Priester oder Propheten?

Der klassisch griechischen Anschauung zufolge ist die Welt im Wesentlichen unveränderlich. Die Geschichte ist eine Abfolge von Zyklen, die sich endlos wiederholen. Man kann nichts Neues erwarten. Die Zeit ist unfruchtbar, ihr Vergehen ohne Bedeutung. Nur der Raum hat Bedeutung: Territorium, Boden, Blut, Rasse. Eine gewisse Art von Religion – normalerweise als „priesterliche Religion“ bezeichnet – feiert und stärkt diese Sicht der Welt. Priesterliche Religion ist die Religion von Menschen, die an das geheiligte Land gebunden sind, eine Religion, die die Grenzen sanktioniert. Ein Volk vertraut seinem Gott, dass er sein Gebiet beschützt.

Im Gegensatz dazu war die jüdische Weltsicht dynamisch, man verstand die Geschichte als kontinuierlichen Entfaltungsprozess, in den Gott mit „mächtigen Taten“ eingreift, und die Zeit ist möglichkeitsschwanger. Wichtiger noch als Blutsbande war der geschichtliche Bund mit Gott. Diese Weltsicht feiert man in einer anderen Art von Religion, die man normalerweise „prophetisch“ nennt. Prophetische Religion ist die eines Volkes, das nicht an Grund und Boden gebunden ist, ein Volk im Aufbruch, ein Volk, das eine historische Aufgabe vor sich hat – die Aufgabe, Grenzen zu überwinden.

gefunden in: Ronald Marstin, Beyond Our Tribal Gods. The Maturing of Faith (1979)

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Spruch des Tages (27)

I never meant to say that the Conservatives are generally stupid. I meant to say that stupid people are generally Conservative. I believe that is so obviously and universally admitted a principle that I hardly think any gentleman will deny it.

― John Stuart Mill (1806-1873)

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Beten: ungekünstelt kunstvoll

Walter Brueggemann ist nicht nur jemand, der die poetischen Texte der Propheten und Psalmisten wunderbar erklären kann, es gelingt ihm auch, dieses sprachliche und gedankliche Niveau in seinen eigenen Gebeten zu halten. Im Vorwort zu einem Sammelband schreibt er, warum ihm das wichtig ist, und bringt das, wie so oft, schön auf den Punkt:

… ich bin zu der Ansicht gelangt, dass vieles öffentliche Beten in der Kirche achtlos und schlampig ist, und dass vieles als Spontaneität durchgeht, was in Wirklichkeit nur der Verzicht auf Vorbereitung ist. Ich glaube daher, dass öffentliche Gebete „gut gesprochen“ werden wollen, auf eine kunstvolle Art; nicht um auf die Kunstfertigkeit selbst aufmerksam zu machen, sondern um die Aufmerksamkeit der betenden Gemeinschaft zu mobilisieren und zu erhalten. Solch ein Gebet muss kunstvoll genug sein, um durchlässig zu werden, so dass die ausgesprochenen Worte Zugänge schaffen für die anderen Mitglieder der betenden Versammlung, diese Äußerungen zu ihren eigenen machen.

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Widersprüchliche Jesusbilder

Der Religionswissenschaftler Reza Aslan ist vor einiger Zeit durch ein Fernsehinterview, das auf Youtube die Runde machte, groß herausgekommen – was allerdings nicht an ihm, sondern an der selten dämlichen Journalistin von – wie könnte es anders sein? – Fox News lag.

Nun hat Zeit Online es besser gemacht. Spannender als den Inhalt seines Jesus-Buchs „Zealot“ (seinen Kurzfassungen konnte ich noch nichts bahnbrechend neues entnehmen) fand ich beim Lesen seine Biographie: Aslan hat eine Jesuitenschule besucht, wurde als Jugendlicher begeisterter Christ, und es war ausgerechnet das Bibelstudium, das ihn ins Zweifeln brachte:

Ich bin aus der Kirche ausgetreten, nachdem ich begann, die Bibel zu studieren. Plötzlich wurde mir klar, dass Jesus sich selber nie als Gott sah. Wenn er sagt: „Ich bin der Messias!“, dann heißt das: Ich bin ein Nachkomme König Davids! Kein Jude würde das übersetzen mit: Ich bin Gott! Das ist eine rein christliche Interpretation.

