Gestern hat mir Daniel den Link zur zweiten Ausgabe von Glauben und Denken geschickt, weil dort N.T. Wrights „Surprised by Hope“ rezensiert wurde. Ich habe das Magazin mit wachsendem Unmut quer gelesen und bin so langsam dabei zu verstehen, was mir da etwa bei Michael Horton so unangenehm aufstößt.
Um zum Kern der Sache zu kommen: Ich fürchte, hier wird das klassisch reformierte Anliegen, die Souveränität Gottes über alles zu stellen, in einer Art und Weise durchgezogen, die Gottes- und Nächstenliebe eben nicht mehr als gleichrangig behandelt. Mit schwerwiegenden Folgen, denn nun gerät das Engagement für den Nächsten (da wo Liebe also konkret wird, und sie muss konkret werden) unter Generalverdacht. Nicht die müssen sich rechtfertigen, die nichts tun, sondern die Engagierten, weil sie den Nächsten womöglich etwas zu sehr lieben.
Die Sorge ist, dass die Nächstenliebe zum Versuch wird, sich um die Gottesliebe herumzumogeln. Ich halte das schon praktisch für abwegig, denn nie bin ich auf Gott mehr angewiesen, als wenn ich einen unvollkommenen Nächsten lieben muss, obwohl der zum Beispiel Calvinist ist 🙂 Ich hatte vor 25 Jahren mal ein Buch aus mit ähnlichem Ansatz (Johan Bouman, Der Glaube an das Menschenmögliche), das die kirchliche Friedensbewegung eher undifferenziert als pelagianisch verurteilte und unterstellte, dass man den Himmel auf Erden aus eigener Anstrengung schaffen wollte.
Klar gibt es das auch hin und wieder. Aber so wie Konservative gern den Begriff „Gutmensch“ als semantische Keule auspacken, wenn sie mit ihrem Law-and-Order Ansatz in der Defensive sind, so wird hier all jenen, die sich konkret um Gerechtigkeit bemühen (nebenbei werden noch der Heilige Franziskus und Rick Warren mißbilligend zitiert), tendenziell unterstellt, sie würden das aus den falschen Motiven tun (und damit letztlich gegen Gott arbeiten). Und das natürlich, weil sie dem Zeitgeist oder einer weltlichen Ideologie anhängen und die reine Lehre verlassen haben.
Vielleicht bin ich jetzt unfair, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Leute, die so etwas schreiben, vielleicht doch ganz zufrieden damit sind, wenn wir alle unser Sündersein betrauern, erschaudern angesichts der Heiligkeit Gottes – und nichts weiter. Die reine Lehre scheint, vielleicht ohne es tatsächlich je auszusprechen, zu sagen, dass wir eh nichts machen können gegen die Bosheit der Welt. Wer das anerkennt, beschränkt sich auf die Verbreitung dieser Erkenntnis (heißt es deshalb nur „Glauben und Denken“?) und geht das Risiko erst gar nicht ein, beim Helfen die unausweichlichen Fehler zu machen. Oder der Vorsehung Gottes ins Handwerk pfuschen zu wollen.
Aber ist das Ganze nicht die Folge einer nicht minder ideologischen, antipelagianischen Paulusfixierung mit einem Schuss dialektischer Theologie, die vielleicht gerade noch die johanneische Bruderliebe zulässt, bei der für die Gleichnisse Jesu aber eigentlich schon kein Platz mehr ist? Der barmherzige Samariter glaubt eh schon das Falsche und die Reinheit seines Verhältnisses zu Gott wird in dem Gleichnis gar nicht thematisiert – sie spielt keine Rolle. Der Punkt, um den man bei Jesus schier nicht herumkommt, ist der: Echte Nächstenliebe ist Gottesliebe und umgekehrt.
Wenn Ron Kubsch am Anfang Jesajas Ruf nach Gerechtigkeit zitiert – um sich dann gleich wieder auf den Ruf (d.h. die Verkündigung der Wahrheit) zu konzentrieren, und nicht die konkrete Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte – frage ich mich: wozu muss man sich dann auf diesem Weg eigentlich ständig wieder theologisch ein Bein stellen, wenn man das ernst meint?
Das hast du ganz gut getroffen, finde ich.
