter und Gruppen und eine Bewegung hin zu einem breiteren und gesünderen Verständnis des Geistes. Das Charismatische muss auch in der emerging culture erneuert und darf nicht aufgegeben werden. Er markiert aber ein paar kritische Punkte:

Gott wird in der Moderne vom Subjekt allen Lebens zum Objekt menschlicher Betrachtung und zum Unterstützer menschlicher Selbstverwirklichung (autopoiesis). Oder, mal ohne Fremdwörter, vom Herrn zum Helfer. Charismatische Erfahrung konnte sich also um meine Erlebnisse drehen und das Leben, das ich mir wünsche. Anbetung wurde zu einem privaten ästhetischen Erleben. Dies führte zu einem therapeutischen Schwerpunkt vieler Gemeinden, der sich dann in einen Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private äußert, wo man (etwa in der post-church-Bewegung) die Bedingungen des eigenen geistlichen Lebens frei bestimmen kann.

Anders gesagt: Bestimmte Akzente (etwa die ziemlich ungebremste Subjektivität dieses Frömmigkeitstypus) waren und sind sehr anfällig für den Zeitgeist der Konsumgesellschaft, der die soziale und öffentliche Dimension des Glaubens unterhöhlt. Wenn man an Pfingsten und die Apostelgeschichte denkt, dann kann gerade das Wirken des Geistes auch in eine ganz andere Richtung führen. Wir müssten nur verstehen, was die Christen damals anders gemacht haben…

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Kein sicherer Ort?

Vor ein paar Wochen saß ich in einer Gesprächsrunde. Zwei der Anwesenden hatten bis vor ein paar Jahren hauptamtlich eine Gemeinde geleitet. Der eine arbeitet nun in einem christlichen Werk, der andere in der Wirtschaft. Übereinstimmend erzählten beide, wie froh sie über die Veränderung sind, wie gut ihnen (und ihren Familien) das neue Umfeld tut, und dass sie auf keinen Fall wieder zurück möchten – nicht in diese Gemeinde und auch in keine andere.

Ich kann nicht genau sagen, was es war, aber dieses Gespräch hat mich noch lange beschäftigt. Erst nahm ich die Sache fast persönlich, weil ich den Eindruck hatte, dass hier Gemeindearbeit (intuitiv identifizierte ich mich damit) abschätzig bewertet wird. Später wurde mir klar, dass es so wohl gar nicht gemeint war. Ein Unternehmer sagte mir, er würde sich so einen Job nie zutrauen. An seiner Sozial- und Führungskompetenz konnte das sicher nicht liegen und mit einem laschen Glauben hatte es auch nichts zu tun. Ich begann, mich zu fragen, was eigentlich schief läuft in vielen Gemeinden, wenn Leute, die dort über viele Jahre überdurchschnittlich engagiert und auch nicht unbedingt erfolglos gewirkt haben, so abgelöscht sind. Oder waren sie einfach nur nicht am richtigen Platz?

Diese Woche traf ich dann einen evangelischen Pfarrer. Ich erzählte ihm von dem anderen Gespräch und vermutete, dass so eine Entwicklung vielleicht mit den Eigenarten charismatischer Gemeinden und deren (oft wenigstens) freierer Struktur zusammenhinge. Er meinte, er sehe keine großen Unterschiede. Viele seiner Kollegen bewerben sich derzeit auf irgendwelche Referentenposten ohne Gemeindebezug. Und oft sind es die guten und begabten Leute, die solche Entscheidungen treffen.

Ich denke nicht, dass es hier simple Antworten gibt. Trotzdem sollten wir uns fragen, wo die Probleme liegen, und warum viele Gemeinden nicht einmal für ihre Führungskräfte „safe places“ sind. Denn auf Dauer können wir uns solche Verluste kaum leisten . Es geht also nicht um Schuldzuweisungen, schon gar keine einseitigen. Aber was muss eigentlich passieren, damit junge Theologen und Leiter, die jetzt am Anfang ihres Dienstes stehen, auch in 15 oder 20 Jahren noch fröhlich und motiviert dabei sind, und weniger „auf der Strecke bleiben“ als es in meiner Generation den Anschein hat? Wo müssen Rollen überdacht und korrigiert werden? Was müssen die (Nachwuchs-)Leiter lernen, und was müssen die Gemeinden lernen? Und von wem eigentlich?

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Neue Studie über junge Erwachsene

Die Bertelsmann-Stiftung hat anlässlich des Weltjugendtags in Sydney eine spannende Umfrage zur Religiosität unter jungen Erwachsenen vorgestellt (hier). Dazu eröffnet sie die Diskussion über die Zukunft des Christentums, mit einem Beitrag über Riten und Rituale der Postmoderne. Ich habe mir mal alles ausgedruckt und werde es gründlich studieren, bin aber auch gespannt, was Ihr dazu denkt.

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Der Feind als Weg zu Gott?

Ich bin beim nächsten Kapitel von New Monasticism angekommen und es geht um Frieden in einer gewalttätigen Welt. Für uns ganz aktuell – 100m entfernt wurde vor kurzem eine junge Mutter ermordet. Vorgestern hat die Polizei auf der Suche nach Beweismitteln die ganze Siedlung durchkämmt, ohne Erfolg, wie es heißt. Viele waren bestürzt, dass das alles plötzlich so nah war. Andere haben immer noch Angst. Der Friede ist gestört.

Aber zurück zum Buch:

Der Epheserbrief sagt nicht nur, dass Frieden mit unseren Feinden möglich ist. Er sagt, der Friede mit unseren Feinden ist der einzige Weg zum Frieden mit Gott. Glaubt mir, ich habe versucht, das anders zu lesen. Ich habe es im Griechischen betrachtet und alle hermeneutischen Klimmzüge gemacht, die mir einfielen. Ich wollte, dass der Epheserbrief etwas anderes sagt, aber ich fürchte er sagt nur dies. (…) Es gibt keine persönliche Beziehung zu Jesus ohne persönliche Beziehung zu deinen Feinden.

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