The Great Emergence: Das 20. Jahrhundert und seine Fragen (2)

Das Sinn stiftende „Cable of Meaning“, das von einer gemeinsamen Geschichte und Vorstellungen umhüllt wird, hat drei Stränge: Spiritualität, Moral und gemeinsame Praxis („corporeality“). Der Wandel des Schriftverständnisses im 20. Jahrhundert, den ich am Ende des letzten Posts beschrieben habe, gehört zum letzten Strang. Durch die Entscheidung, sich auf eine Art biblischen Absolutismus zu gründen, hat der Protestantismus sich durch den Bezug auf bestimmte, kodifizierte Glaubenssätze definiert. Der einzelne definiert sich durch die Zustimmung zu diesen Sätzen, die Institution zeigt die korporative Dimension davon auf. Zugleich verweist Tickle auf die Erneuerung der katholischen Lehre in den vatikanischen Konzilen, die den traditionalistischen Kurs vorsichtig öffnete für den Dialog der Konfessionen und Religionen.

Der Strang der Moral bekam es mit der Frage zu tun, was ein menschliches Wesen ausmacht und wo menschliches Leben beginnt und endet – die Themen Abtreibung und Sterbehilfe. Die Definitionen erwiesen sich als schwierig.

Technische Neuerungen wie Unterhaltungselektronik, Computer und das Internet stellten die religiösen Institutionen vor neue Herausforderungen und bedrohen herkömmliche Hierarchien. Der Nationalstaat verliert an Bedeutung in einer globalisierten Welt, Information wird wichtiger als Geld. Aber auch das Risiko der Desinformation steigt in einer „wiki world“.

Der zweite Weltkrieg hatte durch die Abwesenheit der Männer die amerikanischen Hausfrauen in den Beruf gedrängt und nach Kriegsende waren ihnen die Häuser, in die sie zurückkehrten, zu eng geworden. Ein neues Frauenbild war entstanden und die Kirchen überboten sich mit Angeboten, wie man die freie Zeit ausfüllen konnte. Und die Entwicklung setzte sich in den Folgejahren fort: Die Familie als Grundbaustein der Gesellschaft wandelte sich fundamental. Die Pille ermöglichte wirksame Geburtenkontrolle. Beide Ehepartner verdienten sich Geld und Anerkennung zunehmend außerhalb der Familie. Das Zuhause war nicht mehr der Grund für die Arbeit, sondern der Rückzugsraum, in dem jeder neue Kräfte sammelte, um die Arbeit wieder in Angriff zu nehmen. Inzwischen lebt die Mehrheit der Amerikaner schon nicht mehr in klassischen Familien (Vater, Mutter und die eigenen Kinder).

Auch das hatte seine Auswirkungen auf die religiöse Erziehung: Nun fielen auch die Mütter als Vermittler von Geschichten und Glaubensinhalten zunehmend aus. Eine Art biblischer Analphabetismus hielt bei den heute unter Fünfzigjährigen Einzug.

Hier sind zwei Youtube-Videos, auf denen Tickle die wesentlichen Fragen umreißt:

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3 Antworten auf „The Great Emergence: Das 20. Jahrhundert und seine Fragen (2)“

  1. eine schöne illustration des »cable of meaning« habe ich kürzlich mal im internet gefunden – wer es sich anschauen möchte, kann das auf meinem tumblr unter folgendem link tun: hier lang.

    vielen dank für die guten zusammenfassenden einträge.

  2. Bin ich der einzige, den solche Bücher frustrieren?
    Alles gute, fundierte Gedanken, die unter einen zu engen Perspektive zu leiden scheinen? Was interessiert mich denn die Form des Protestantismus in Amerika? Auf dem Kontinent kann man seit mehr als 150 Jahren lange nicht mehr von biblischen Absolutismus reden. Wenn man sich die Form des Protestantismus hierzulande anguckt, wird man sich fragen, ob man hier Gefahr läuft gegen ein Phantom zu rebellieren.

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