Lieber Peter,
die Formel:
ein Christ, der an die Souveränität Gottes glaubt, braucht nichts tun, sollte auch nichts tun und tut auch nichts,
geht nicht auf, obwohl sie (zugegeben) weit verbreitet ist (vgl. „Die Pest“ von Camus). Der aufgeschlossene Leser des Artikels wird schnell erkennen, dass Michael Horten gerade nicht Gottesliebe gegen Nächstenliebe ausspielt.
Es wäre eine Studie wert zu prüfen, ob es vielleicht umgekehrt ist: Die, die an die Souveränität Gottes, ihre eigene Sündhaftigkeit und ihre Rechtfertigung durch Jesus Christus glauben, sind diejenigen, die frei (auch von sich) für den Nächsten zu leben vermögen. Mir fallen da so einige Namen großer Leute ein, bei denen dieses Muster erkennbar ist. Auch Calvin gehört dazu. 😉
Liebe Grüße, Ron
Wieso wird ständig versucht einen Konflikt aus Nächtenliebe und Gottesliebe zu konstruieren. Es ist doch klar, dass beides nebeneiander bestenen muß. Wieso ständig Menschen, die ein drohendes Geicht über anderen sehen die Liebe absprechen, von der wir doch alle durch Jesus ergriffen handeln sollen. Warum ständig gewichten was mehr wert ist und das „Alte“ als überkommen abtun. Warum ständig über ander urteilen und ihre Motivation in Frage stellen. Geht es denn letzlich nur um Besserwisserei, darum für sich den besseren Standpunkt zu behaupten. Der Weg andere Menschen in dieser Welt für die Liebe Jesu zu gewinnen und ihnen zu dienen führt an Buße, an dem Erkennen der eigenen Fehlbarkeit und der Hinwendung und dem Leben aus einer engen Beziehung zu Jesus nicht vorbei, an einer Beziehung, die sich ständig erneuert, die eben aus dieser Gnade Jesu und seinen überragenden Zusagen zu und über uns (und natürlich primär über Gott selbst in seinem Wort) sich speist. Klare Positionen zu grundlegenden Glaubenthemen (Gericht, Sünde, Errettung) sind per se keine Gegenargumente gegen die Fähigkeit aus Glauben an den liebenden Gott, wie er sich in Jesus zeigt, leben zu können und eben eine rechte Motivation haben zu können anderen Menschen zu dienen. Wieso muß das ständig denen, die derart klare Positionen beziehen abgesprochen werden. Ich verstehe Dein „Aufstoßen“ über bestimme Postionen aus der Grundhaltung zu bestimmen Themen heraus (wie es aus vielen Beiträgen hervorkommt), aber ich selbst verspühre Verzweiflung darüber, dass permanent eine Dialektik konstruiert wird, die anderen Positionen bestimmte Motivation abspricht.
@ Ron: Ich glaube ja auch, dass das kein notwendiger Gegensatz ist (z.B. bei Luther…) und dass es ein Missverständnis der Souveränität Gottes wäre, die Hände in den Schoß zu legen. Nur empfinde ich die Tendenz der Aussagen (in diesem Heft insgesamt) dennoch in dieser Richtung. Wenn ich Horton da missverstanden habe, wozu dann seine Abgrenzungen in Richtung Warren u.a.? Die glauben ja auch alle, dass sie gerechtfertigte Sünder sind und wären damit für Deine Studie qualifiziert – womit auch das Ergebnis, das Du andeutest, wahrscheinlich würde. 🙂
@ Klaus: Ich denke, es gibt unterschiedliche Positionen, die „klar“ (also in sich stimmig und biblisch begründbar) sind. Da unterscheiden wir uns vermutlich. In dem anderen Punkt, dass man das nicht trennen kann, sind wir uns doch einig. Nur darum ging es mir, hier (wie Du sagst) gerade keine Dialektik zu konstruieren.
Im Übrigen – Du kommentierst hier kritisch, dass ich etwas kritisch kommentiere. Das darf doch sein, oder?
@Peter: Horton sagt, dass Christus an den Rand gedrängt wird, wenn er nicht Zentrum unseres Lebens und Handelns ist (gegen Richard Rorty, LeRon Schults u.a. behaupte ich, dass die Idee eines Mittelpunktes nicht neuzeitlich ist). Was nützte es, wenn wir die ganze Welt gewönnen, und verlören Christus.