Mit diesem Satz hat er natürlich recht. Anscheinend hatte er mit einem Frömmigkeitstyp und in einem Milieu zum Glauben gefunden, wo ein unkritisches, dogmatisches Jesusbild so dominierte, dass der Zweifel daran auch zum Bruch mit dem christlichen Glauben führen musste. Als ihm dann im Studium auffiel, dass der Jesus des Evangelien sich zwar in der Rolle des Messias sieht, aber (wenn man die Texte aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang heraus versteht) nicht den Anspruch erhebt „Gott zu sein“, wandte der gebürtige Iraner sich wieder dem Islam zu.

Die evangelische Theologie hat die Frage seit dem Fragmentenstreit intensiv beackert, wie sich die altkirchlichen Bekenntnisse (das trinitarische Dogma und die „Zweinaturenlehre) und die historische Jesusüberlieferung zu einander verhalten. Dass man sie nicht, wie bis zur Aufklärung geschehen, naiv miteinander identifizieren kann, ist den meisten klar. Die Folgerung, dass sich das christliche Bekenntnis zu Jesus als dem menschgewordenen Gott – von Paulus über Johannes und weiter bei den Kirchenvätern – und die Selbstaussagen Jesu in den synoptischen Evangelien gegenseitig ausschließen, ist andererseits aber auch keineswegs zwingend.

Freilich muss man sich die Zeit nehmen und die Mühe machen, beides sauber und ohne historische oder dogmatische Kurzschlüsse zusammenzudenken. Ein guter Ansatzpunkt dafür ist von der neutestamentlichen Seite her N.T. Wrights gründliche und umfangreiche, aber durchaus auch für Nichttheologen lesbare Untersuchung Jesus und der Sieg Gottes. Wenn einiges davon sich unter frommen Verkündigern herumspräche, wären solche Konflikte, wie Aslan sie erlebte, vielleicht seltener.

Gern werden solche Episoden als Beleg dafür herangezogen, vor dem Theologiestudium zu warnen, weil man da angeblich seinen Glauben verliert. Ich denke, es wird allerdings auch andersherum ein Schuh draus, dass nämlich in vielen Gemeinden so selten, so denkfaul und so angepasst über theologische Schlüsselthemen diskutiert wird, dass sich manch einer regelrecht betrogen vorkommt, wenn er entdeckt, was ihm dort alles verschwiegen wurde. Dass dann mit den allzu simplen und naiven Theologumena auch noch die Kirchenzugehörigkeit über Bord geht, ist kein großes Wunder.

Reza Aslan bezeichnet sich übrigens immer noch als Jesusnachfolger:

But I am a follower of Jesus, and I think that sometimes, unfortunately — I think even Christians would recognize this and admit it — those two things aren’t always the same, being a Christian and being a follower of Jesus.

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Warum Sterngucker im Vorteil sind

Sternschnuppen am Himmel sind für viele ein bewegendes Schauspiel, auch wenn wir das nur noch ein kleines bisschen „magisch“ finden. Im Augenblick stehen die Chancen ja wieder bestens, und so war ich am Sonntag Abend noch mal draußen, um den Nachthimmel rund um den Perseus zu betrachten – gar nicht so leicht, bei der Häufigkeit genug Wünsche parat zu haben. Irgendwie fühlt es sich schon so an, als würde Gott uns zuzwinkern.

Comet ISON Source: Hubblesite.org

Man kann an diesem Beispiel aber auch schön sehen, wie die Kunst der Aufmerksamkeit funktioniert. Fotografen zum Beispiel empfahl die Wissenschaftsredaktion des BR, einen Weitwinkel und Langzeitbelichtungen zu nutzen, um Sternschnuppen aufs Bild zu bekommen. Ein Teleobjektiv dagegen hätte wenig Sinn, höchstwahrscheinlich würde ich damit immer gerade auf die falsche Stelle zielen.

