Betr.: Selbstsäkularisierung

DSC05939Sehr geehrter Jesus von Nazareth,

in den vergangenen Tagen haben uns heftige Klagen über Ihre Mitarbeiter bei der EKD erreicht. Aktuell ist es deren allzu verständnisvolle Haltung zur heutigen Vielgestalt von Ehe und Familie, die Anlass zu Häme und Verachtung gibt.

Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass Sie eine nicht unerhebliche Mitverantwortung für diese Herabwürdigung der Ehe tragen. Wir fordern Sie daher auf, eine Stellungnahme zu den folgenden Punkten abzugeben:

1. Mangelndes Vorbild: Nach unseren Erkenntnissen haben Sie den Schritt in die Verantwortungsgemeinschaft einer Ehe und Familie gemieden. Gerüchten zufolge soll Ihr leiblicher Vater nicht der Ehemann Ihrer Mutter gewesen sein. Das würde Ihre Entscheidung gegen Frau und Kinder zwar erklären, aber keineswegs rechtfertigen.

2. Geringschätzung der Institution: Unserer Aktenlage nach haben Sie selbst keine Trauungen vorgenommen; Sie haben Eheschließungen nicht als Grund anerkannt, Ihrem Aufruf verspätet Folge zu leisten und zudem ihren Anhängern suggeriert, die Loyalität zu ihnen und ihrer Gemeinschaft könne es erforderlich machen, familiäre Bindungen zu lockern. Einer ihrer rührigsten Anhänger, Saul von Tarsus, brachte es nur wenig später fertig, die Ehe als Notlösung für all jene abzuqualifizieren, die dem Alleinsein nicht gewachsen waren.

3. Schwammige Positionen: Bestimmt werden Sie nun einwenden, Sie hätten die Ehescheidung doch explizit abgelehnt, aber der Verdacht liegt nahe, dass sie damit tatsächlich eher die Rechte und das Selbstbewusstsein der Frauen gestärkt und die für patriarchale Gesellschaften typische Doppelmoral behindert haben. Wir halten es für denkbar, dass auch aufgrund dieses veränderten Selbstbewussteins heute dreimal so viele Frauen wie Männer eine Scheidung beantragen. Die gesellschaftliche Ächtung und vor allem die entschiedene Sanktionierung von Scheidungen haben Sie indes konsequent vermieden.

Die vielfach geforderte „klare Kante“ sieht anders aus. Zum leidvollen Schicksal von Scheidungskindern etwa vermissen wir bis heute nachdrückliche Aussagen. Bitte reichen Sie diese mit ihrer Stellungnahme umgehend ein beim theologischen Ausschuss von CHEF (Christliche Hüter von Ehe und Familie) ein.

Mit freundlichen Grüßen,

der Vorstand

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Der Jona-Komplex (3)

Wir kennen alle die Geschichte mit dem Fisch, mit dessen Hilfe Gott Jona wieder auf „Los“ setzt. Im Bauch des Fischs wird Jona merkwürdig gesprächig und offen, aber die wundersame Veränderung hält nicht lange an. Man muss sie daher auch nicht lange kommentieren.

Immerhin: Der zweite Anlauf sieht anfänglich besser aus: Jona geht auf Gottes erneute Anweisung tatsächlich in die große Stadt – den Hort des Bösen. Ein Tag wenig enthusiastischer Verkündigung dort bringt eine Wirkung hervor, von der andere Propheten nur träumen können: Wie schon die Seeleute glauben auch die Bürger von Ninive bereitwillig.

… viel zu bereitwillig?Es ist ja kaum zu glauben, wie leicht das geht.

Mann und Maus in Ninive flehen Gott auf Geheiß des Königs an, sie zu verschonen – sogar die Tiere fasten mit, um Gott noch umzustimmen. Dabei hatte Jona die Möglichkeit ja gar nicht erwähnt, dass Gott es sich anders überlegen könnte! Aber wie schon die Seeleute im ersten Kapitel unterstellen auch die Menschen in Ninive Gott zu allererst, dass er barmherzig ist.