Was ihn an R. Warren stört, ist wahrscheinlich weniger sein Verständnis der Rechtfertigung (welches – sagen wir – reformatorisch ist), sondern sein Moralismus. Die Welt muss Taten sehen! Das haben schon viele Leute gesagt. Und?
Ich vermute, Warren würde in der Tat recht guten Stoff für die Studie liefern. 😉
Liebe Grüße, Ron
@ Ron: Aber wieso sollte Christus denn nicht das Zentrum des Handelns derer sein, die sich an dieser oder jener Stelle um Gerechtigkeit einsetzen?
Vielleicht liegt der Unterschied im Verständnis des „Evangeliums“. Der „reformatorische“ Ansatz, den Du vertrittst, zielt m.E. recht exklusiv auf (forensische?) Rechtfertigung, Wright und andere fassen das weiter und sehen auch den Aspekt der Befreiung darin, mit sozialen und politischen Implikationen, auch für den Sündenbegriff.
Christus ist aber auch da die Mitte, würde ich behaupten. Da liegt für mich das Missverständnis der „engen“ Auslegung.
Mein Unbehagen meldet sich aber gleich wieder bei Deinem etwas süffisanten Kommentar zur Warren („das haben schon viele Leute gesagt. Und?“). Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Evangelikalen in den USA die globalen Krisen nur als Bestätigung einer verqueren Eschatologie begriffen hatte, nicht etwa als geistliche und politische Aufgabe, dann ist das (so banal es klingt) ein Riesenfortschritt. In diesem Spektrum war es eben nicht selbstverständlich. Wenn u.a. durch Warrens Engagement nur einer vor AIDS oder Armut gerettet würde (und es sind vermutlich ein paar mehr), dann ist doch etwas gewonnen. Um so mehr als doch alles, was wir einem der Geringsten tun, letztlich Christus gilt…?
Was verstehst Du denn unter Evangelium? Und: Zeigt nicht gerade die Reformation mit ihrem „reformatorischen Rechtfertigungslehre“, dass diese einen enormen politischen und sozialen Einfluss hatte?
Viele Grüße, Johannes
@ Johannes: Ich will die Wirkung der Reformation nicht schmälern. Aber in der Frontstellung gegen mittelalterlichen Semipelagianismus ist der Aspekt der Rechtfertigung sehr stark betont worden. Dagegen ist das Moment der Heilung und Befreiung doch etwas in den Hintergrund gerückt. Aus der Zeit heraus verständlich, aber auf Dauer kann man darauf nicht verzichten.
Es wäre jetzt mal interessant, woran Du das fest machst – aber das würde sicher zu weit führen. Doch wenn wir mal Luther als Beispiel nehmen, wird man ja wohl kaum behaupten können, dass er zu seiner – für seine Existenz durchaus befreienden und heilenden – Erkenntnis des Evangeliums in Auseinandersetzung mit dem Semipelagianismus gekommen ist, sondern vielmehr durch das Lesen der Bibel – oder?
@Peter:
1. Natürlich kann für jemanden Christus das Zentrum des Handelns sein, wenn er sich für Gerechtigkeit einsetzt. Ich vermute ja sogar, dass jemand, der sich von Christus bewegen lässt, sich besonders radikal für z.B. Gerechtigkeit (des anderen) einsetzt. (Doch die Studie steht noch aus. ;-)) Wenn Christus im Zentrum steht, kann allerdings nicht der Einsatz für Gerechtigkeit im Zentrum stehen. Das ist der Knackpunkt.
2. In der Tat geschieht nach reformatorischer Lesart die Rechtfertigung forensisch. Der heilige Gott spricht Menschen, die es verdient haben, verdammt zu sein, gerecht (vgl. Röm 8,28–39). Diese Gerechtsprechung ist Handeln Gottes und nicht zu verwechseln mit einer inneren Erneuerung des Menschen. Aber das bedeutet keineswegs, dass Rechtfertigung nicht auch effektiv wirkt. Gerade in der reformierten Tradition wird ja die Heiligung stark betont. Eine Glaube ohne Werke ist tot. Gottes Wort und Geist befähigen den Menschen, Gottes Willen zu tun.