Aufmerksamkeit bedeutet, das Gesichtsfeld möglichst weit und offen zu halten. Sie ist etwas anderes als die Konzentration auf einen einzelnen Punkt. Weil sie sich ganz wach auf Sinne und Empfindungen richtet, bedeutet Aufmerksamkeit auch, möglichst nicht in Gedanken abzuschweifen in Zukunft (ob meine Fotos gelingen und was ich damit mache), Vergangenheit (warum es beim letzten Mal nicht geklappt hat und was wohl der Grund gewesen sein könnte) oder an einen anderen Ort (wo ich vielleicht eine viel bessere Sicht hätte), sondern in der Gegenwart zu bleiben.

Gerade der weite Horizont der Aufmerksamkeit hat einen befreienden Aspekt. Am Himmel des Augenblicks entdecke ich viele kleine und große Dinge, und plötzlich ist die störende Wolke, über die ich mich geärgert hatte, oder der dunkle Fleck, der mir Kummer oder Angst macht, nur noch eine Sache unter anderen. Immer noch präsent, aber nicht mehr so erdrückend. Immer noch ein reales Gefühl, aber nicht mehr eines, das mich völlig besetzt. „Ich“ bin mehr als diese eine Empfindung, dieser eine Gedanke, ich kann meine Aufmerksamkeit wandern lassen und wieder zurückkehren – in aller Freiheit.

In Jesaja 40 hat das schwer gebeutelte Israel den Eindruck, Gott habe es vergessen. Der Prophet benutzt die Sterne als ein Beispiel für Gottes liebevolle Aufmerksamkeit: So unwandelbar wie der Fixsternhimmel ist auch Gottes Zuwendung. Sein unermüdliches Interesse ist es, das die Sterne jede Nacht wieder pünktlich ihren Platz einnehmen lässt. Und mit derselben aufmerksamen Verlässlichkeit begleitet und lenkt er den Weg seines Volkes durch unergründliche Tiefen und Finsternis auf ein gutes Ende hin – es lohnt sich also, ihm zu vertrauen und aufmerksam abzuwarten, was gerade Unerwartetes geschieht. Der Blick nach oben bereitet uns darauf vor, auch die Dinge vor unserer Nase neu und anders zu sehen:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht: Wer hat die (Sterne) dort oben erschaffen? Er ist es, der ihr Heer täglich zählt und heraufführt, der sie alle beim Namen ruft. Vor dem Allgewaltigen und Mächtigen wagt keiner zu fehlen. Jakob, warum sagst du, Israel, warum sprichst du: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, meinem Gott entgeht mein Recht? Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt, unergründlich ist seine Einsicht.

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Warum wir am 3. Oktober Grund zur Trauer haben

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwanden nicht nur eine Reihe diktatorischer Systeme von der Weltkarte, sondern nach und nach auch die soziale Marktwirtschaft mit ihrer breiten Mittelschicht, deren Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg auch dadurch gewachsen war, dass der Staat Spitzenverdiener stark besteuerte. Margaret Thatcher und Ronald Reagan hatten schon eine Weile an der Aushöhlung dieses Systems gearbeitet, aber mit dem endgültigen Ende der Bedrohung durch eine sozialistische Revolution fiel auch der letzte Grund für die Plutokraten weg, an diesem gesellschaftlichen Kompromiss festzuhalten.

Wer also das Jahr 1989 als das Jahr der Befreiung feiert, sollte immer auch daran denken, dass dies zugleich die Geburtsstunde der wachsenden Kluft zwischen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft war, die dem globalen Club der Milliardäre massiven Auftrieb bescherte, und zwar nicht nur durch die russischen Oligarchen, sondern auch die kaum noch ernsthaft besteuerten Topverdiener im Westen.