… und sie behalten Recht!

Jona, der selbst gerade Barmherzigkeit erfahren hatte und dessen Leben verschont wurde, ist alles andere als glücklich über diese Entwicklung. Der einzige akzeptable Ausgang seiner Mission wäre der, dass Gott seine Drohung wahr macht. So, wie für viele Christen der einzig akzeptable Ausgang der menschlichen Geschichte der wäre, dass Gott seine Drohungen wahr macht und alle, die anders glauben und leben als man das selbst für richtig hält, dafür im Jenseits büßen lässt?

Sie übersehen, dass der Gott der Bibel eine lange Geschichte von Drohungen hat, die ihm später leid taten. Und dass genau das vermutlich auch ihr eigenes Glück ist, dass Gott gar nicht um jeden Preis Recht behalten will.

Warum also nicht hoffen, dass die Hölle am Ende vielleicht leer ist? Wäre Gott dann zu harmlos? Wäre alle Verkündigung Zeitverschwendung?

Aber Gott ist nicht harmlos. Und er ist noch nicht fertig mit Jona.

Ein interessantes Licht auf diese Erzählung werfen manche Gedanken aus Arno Gruens Buch Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden. Für Gruen besteht ein Zusammenhang zwischen autoritären Gesellschaften und strafenden, Gehorsam fordernden Gottesbildern – beides hat sich mit den ersten Großreichen entwickelt (parallel dazu fand eine Verschiebung von Kooperation zum Wettkampf statt und eine Objektivierung der Welt, die Gruen ähnlich wie Iain McGilchrist mit einem kulturell bedingten Ungleichgewicht zwischen den Hemisphären des Gehirns in Verbindung bringt). Gruen schreibt:

Seit aber Kampf, Eroberung und Unterdrückung das Leitmotiv unserer Weltzivilisation bilden, wird alles, was auf emphatischen Wahrnehmungen [sprich: „Barmherzigkeit“…] gründet, als schwach eingestuft. Leid, Schmerz und Trauer wurden zum Fluch des Männlichen und daher aus dem Bewusstsein verdrängt. […] Angst wird auf diese Weise zum Kern des eigenen Seins: Die Angst, den Erwartungen nicht zu genügen; aber auch die Angst, eigene Gefühle zu haben; und schließlich die Angst, weil Selbst-Sein ungehorsam zu sein bedeutet. (S.36)

Diese Kultur der Unterwerfung und des Gehorsams gegenüber Autoritäten, so Gruen weiter, führt zum Feinddenken: Wer die Regeln verletzt, wer ungehorsam ist, muss ausgeschlossen werden, weil er das unterdrückte Ich an die eigenen mühsam verdrängten Aggressionen erinnert, die es sich aber keinesfalls eingestehen darf, weil eben jene Kultur mit ihren Göttern, Instanzen und autoritären Protagonisten das eigene Überleben garantiert und sichert:

Man muss dann den Feind im Außen finden, um ihn für die Demütigung der erlebten, selbstverschuldeten Unterjochung zu bestrafen, die man nicht zugeben darf. (S. 39)

Die Gehorsamskultur fördert aber eben auch den Buchstabenglauben, ein äußerst ungesundes Verlangen nach Eindeutigkeit. Und so beharrt Jona auch dann noch darauf, Gott müsse seine Drohung in allen Einzelheiten wahr machen, als dem Leser schon sonnenklar ist, dass es nicht mehr dazu kommen wird. Die Menschen in Ninive nimmt Jona als Mitmenschen gar nicht mehr wahr, nur als anonyme Masse und als Objekte des Zorns. Für Kuscheltheologie hat er keine Zeit. Und weil Gottes Zorn ausbleibt, qualmt nun Jona mächtig vor sich hin.