Ich gestehe ein, dass an dieser Stelle gerade im Pietismus oder im Evangelikalismus eine folgenschwere „Enge“ eingezogen ist. Der Glaube wurde oft auf Fragen des Heils und der christlichen Ethik reduziert. Ich sehe, dass hier Korrekturen erforderlich sind und bin für Impulse, die bspw. Wright gibt, dankbar.
Dennoch verdrängen bei N.T. Wright die gesellschaftlichen Aspekte des Evangeliums die persönlichen. Anders als z.B. James Dunn verdunkelt er m.E. die reformatorische Rechtfertigungslehre. Es gibt bekanntlich bei ihm sogar Stellen, in denen er (wahrscheinlich) die Rechtfertigung eschatologisch fasst (vgl. The Shape of Justification). Demnach stünde für die Gläubigen das Gericht noch bevor. Da ich an das letzte Gericht glaube, wären die Konsequenzen solch eines Rechtfertigungsverständnisses fatal.
3. Gott bewahre, ich will die Leistungen von Warren nicht schmälern. Aber es gibt m.E. viele andere Männer und Frauen, die etwas tun (ohne es medial zu verarbeiten). Das soziale Engagement war auch in Lausanne (1974) oder Manila (1989) ein Thema. Es war schon ein Thema, bevor es den Evangelikalismus gab. Es war eigentlich immer ein Thema. Man studiere nur die Geschichte der Krankenhäuser in Europa. Ich finde das Gezeter: „Wir müssen jetzt endlich etwas tun!“ – sagen wir – typisch evangelikal. „Schaut her, jetzt kommen wir!“ Andere tun einfach was, und sie tun es seit Jahrhunderten.
Liebe Grüße, Ron
Ron, mir ist nicht ganz klar, wie dein erster Punkt in deinem letzten Kommentar zu verstehen ist. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich mir nichts darunter vorstellen kann, was es heißt, „im Zentrum“ zu stehen. Weder auf meine eigene Person bezogen noch auf mein Handeln kann ich mir darunter so konkret etwas vorstellen, dass es automatisch ein gerechtes Tun ausschließen würde. Würde das, was hier alle wollen, nämlich, dass Christologie und Ethik eine Einheit bilden, nicht gerade ausschließen, dass man nur eins von beiden ins Zentrum stellt, was auch immer das dann noch genau wäre?
@Simon: Nicht ausschließen! Die Idee eines Zentrums macht aber keinen Sinn, wenn alles im Zentrum steht. Ich möchte sagen, dass wir den gekreuzigten und auferstandenen Christus an den Rand drängen, wenn er nicht unser Zentrum ist. Das ist unsere Berufung.
Liebe Grüße, Ron
Meine Anmerkung war die, dass ich einfach überhaupt nicht verstehe, was die Rede von einem Zentrum überhaupt soll und wie man das verstehen kann. Was ist das, ein Zentrum des Handelns und ein Rand des Handelns?
@Simon: Wenn Du mit einen Zentrum nichts anfangen kannst, nehme ich ein anderes Bild: Christus ist das Haupt, der Herr oder der Erste (vgl. z.B. Kol 1,15–20).
Liebe Grüße, Ron
@ Ron: Dann wäre eben im Sinne dieser Diskussion die Rückfrage, welcher Christus denn da für Dich im Zentrum steht. Wenn es der ist, der Dir z.B. auch in den Armen begegnet und sich sehr konkret zu sozialen und auch politischen Themen äußert, dann sind wir uns einig. Aber irgendwie kommt es für mich nicht immer ganz so rüber. Warum sollte für Gerechtigkeit dann im Zentrum eigentlich kein Platz mehr sein? Wenn ich nun statt Gerechtigkeit einfach „Liebe“ gesagt hätte, dann würde das vielleicht noch deutlicher, dass sich das gar nicht trennen lässt. Deswegen wundert mich der hartnäckige Versuch, es doch irgendwie auseinander zu kriegen.
Wright „verdunkelt“ m.E. die reformatorische Rechtfertigungslehre nicht, sondern er überwindet deren Engführungen, die hier wieder sichtbar werden.
Schön, dass Du eine Lanze für die brichst, die seit Jahrzehnten etwas tun 🙂 Und klar ist das „jetzt kommen wir“ gelegentlich an der Grenze zur Arroganz. Hybels hat das deutlich bescheidener formuliert und eingestanden, dass er da einiges verschlafen hatte. Um so schöner, wenn sich das nun ändert.