Chrystia Freeland zeigt in Plutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland, Schweden oder Neuseeland in den letzten beiden Jahrzehnten schneller wuchs als in den USA. Dort wanderten drei Viertel des Ertrags vom Wirtschaftswachstum der Jahre 2002 bis 2006 in die Taschen des einen Prozents der Spitzenverdiener. Noch schärfer fiel der Kontrast nach der letzten Finanzkrise aus: Die wirtschaftliche Erholung der Jahre 2009 und 2010 kam zu 93% dem einen Prozent der Reichsten zu Gute, erschütternde 37% entfielen auf die 0,1% der Superreichen. Freeland spricht von der „neuen virtuellen Nation des Mammon“, die schwarz-gelbe Regierungskoalition bevorzugt in der Regel den Terminus „Leistungsträger“, bezeichnenderweise wird die CDU auch von Großspendern bevorzugt.

Der prominente Historiker Hans-Ulrich Wehler nennt derweil auf SPON folgende Zahlen:

Bis etwa 1989 zahlten die 30 Dax-Unternehmen den Vorständen 500.000 D-Mark Jahresgehalt. Im Vergleich zum Einkommen ihrer Arbeitnehmer war das ein Verhältnis von 20 zu 1. 2010 beträgt dieses Einkommen sechs Millionen Euro. Und das Verhältnis zum Einkommen der Arbeitnehmer beträgt, man mag es kaum glauben, 200 zu 1.

Wäre es nicht viel ehrlicher, wenn wir am 3. Oktober nicht nur den Sieg der Demokratie feierten, sondern auch deren Bedrohung durch die Plutokratie betrauerten und ernsthaft über Wege zu einer gerechteren Welt diskutierten? Die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West sind ja doch vergleichsweise gering im Vergleich zu der gigantischen Kluft, die sich hier auftut. So lange die erwirtschafteten Zuwächse überwiegend an der Spitze der Einkommenspyramide verteilt werden, fehlen dem Staat ja auch die Spielräume, um andere Lücken zu schließen.

Freeland zitiert aus einem Roman von Scott Turow: „Jeder, der noch dabei war, sich dafür auf die Schulter zu klopfen, dass die Roten in die Tonne gewandert sind, wird sich fragen, wer da eigentlich gewonnen hat, wenn Coca-Cola sich um einen Sitz bei den Vereinten Nationen bewirbt.“

P.S.: Wer gleich aktiv aktiv werden möchte: Hier klicken.

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Knapp drei Wochen Urlaub liegen vor mir – Zeit, einen Gang herunterzuschalten, ein paar schöne Ecken aufzusuchen, ein gutes Buch (oder zwei, oder drei…) aufzuschlagen und die Nase in den sommerlichen Wind zu hängen!

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Nichts sagen ist auch eine Botschaft

Urlaubszeit in Bayern. Wer denkt da schon an die Land- und Bundestagswahlen im September? Na, die CSU zum Beispiel: Sie plakatiert großflächig einen lächelnden Seehofer vor weißblauem Himmel. Einzige Botschaft des überdimensionalen Werbeträgers: „Unser Ministerpräsident“. Beim mir im Stadtteil wünscht der Innenminister, der hier seinen Wahlkreis hat, von einem deutlich kleineren Plakat aus allen einen schönen Sommer.

So verhält sich ein Souverän – der Serenissimus grüßt huldvoll die Untertanen aus luftiger Distanz. Lächeln und Grüßen reicht anscheinend aus CSU-Perspektive, um im glücklichsten aller Bundesländer wiedergewählt zu werden. Wozu sich, während alle chillen, mühsam über Sachthemen in Diskussionen verstricken, in denen man gar schlecht aussehen könnte oder auf kritische Fragen antworten müsste über Mollath, die BayernLB, Ökostrom, Prism, Verwandtenaffären, Verbraucherschutz, Bildung, Europa, Rüstungsgeschäfte mit Despoten, populistische Kehrtwenden und was sich sonst noch so auftürmt im Augenblick? Das interessiert doch nur Verlierer!