Vor ein paar Wochen legte ein Tornado eine Kleinstadt in den USA in Schutt und Asche. Viele Christen fuhren dorthin, um den Überlebenden beim Wiederaufbau zu helfen. Es gab aber leider auch andere Stimmen: John Piper dagegen twitterte Hiob 1,19: „Und siehe, da kam ein großer Wind von der Wüste her und stieß auf die vier Ecken des Hauses und warf’s auf die jungen Leute, daß sie starben; und ich bin allein entronnen, daß ich dir’s ansagte.“ Sein erster Impuls war nicht Mitleid mit den Opfern, sondern es ging darum, klar(!)zustellen, dass sich hier ein Bibelwort erfüllt. Es ging, anders gesagt, schlicht ums Recht haben.

Ein autoritäres Gottesbild verhindert die Identifikation mit menschlichem Leid; und da auch das eigene Leid unterdrückt werden muss, betrachtet man das Leid anderer sogar noch mit einer gewissen Genugtuung. Irgendein „biblischer“ Grund lässt sich schon finden, warum die das verdient haben könnten.

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Weisheit der Woche: Authentische Spiritualität

Authentische Spiritualität will uns öffnen für die Wahrheit – was auch immer die Wahrheit ist, wohin auch immer die Wahrheit uns führt. Eine solche Spiritualität diktiert nicht, wohin wir gehen müssen, sondern vertraut darauf, dass jeder Weg, den wir mit Integrität gehen, uns zur einem Ort der Erkenntnis führt. Eine solche Spiritualität macht uns Mut, Vielfalt und Konflikt zu begrüßen, Ambivalenz auszuhalten und das Paradoxe anzunehmen.

Parker Palmer, To Know As We Are Known. Education As A Spiritual Journey

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (5)

Letzter Teil meiner Serie zu Rodney Starks Analyse des Wachstums der alten Kirche. Anscheinend bezieht sich auch John Ortberg in „Weltbeweger“ darauf, und wer das Thema etwas vertiefen und die missionale Thematik weiter verfolgen möchte, kann gern auch in Evangelium: Gottes langer Marsch durch seine Welt weiterlesen.

Antiochia muss ein für unsere Verhältnisse unerträglich enges, düsteres und stinkendes Gewirr kleiner Gassen gewesen sein. Die nach Rom, Alexandria und Ephesus viertgrößte Stadt des römischen Weltreiches war damit keine Ausnahmeerscheinung. Von den freistehenden luftigen Villen der Historienfilme, in deren Atrium stets ein Brunnen friedlich plätschert, kam im Schnitt eine auf 26 Blocks mehrstöckiger verrußter Mietskasernen, in denen es weder Wasserleitungen noch Kamine (und das bedeutete stete Feuergefahr!) gab. Ganze Familien teilten sich mit ihren Haustieren meist nur ein Zimmer. Nicht selten stürzten Gebäude ein und begruben ihre Bewohner unter sich, weil die oberen Stockwerke mit den billigeren Wohnungen hoffnungslos überfüllt waren und die Statik nachgab.

Die Einwohnerdichte betrug, so schätzt Stark, das Doppelte des heutigen Manhattan. Viele Leute waren aufgrund der hygienischen Verhältnisse und der schlechten Luft chronisch krank, die Säuglings- und Kindersterblichkeit lag bei 50%, und wenn jemand das Erwachsenenalter erreicht hatte, war in der Regel ein Elternteil schon verstorben. Ohne ständigen Zuzug vom Land wären die Städte allesamt geschrumpft. Brände, Erdbeben, Plünderungen, Aufstände und Epidemien – im Schnitt dezimierte während der Antike alle 15 Jahre eine große Katastrophe die Population der Stadt am Orontes. Stark schreibt:

Jede zutreffende Darstellung Antiochias aus neutestamentlicher Zeit muss eine Stadt voller Elend, Gefahren, Angst, Verzweiflung und Hass zeichnen. Eine Stadt, in der die Durchschnittsfamilie ein armseliges Leben in dreckigen und beengten Quartieren führte, wo mindestens die Hälfte aller Kinder bei der Geburt oder im Säuglingsalter starb und die meisten Kinder, die überlebten, mindestens ein Elternteil verloren hatten, bis sie erwachsen waren. (S. 160)