@ Johannes: Luther las die Bibel ja nicht im luftleeren Raum, sondern war theologisch stark vom Occamismus (der „via moderna“) geprägt worden. Und natürlich findet man in vielen seiner Texte Bezüge darauf. Diese Abgrenzung hat die protestantische Lehrbildung m.E. gründlich beeinflusst.
@ Peter: Sicher war Luther u.a. vom Ockhamismus geprägt, doch die befreiende Erkenntnis des Evangeliums hat er dort offenbar noch nicht gefunden. Wie auch immer, der entscheidende Punkt ist, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in der Reformation (und auch heute?) aus einer veränderten Beziehung zu Gott heraus erwuchsen. Ich kann dabei nicht erkennen, dass man den rechtfertigenden Glauben betonte, um sich gegen andere abzugrenzen (das ist wohl auch vorgekommen), sondern zunächst schlicht und einfach, weil dieser Glaube die Grundlage zu einem neuen und veränderten Leben ist, das Gott ehrt.
So verstehe ich auch Horton. Und da macht es einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich mit meinem Leben einem Prinzip oder einer Idee von Liebe oder Gerechtigkeit verschreibe oder dem lebendigen Gott in Jesus Christus, der mich erlöst hat und zu einem neuen Leben und neuem Handeln führt.
@ Johannes: Da habe ich eine völlig andere Auffassung von Kirchengeschichte. Natürlich gab es Veränderungen in der Theologie und der Beziehung zu Gott, aber die gesellschaftlichen Veränderungen haben das natürlich gefördert und damit hat sowohl die Reformation selbst als auch ihre Nachwirkung ganz vielfältige Ursachen. Natürlich hat Luther etwa in den 95 Thesen in Abgrenzungen formuliert. Und wenn Du die reformatorischen Bekenntnisse liest, hat fast jeder Artikel Abgrenzungen.
Und heute ist es genauso. Gesellschaftliche Veränderungen wirken (durchaus befruchtend) auf Glaube, Kirche und Theologie – nehmen wir nur mal den 1. Weltkrieg oder das dritte Reich. Gott wirkt auch durch die Profangeschichte (wenn man von sowas überhaupt reden will) und nicht nur senkrecht von oben.
Zurück zu Horton: Natürlich geht es nicht um ein Prinzip, sondern um eine Person. Aber das an den Stellen, die er konkret nennt, zu wittern, halte ich eben für völlig abwegig und überzogen.
@Peter: Christus ist nicht teilbar. Der Christus, der für die Kranken, Armen und Schwachen gekommen ist, ist der gleiche, der das Schwert gebracht hat. Kennt die Liebe, von der Du sprichst, auch das Schwert (vgl. Mt 10,34–39)? Kennt Deine Gerechtigkeit auch ein Gericht?
Es ist Dein gutes Recht, Wright zu folgen und ein partizipatorisches Rechtfertigungsverständnis zu vertreten. Wright hat seine Argumente. Allerdings hättest Du Dich damit – so glaube ich es sehen zu müssen – sowohl vom „eigentlichen“ Katholizismus als auch vom „eigentlichen“ Protestantismus verabschiedet.
Ehrlich gesagt, ist es mir ein Rätsel, warum ein Gelehrter mit erkennbaren Sympathien für den Postmodernismus sich in der Frage der Freiheit ausgerechnet Pelagius anschließt. Doch Rätsel gibt es so viele. 😉
Liebe Grüße, Ron
@Peter: Danke für Deine Antwort. Ja, da haben wir wohl tatsächlich völlig unterschiedliche Auffassungen, auch wenn ich kein Barthianer bin. Ich behaupte auch nicht, dass Luther (z.B.) keine Abgrenzungen vorgenommen hätte. Aber ich behaupte, dass es einen Unterschied macht, ob ich den Glauben aus einer Abgrenzung heraus definiere (so verstehe ich Deinen Vorwurf) oder ob ich mich Abgrenze, weil ich bestimmte Überzeugungen habe.
Bei Horton geht es doch nicht darum die guten Werke zu verdammen oder die, die sie tun. Es geht doch darum zu fragen, was die eigentliche Botschaft des christlichen Glaubens ist. Und da macht es eben einen enormen Unterschied, ob ich sage: „Wir müssen jetzt etwas tun …“ oder ob ich davon rede, was Christus getan hat und tut.