Wozu also so tun, als nehme man die Bürger ernst als Gesprächspartner im politischen Diskurs? Am Ende kämen sie auf die absurde Idee, sie seien selbst der Souverän im Land! Am Ende meinen sie noch, sie könnten auch andere Parteien wählen! Am Ende könnte gar jemand glauben, ein Wechsel diene der Demokratie…? Denn Wahlfreiheit bezieht sich, wie ein aktueller Tweet von MdB Stefan Müller verrät, in christsozialer Interpretation inzwischen darauf, an einem eventuellen „Veggie-Day“ Fleisch zu futtern und stolz darauf zu sein. Robin Hoods Erben im Zeitalter drohender Ökodiktatur – liebes Volk, Deine Regierenden sind zugleich die wahren Rebellen!

Deshalb huldigen sie so gern dem Merkelismus und pflegen das mia san mia: Seehofer hat heute plakativ gefordert, Bayern München müsse auch unter Pep Guardiola drei Titel holen. Klar: Für Bayern ist nur das Beste gut genug.

Wer sich weismachen lässt, das Triple (oder die Freilassung von Gustl Mollath) sei irgendwie ja auch ein Erfolg der CSU, der mag ihren Kandidaten im September wieder seine Stimme geben. Alle anderen können sich im Urlaub, im Biergarten oder beim Zeitunglesen die Frage nach dem Besten für diese freistaatliche Demokratie noch einmal sehr gründlich durch den Kopf gehen lassen.

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Bloß nix ändern, es ändert sich eh nix…?

Ich bin wohl nicht der einzige, der den Eindruck hat, so lange die Wirtschaftsdaten halbwegs „stimmen“, interessieren sich nicht besonders viele Menschen für die aktuelle Politik. Vor allem, wenn es um komplizierte Themen geht wie Grundrechte, Europakrise oder Klimaschutz und Energiewende, wo einer Ursache zumindest keine unmittelbar spürbare Wirkung mehr zugeordnet werden kann – und das ist in einer komplexen Welt ja der Normalfall.

Solche Zusammenhänge aufzudecken erfordert also einiges an Denkleistung und Diskussion. Es gäbe also durchaus viel zu besprechen und zu entscheiden. Aber wir sind, so sagt Marc Beise von der SZ, selbstzufrieden und träge. Und die Regierungskoalition fördert das durch die Verweigerung so gut wie jeder inhaltlichen Diskussion, weil sie überzeugt ist, dass sie davon – vom Nichtreden und Nichtdenken – profitiert. Angela Merkel scheint ein Dauerabo der Kanzlerschaft zu besitzen wie Ihr Ziehvater Helmut Kohl, weil auch sie den Eindruck erweckt, eigentlich nichts ändern zu wollen.

Dass das auch spirituell eine mehr als bedenkliche Situation ist, hat Walter Brueggemann im Blick auf das langfristig ruinöse, aber mittelfristig leider erfolgreiche Regierungskonzept des Salomo festgestellt. Es ist ganz offenbar ein Vorläufer der modernen Wohlstandsgesellschaft und ihrer satten Apathie, in der Neoliberalismus zur Notwehr geworden ist:

Das königliche Bewusstsein mit seinem Programm machbarer Sättigung hat unsere Vorstellung von Menschsein umdefiniert, und zwar für uns alle. Es hat ein subjektives Bewusstsein geschaffen, das sich nur um die eigene Befriedigung dreht. Es hat die Legitimität der Tradition geleugnet, die es uns abverlangt, uns zu erinnern, der Autorität, die von uns eine Antwort erwartet, und der Gemeinschaft, die uns zur Anteilnahme ruft. Es hat die Gegenwart so inthronisiert, dass die verheißene Zukunft […] undenkbar ist.

Damals war es die Aufgabe der Propheten, all die störenden Empfindungen ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen, die dort nicht erwünscht waren. Nicht nur einen Politikwechsel herbeizuführen, sondern einen drastischen Bewusstseinswandel, durch die „Praxis öffentlicher Belästigung„, wie Jürgen Habermas das nennt. Und wie die alten Propheten findet auch der frische Worte für Krisen, die andere (so funktioniert „Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung“ eben) nur gelangweilt oder resigniert zur Kenntnis nehmen.