Hier wurde das Christentum als Stadtreligion geboren. Denn weil das Evangelium soziale Schranken aufhob (etwa die tiefe Kluft zwischen Sklaven und Freien), religiöse Aus- und Abgrenzungen sprengte (Juden und Heiden, einschließlich sämtlicher zerstrittener Untergruppen der beiden Lager), weil entwurzelte Menschen dort eine Familie und ein funktionierendes soziales Netz fanden, und sich damit immer seltener aggressiv und kriminell selbst behaupten mussten, weil Streit durch Vergebung und wo nötig auch ein paar ernste Mahnungen der Ältesten beigelegt wurde – aus all diesen Gründen waren die Christen „gute Nachricht“ für das stets vom Kollaps bedrohte Leben der Metropole. Das Christentum war, schreibt Stark, nicht nur eine neue Religion, sondern „eine neue Kultur, die das Leben in den griechisch-römischen Städten erträglicher machen konnte.“ (S.162)

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (4)

Während Christen heute im Blick auf die Rolle und Gleichberechtigung von Frauen eher hinterherhinken, war das in den ersten Jahrhunderten umgekehrt. Rodney Stark nennt auch dazu interessante Details:

Der Status von Frauen in der jüdisch-christlichen Subkultur war beträchtlich höher als der in der griechisch-römischen Welt: In Rom kamen auf 100 Frauen 131 Männer, etwa 140 in Italien, Kleinasien und Afrika, denn ungewollte Mädchen (heute heißt das perinataler Femizid) und missgebildete Knaben wurden vielfach als Säuglinge getötet oder ausgesetzt – in allen sozialen Schichten, keineswegs nur bei sozial Schwachen. Unter den Christen sah diese Relation anders aus, dort gab es mehr Frauen als Männer. Eine Hauskirche in Nordafrika sammelte etwa im Jahr 303 16 Tuniken für Männer und 82 für Frauen.

In der Mehrheitsgesellschaft führte das dazu, dass Frauen als knappes Eigentum behandelt wurden, in den christlichen Gemeinden hatten sie einen ganz anderen Stand. Es gab zahlreiche Konversionen von Frauen, vor allem auch aus den höheren Schichten (z.B. Marcia, die Konkubine des Commodus). Junge Frauen hatten als Christinnen die Wahl, ob sie heiraten wollten oder unverheiratet blieben, Kinderbräute mit alten Ehemännern waren ein sehr viel selteneres Phänomen als in der Mehrheitsgesellschaft. Unter Juden und Christen waren außerdem Säuglingsmord und Abtreibung tabu – das bedeutete: weniger Mütter starben nach hochriskanten Eingriffen, mehr Mädchen blieben am Leben, und so war auch die Fruchtbarkeit christlicher Ehen höher als im Durchschnitt der Gesellschaft.

Während „Keuschheit“ damals allgemein hoch im Kurs stand, verzichteten die Christen auf die in der Antike übliche Doppelmoral, die für Männer alle möglichen Ausnahmen machte. Aber es entstanden neue Fragen: Im Jahr 220 verursachte der römische Bischof Callistus Aufregung, als er einen „gerechten Konkubinat“ ohne formale Eheschließung befürwortete: Frauen, besonders aus höheren Schichten, fanden keine sozial gleichrangigen Männer in der Gemeinde, durch eine Heirat hätten sie aber ihren gesellschaftlichen Status und ihr Vermögen verloren, also sollten sie offiziell unverheiratet zusammenleben.

Paulus (1.Korinther 7) und Petrus (1.Petrus 3) kannten Frauen in Mischehen. Diese waren auch in späteren Zeiten an der Tagesordnung, fast immer waren die Männer Heiden. Die Polemik mancher Bischöfe dagegen (Tertullian sprach von „Sklaven des Teufels“) muss keineswegs bedeuten, dass diese Fälle selten waren. Im Gegenteil: „Sekundärkonversionen“ von Ehemännern waren wohl vergleichsweise häufig. Der Glaube dieser Frauen hatte offenbar etwas sehr Überzeugendes.