Aber mich würde doch noch interessieren, wo das dritte Reich eine positive Wirkung auf den Glauben hatte?
Liebe Grüße, Johannes
@ Johannes: Ich denke, es ist immer beides, spätestens ab dem Moment, wo Du Glauben versuchst begrifflich zu fassen (jede Definition ist eine Abgrenzung): Jesus formuliert in Abgrenzung gegen Pharisäer und Schriftgelehrte, Paulus in Abgrenzung gegen Heidentum auf der einen und ein enges Judenchristentum auf der anderen Seite, Augustinus gegen die Donatisten und Luther gegen die Scholastik. Eine veränderte Welt wirft immer auch neue Fragen auf.
Und das Dritte Reich hat dazu geführt, dass Christen ihre Haltung gegenüber staatlicher Macht und Gewalt, wie auch Nationalismus und Rassismus neu definiert haben. Manche waren da früher dran (Barmen), andere haben es erst nach dem Krieg geschafft.
@ Ron: Hm, wir kommen da nicht weiter. Ich denke, dass ich von Pelagius meilenweit entfernt bin (Wright auch, aber falls es Dir aufgefallen ist, ich hatte mich in dieser Frage gar nicht auf ihn bezogen…), aber aus Deiner Perspektive scheint es nur ein hartes entweder/oder zu geben. Wer sagt, dass dieses oder jenes getan werden muss, der gerät nicht nur in diesen Verdacht, sondern unter dieses Urteil – das war ja nun sehr deutlich. Und das war genau der Punkt, mit dem ich in dieses Gespräch eingestiegen bin. Insofern hat sich für mich diese Sache nun geklärt.
Trotzdem denke ich, dass Du Dich in der letzten Antwort um den eigentlichen Punkt gedrückt hast. Was Jesus mit Mt 10,34ff gemeint hat, lässt sich kontrovers diskutieren. Ich sehe zwei Gefahren in Deiner Position: Erstens kann eine Rechtfertigungstheorie ebenso ideologische Züge bekommen und Christus von einer Person zur Chiffre machen. Zweitens entsteht durch Deine Argumentation ein ambivalentes Christusbild von Liebe und Schwert. Diese beiden Dinge liegen für mich auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Gott ist die Liebe, aber er ist nicht das Schwert, nicht der Zorn, nicht das Gericht (das ich nicht in Frage stelle, sondern der Liebe und Gerechtigkeit unterordne). Aber wenn man das so sagt und denkt wie Du, dann hat das eben unweigerlich auch praktische Konsequenzen. Das war mein anderer Punkt in diesem Post.
@Peter: Ich sehe das ein wenig anders (auch glaube ich nicht, dass die Kirche wirklich etwas aus dem dritten Reich gelernt hat), aber lassen wir das. Nur noch eine Frage: Stufst Du dann „Abgrenzung“ und „Definitionen“ grundsätzlich als negativ ein?
Viele Grüße, Johannes
@ Johannes: Nein, nicht grundsätzlich negativ. Es gibt nur hilfreichere und weniger hilfreiche Abgrenzungen. Um diese Frage hat sich dann unsere Diskussion oben gedreht.
Ohne zu behaupten, dass sie fehlerfrei wäre – ich denke tatsächlich, dass die evangelische (und auf ihre Weise auch die katholische) Kirche etwas gelernt hat. Ignoranten gibt es natürlich immer, aber so pessimistisch bin ich dann doch nicht…
@Peter: Ich bekomme langsam das Gefühl, bei einem Therapeuten auf der Couch zu liegen, der mir eindringlich erklärt, dass er mich besser versteht, als ich mich selbst verstehe (und ich eine tickende Zeitbombe bin). Ich denke schwarz/weiß, neige zur Ideologisierung, denke (und vertreibe) gefährliche Positionen usw. Wer urteilt?
Auch wenn für Dich die Sache bereits geklärt ist, erlaube ich mir (vermutlich) schließende Anmerkungen:
Ich habe nicht behauptet, dass Gott das Schwert ist. Ich nehme Bezug auf Deinen Hinweis, dass Christus sich zu politischen Themen äußert und den Armen begegnet (also in einer bestimmten Art und Weise handelt). Mein Anliegen ist es, über „Liebe“ im Kontext biblischer Texte zu sprechen. Wenn ich Mt 10 richtig verstehe, kann Liebe auch trennen (dafür wird wohl das Schwert stehen). Die Formel: Nächstenliebe = Gottesliebe, die Du hier beworben hast, scheint dort nicht aufzugehen.