Der Mann ist 84. Wer hat das Format und tritt in seine Fußstapfen?

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Weltbildende Rede

Licht aus Licht. Schöpfung aus Chaos. Leben aus Tod. Freude aus Trauer. Hoffnung aus Verzweiflung. Friede aus Hass.

All deine Gaben, all deine Liebe, all deine Macht. Alles aus deinem Wort, frisch von deinem Wort, alles Gaben deiner Rede. Wir danken für deine welt-bildende Rede.

Danke auch für unser Reden zurück zu dir, die Rede der Mütter und Väter, die es wagten, in Glauben und Unglauben zu reden, in Vertrauen und Misstrauen, in dankbarem Gedenken und in höchstem Schmerz. Wir genießen diese Rede so, wie wir deiner vertrauen.

Höre heute auf das Seufzen und Sehnen deiner Welt, höre auf unsere Lieder der Freude wie auch auf unser Geplagtsein vom Tod und mitten hinein in unser Gestammel sprich dein klares Wort des Lebens

im Namen deines Wortes, das Fleisch geworden ist.

Amen.

Walter Brueggemann nach Psalm 19 (hier gefunden)

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Unreine Gedanken

Neulich habe ich John D. Caputos Selbstvorstellung gelesen und bin dabei auf eine interessante Formulierung gestoßen:

John D. Caputo is a hybrid philosopher/theologian intent on producing impure thoughts, thoughts which circulate between philosophy and theology, short-circuits which deny fixed and rigorous boundaries between philosophy and theology.

Als Grenzgänger zwischen zwei Disziplinen, in diesem Fall Theologie und postmoderner Philosophie, vermischt er die Perspektiven und produziert „unreine“ Gedanken, die in beiden Lagern Anstoß erregen. Vermutlich ist das Beharren auf „Reinheit“ unter manchen Theologen deutlich stärker ausgeprägt als in der Philosophenszene.

Freilich sind es immer die Ränder, die Schnittstellen, und die offenen Türen von denen her frischer Wind in die stickigen Stuben weht.

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Mehr Dekonstruktion, bitte!

Diese Woche lieferte wieder einmal großartigen Anschauungsunterricht: Silvio Berlusconi wurde in letzter Instanz verurteilt und versucht nun, die Folgen des Schuldspruchs dadurch zu begrenzen, dass er sich – wieder mal – als Opfer der bösen roten Justiz auspielt. Sein Medienimperium und die politischen Kräfte, die auf sein Wohlwollen angewiesen sind, spielen das Schmierentheater mit. Alle anderen hoffen, dass seine Strategie nicht aufgeht, aber sicher sein kann man sich da nicht.

Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion hat zusammen mit seinem berühmten Satz, dass es nichts außerhalb des Textes gebe, unter anderem auch den in seine „objektiven“ Gewissheiten verliebten modernistischen Flügel der Christenheit dadurch erschreckt, dass er darauf hinweist, dass wir gar nicht anders können, als Erfahrungen, Ereignisse und Gegenstände immer schon zu interpretieren, meist so unbewusst, weshalb wir unsere Interpretation dann auch oft für selbstverständlich und objektiv halten. Dass Berlusconi tatsächlich glaubt, was er sagt, lässt sich nicht völlig ausschließen. Gerade bei Machtmenschen ist das häufig anzutreffen, dass sie keine anderen Interpretationen der Wirklichkeit als die eigene gelten lassen, ja für möglich halten.

Statt in den oft befürchteten grenzenlosen Relativismus zu führen, hat richtig verstandene Dekonstruktion etwas Befreiendes, schreibt James K.A. Smith in Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church:

Wenn die Dekonstruktion anerkennt, dass alles Interpretation ist, eröffnet das einen Raum, wo man Fragen stellen kann – einen Raum, in dem die herkömmlichen und vorherrschenden Interpretationen hinterfragt werden, die oft den Anspruch erheben, gar keine Interpretationen zu sein. Dekonstruktion also solche interessiert sich für Interpretationen, die marginalisiert und ausgegrenzt wurden, und sie aktiviert Stimmen, die verstummt waren. Das ist der konstruktive, ja prophetische Aspekt von Derridas Dekonstruktion. (S. 51)