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In eigener Sache: Neue Kommentarregeln

Dieser/dieses Blog lebt auch von Euren Kommentaren, in denen das Gespräch weitergeht und aus denen ich vieles lerne. An dieser Stelle ein ganz herzlicher Dank an alle, die hier über die Jahre so angeregt und anregend mitdiskutiert haben. Ich möchte die Einladung, sich hier zu beteiligen, an dieser Stelle gern erneuern.

Nicht nur mir ging es jedoch in den letzten Wochen so, dass einzelne, aufgrund ihrer Häufigkeit, Länge oder penetrant (passiv-)aggressiven Tonlage Kommentare die Diskussion zu den eigentlichen Themen dieses Blogs erschwert und mich unnötig viel Zeit gekostet haben, die ich gern anders einsetzen würde. Manchmal war mir auch gar nicht klar, ob das wirklich ernst gemeint gewesen sein konnte, was da stand.

Ich habe mich schließlich dafür entschieden, dass ab sofort nur registrierte und bestätigte Benutzer kommentieren können. Momentan muss noch jeder Kommentar durch die Moderationsschleife, das jedoch würde ich gern bald wieder abstellen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Bitte registriert Euch, falls noch nicht geschehen, das dauert einen kurzen Augenblick, und kommentiert dann fröhlich weiter. Vielleicht sogar etwas fröhlicher als zuletzt.

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (3)

NotarztKaritativer Einsatz und ein Engagement für das Gemeinwohl von Seiten einer verfolgten Minderheit, das ist ungewöhnlich. Zwei große Seuchenwellen im zweiten und dritten Jahrhundert (vermutlich Pocken und Masern) rafften weite Teile der Bevölkerung des römischen Reiches dahin: ganze Landstriche werden entvölkert und verwahrlosen. Heidnische Philosophen und Priester konnten keine überzeugenden Antworten auf diese Tragödien geben – über deren Versagen hatte, so schreibt Rodney Stark, Jahrhunderte zuvor schon der griechische Historiker Thukydides geklagt.

Seife war noch nicht erfunden, die Existenz von Bakterien und Erregern unbekannt. Während führende Mediziner wie der prominente Arzt Galenus (er hatte ein Landgut in Kleinasien) die Katastrophengebiete fluchtartig verließen, blieben die Christen in den Städten und pflegten die Kranken. In der Vita des Cyprian von Karthago heißt es dazu:

Später brach dann die schreckliche Pest aus, und die verheerende, gräßliche Seuche raffte tagtäglich unzählige Menschen, jeden an seinem Ort, in plötzlichem Anfall hinweg und ergriff der Reihe nach die Häuser der zitternden Menge, eines nach dem anderen. Voll Angst flüchtete alles und suchte der Ansteckung zu entgehen; die eigenen Angehörigen setzte man lieblos aus, gleich als ob man mit dem todgeweihten Pestkranken auch den Tod selbst vertreiben könnte.

Mittlerweile lagen in der ganzen Stadt schon Haufen von Menschen oder vielmehr schon Leichen auf der Straße und forderten das Mitleid der Vorübergehenden heraus durch die Betrachtung des gemeinsamen Loses. Niemand sah auf etwas anderes als auf grausamen Gewinn; niemand ließ sich durch den Gedanken beunruhigen, daß ein ähnliches Geschick ihn treffen könne; niemand handelte an dem Nächsten so, wie er selbst gewünscht hätte, behandelt zu werden…

Nun, es wurde sofort jedem einzelnen je nach den persönlichen Verhältnissen und nach dem Stande seine Dienstleistung zugewiesen. Viele, die wegen ihrer eigenen Armut kein Geld aufwenden konnten, leisteten mehr als Geldopfer, indem sie selbst Hand anlegten und so Dienste leisteten, wertvoller als aller Reichtum. Und wer hätte unter einem so tüchtigen Lehrer sich nicht beeilen sollen, irgendeine Stelle in einem solchen Kriegsdienst zu finden, um darin Gott dem Vater und Christus dem Richter und vorerst dem Priester zu gefallen? So tat man also in verschwenderischem Überfluss gute Werke an allen, nicht nur an den Glaubensgenossen.