Ich behaupte nicht, dass Wright Pelagianer ist und habe auch nicht gesagt, dass Du Dich in der Frage der Rechtfertigung auf Pelagius berufst. Ich greife Deinen Vorwurf der „ideologischen, antipelagianischen Paulusfixierung“ auf. Tendenziell anti-augustinische Paulusinterpretationen geben mir angesichts der Tatsache, dass uns heute so viele säkulare Autoren auf die Verdorbenheit, Verstricktheit und Boshaftigkeit des Menschen aufmerksam machen, Rätsel auf.
Soweit, so gut. Ich danke Dir für den anregenden Austausch!
Liebe Grüße, Ron
@ Ron: Tut mir leid, da habe ich mich recht missverständlich ausgedrückt.
Was Du mit dem Verweis auf Pelagius nun gemeint hast, verstehe ich allerdings nicht ganz.
Mit ging es darum, dass man Deine Sorge, Gerechtigkeit könnte das solus Christus verdunkeln, natürlich auch auf das Thema Rechtfertigung anwenden kann – und vermutlich auch muss, wenn man konsequent denkt. Ich will das ja gar nicht, weil ich sie von Anfang an nicht geteilt habe.
Übrigens auch nicht bestreiten, dass die Menschheit unter Verdorbenheit und böser Verstrickung leidet. Und ich wüsste auch nicht, wer das ernsthaft behauptet…
Dass Mt 10 Gottes- und Nächstenliebe in irgendeinem Konflikt sieht, finde ich alles andere als zwingend. Hier geht es ja wohl darum, dass die Apostel angefeindet und verfolgt werden und dass Auseinandersetzungen entstehen. Die – und das wird aus dem Kontext der Evangelien deutlich – sind ja nur ein Durchgangsstadium zum endzeitlichen Schalom, oder wie Paulus sagt, Geburtswehen. Es ist Gottes Liebe, aber das Schwert seiner Feinde. Und mit Wright denke ich, dass diese Ansage sich historisch präzise erfüllt hat. Für Nachfolger Jesu ist und bleibt aber die Liebe, die Gewaltlosigkeit und der Verzicht auf Rache die einzige Option. Liebe und Schwert bleiben Gegensätze, und auf Christus bezogen sind es sogar unversöhnliche Gegensätze, wie die Mahnung an Petrus in Gethsemane zeigt. Gerade darum drehte sich ja ein Teil der Kontroverse zwischen Jesus und seinen Gegnern.
Deinen Satz zu Liebe und Schwert (und nur das habe ich mit „wenn man das so sagt wie Du“ gemeint) konnte man auch anders verstehen. Wenn er so nicht gemeint war, dann vergiss den Rest von dem, was ich dazu geschrieben habe.
Auch meinerseits danke für die spannende Diskussion.
Liebe Grüße,
Peter
@Lieber Peter: In diesem Punkt sind wir uns einig: Jünger Jesu sind zur Gerechtigkeit berufen, ohne wenn und aber. Ich will natürlich nicht mit der Gottesliebe in den Krieg ziehen. Jesus ist der Friedefürst!
Ich bin geneigt, mich Deiner Auslegung von Mt 10 anzuschließen (vgl. allerdings Lk 12,49). Worauf ich hinaus möchte ist: Gottesliebe kann zur schmerzhaften Trennung, zur Entzweiung (in dem Fall von Familienmitgliedern) führen. Den Nächsten mehr zu lieben als Christus, ist keine Gottesliebe (und wohl dann auch keine Nächstenliebe).
Die anti-pelagianische Paulusfixierung wäre vielleicht eine eigene Diskussion wert. Dass nicht-augustinische Lesarten der „original sin“ derzeit sehr populär sind, ist kein Geheimnis. Ich finde es spannend, dass gleichzeitig nicht-fromme Denker (gerade nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts) behaupten, der Mensch sei so hoffnungslos böse, dass es besser wäre, es gäbe ihn nicht (leicht übertrieben).
Ich muss für einige Tage auf Reisen und mache nun Schluss. Nochmals vielen Dank, Ron