Doch schon eine ganz elementare Fürsorge reduziert die Sterblichkeit bei Infektionskrankheiten erheblich. Auch das erklärt, warum Christen und Heiden im Umfeld von Christen spürbar häufiger überlebten. – das wurde von allen Seiten als eindrückliches Wunder empfunden. Christen waren durch die Pflege der Kranken häufiger immun gegen die Erreger geworden, viele Heiden dagegen hatten ihre Familien verloren und neuen Anschluss bei den Christen gefunden.

Stark schätzt, der Anteil der Christen wäre zwischen 160 und 260 von 0,4% auf etwa 12% gewachsen – aufgrund der beschriebenen Reaktion der Gemeinden in diesen Zeiten der Krise betrug er an die 25%. Noch im vierten Jahrhundert ärgerte sich übrigens Kaiser Julian Apostata: „Die gottlosen Galiläer unterstützen nicht nur ihre Armen, sondern nicht minder unsere.“

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(K)ein kleiner Unterschied

Als ich neulich diesen Post über das Missionsverständnis schrieb und dort andeutete, dass aus einer Reich-Gottes-Perspektive Andersdenkende und -glaubende nicht unbedingt als Gegner und Konkurrenten, sondern auch als potenzielle Partner in den Blick kommen könnten, fragte ein Kommentator sofort nach einer Abgrenzung im Blick auf den Islam.

Dieser Abgrenzungsreflex, genauer gesagt: die Selbstdefinition über die ausschließende Differenz, verstört viele suchende Menschen zutiefst. Das habe ich erst neulich wieder am Rande einer Hochzeitsfeier geschildert bekommen: Das wirkt auf sie in der Regel stur und streitsüchtig. Man muss ja nicht in allzu naive Gleichmacherei verfallen, aber wenn es ganz grundsätzlich gelänge, bei den Gemeinsamkeiten zu beginnen statt bei dem, was trennt, erschiene vielleicht auch alles andere in einem versöhnlicheren Licht. Statt auszuschließen, sagt Miroslav Volf in Von der Ausgrenzung zur Umarmung treffend, können und müssen wir differenzieren: Nicht trennen, sondern unterscheiden und verbinden.

Auf den Unterschieden lässt sich leicht herumreiten. Weniger Kraft wird häufig darauf verwandt, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Und da, wo es geschieht, sieht man sich leider schnell dem Vorwurf des Verrats an der gemeinsamen Sache ausgesetzt. Die eigene Identität über die ausschließende Differenz zu konstruieren ist allerdings in einer globalisierten Welt und einer pluralen Gesellschaft eine Entscheidung mit potenziell katastrophalen Folgen. Das Bedürfnis danach wächst unglücklicherweise in eben dem Maß, als der in meiner Selbstdefinition ausgeschlossene Andere nicht mehr tausende Kilometer weit weg ist, sondern mir unmittelbar gegenübersteht.

Gerade als Lutheraner, finde ich, müsste man doch eigentlich ein großes Herz für Muslime, insbesondere für Türken haben: Die Historiker sind sich weitgehend einig in der Einschätzung, dass Luther und die Reformation kaum überlebt hätten, wenn die Türken Karl V. nicht so zugesetzt hätten, dass er gegen diese sächsische „Ketzerei“ nicht mit all jenen Mitteln vorgehen konnte, die ihm unter normalen Umständen zur Verfügung gestanden hätten. Der Islam gehörte also damals schon „zu Europa“.

Wagen wir doch die einschließende Differenz: Wir sind freilich unterschiedlich, und diese Unterschiede sind nicht immer leicht auszuhalten, aber es verbindet uns mehr als uns trennt: Unser Menschsein und die vielen damit verbundenen Erfahrungen, so manche Überzeugungen über Gott und die Welt, unsere Ängste, Wünsche und Sehnsüchte. Wenn wir miteinander über die Unterschiede reden, dann auf Augenhöhe. Ich muss weder alles gut finden, um den anderen annehmen zu können, noch muss ich alles abwerten, was ihn ausmacht, nur weil er nicht zu meinem Haufen gehört.

Wer über Grenzen (oder besser: Unterschiede) reden möchte, muss das Gemeinsame benennen und die Verbindung halten können. Wo das ausbleibt, ist kein fruchtbares Gespräch zu erwarten. Anders gesagt: Von einer bestimmten Praxis der Abgrenzung muss man sich ganz deutlich … unterscheiden.

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Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (2)

Es geht weiter mit der Frage nach dem Wachstum der alten Kirche: Warum schlossen sich Menschen dieser neuen Glaubensgemeinschaft an? Zum Thema Konversion merkt Rodney Stark gleich vorabin seiner sehr pragmatischen Sicht an: „Konversion zu neuen, abweichenden religiösen Gruppen geschieht, wenn … Menschen zu Mitgliedern dieser Gruppe stärkere Bindungen haben oder entwickeln als zu Nichtmitgliedern.“ (S. 18) Wir kennen das als „you belong before you believe“. Erst im Rückblick, so Stark, begründen Konvertiten ihren Schritt dann theologisch und dogmatisch, also von den Glaubensinhalten her.

Für eine Glaubensgemeinschaft ist daher die entscheidende Frage, ob sie ein offenes Netzwerk bleiben kann, das den Kontakt in andere Beziehungsnetze hält, oder ob sie sich teilweise bzw. völlig abschottet. Auch wenn es das Wort damals noch nicht gab – das ist eine genuin missionale Fragestellung und ein schönes Beispiel, dass etwa Milieuverengung kein unausweichliches Schicksal ist.

Stark stellt in Frage, ob es sich beim jungen Christentum um eine proletarische Bewegung gehandelt haben kann: Gerade Arme und weniger Gebildete verhalten sich nämlich religiös eher konservativ, während in der Mittel- und Oberschicht einer Gesellschaft sich Skepsis gegenüber den Traditionen schneller ausbreitet; die Bereitschaft, sich neuen „Kulten“ anzuschließen, ist dort besonders hoch. Stark geht davon aus, dass Paulus in der urbanen Mittelschicht und oberen Mittelschicht besonders erfolgreich war, selbst deren „Abhängige“ waren wirtschaftlich besser gestellt als die Landbevölkerung und die Sklaven der Grundherren.

Das brachte auch mittelbaren politischen Einfluss mit sich: Polykarp von Smyrna war in Sorge, der (offenbar beträchtliche) Einfluss seiner Glaubensgeschwister in Rom könne ihm sein Martyrium noch vermasseln. Generell waren die Christenverfolgungen in Rom weniger brutal und konsequent als die Niederschlagung von Unruhen in der Unterschicht.

Vor allem ein Netzwerk war entscheidend für die Ausbreitung des Christentums, nämlich das Diasporajudentum. Mit Johannes Weiß (Das Urchristentum, 1914) geht Stark davon aus, dass das junge Christentum während der gesamten ersten vier Jahrhunderte den Kontakt zum Diasporajudentum (ca. 4-5 von insgesamt 60 Millionen Menschen im Imperium Romanum) nicht verlor und dass Diasporajuden vor allem nach Bar Kochba zum Christentum übertraten, weil es ihnen einerseits die Möglichkeit einräumte, wesentliche Traditionen weiter zu pflegen und zugleich eine bessere Integration in die multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft ermöglichte, das Ende des „barbarischen“ Stigma, das vor allem dem militanten palästinischen Judentum anhaftete.

Moderne Analogien dazu wären das Reformjudentum im 19. Jahrhundert, das (ähnlich wie das hellenistische Judentum um Philo) viele ethnisch-kulturelle Schranken aufzuheben bemüht war, oder die Pfingstbewegung im globalen Süden, die es Menschen ermöglicht, Elemente und Erfahrungen traditioneller Kulturen in ein Christentum zu integrieren, das ihnen den Anschluss an die moderne Welt verheißt.

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