Dass das Evangelium „nur“ eine Interpretation der Ereignisse um Jesus von Nazareth ist, neben der es schon immer auch andere gab, wussten Christen schon immer. Es ist die Kehrseite der Aussage, dass alles Glauben und Verstehen Gnade ist. Dass es eine unauflösliche Vielfalt an Interpretationen gibt, bedeutet auch nicht, dass alle gleich wahr wären – auch das wird Derrida ja gelegentlich unterstellt – oder dass die Frage nach der Wahrheit sinnlos wäre. Wo man aber die eigene Interpretation für die „objektive Wirklichkeit“ hält, wird es selbst in einer pluralistischen Gesellschaft ganz schnell übergriffig.

Renold Blank hat den Sachverhalt griffig dargestellt (vgl. die Grafik unten): Je nach Prätext (der konkreten, situativ bedingen Absicht einer Aussage) und Kontext (dem Zusammenhang, aus dem heraus ein Text zu verstehen ist) können sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben. Bei Berlusconi etwa ist der Prätext die Sicherung von Macht und Einfluss, der Kontext ist Korruption sowie das tiefe Misstrauen und die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der politischen Klasse und dem Staat.

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Der Cavaliere mit dem gefärbten Haar möchte seiner frisierten Wirklichkeit nun durch Proteste auf den Straßen Geltung verschaffen. Dass sich hier ausgerechnet ein Milliardär eine Art Robin-Hood-Image verpasst und dem angeblich gierigen Staat im Namen der Freiheit trotzt, indem er Steuern hinterzieht und Richter besticht, zeigt schon, wie sehr der jeweilige Kontext die Interpretation des Textes (hier: des Gerichtsurteils) bestimmt. So wie der römische Kaiser (und heute der US-Präsident) sich zum Friedensbringer stilisieren ließ, während er zugleich einen gewaltigen Militärapparat befehligte.

Auch Blank weist auf den prophetischen Aspekt authentischer Offenbarung hin. Dabei geht prophetische Kritik immer zuerst nach innen und erst dann nach außen; das Evangelium dekonstruiert also auch die kirchlichen Verhältnisse (und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche einzelner Theologien und Richtungen), um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solche Stimmen täten momentan nicht nur in Italien gut.

Smith schreibt über eine „dekonstruktive“ Kirche:

… sie hat einen Sinn fürs Traditionelle, nichtsdestoweniger zeichnet sie sich durch eine Vielfalt aus und ein globales Interesse, das den Status Quo über den Haufen wirft. Die dekonstruktive Kirche hält an der Tradition fest, aber nicht am Traditionalismus des Status Quo. Sie ist eine Gemeinschaft der Interpretation, die unterdrückte Lesarten schätzt – großteils auch deshalb, weil das Evangelium selbst eine Interpretation des Menschseins ist, die von der säkularen Moderne ins Abseits gedrängt wurde. (S. 57f.)

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Pausenbild (1)

Die Vegetation ist schon ziemlich verbrannt und die Luft flimmert in der Mittagshitze. Denken fällt schwer, Schreiben noch mehr. Besser haben es da schon die Bootsbesitzer, vor allem bei dem Alpenpanorama im Hintergrund. Also gibt es heute ein Bild statt Text.

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Achsenzucken, oder: Wer bin ich, und wenn ja, wie oft?

Menschliche Identität wird in den verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedlich empfunden, schreibt James Hollis in The Middle Passage. Es ist vielleicht ganz hilfreich, sich das hin und wieder ins Gedächtnis zu rufen:

Als Kind erlebt sich das Ego als abhängig von der Welt seiner Eltern. Nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch. Das Kind identifiziert sich mit seiner Familie. Viele Kulturen haben Mythen und Rituale, die den Abschied aus der Kindesalter und die Verbindung in die weitere Welt begleiten.

Ohne solche Riten erleben viele die Pubertät als verwirrend und destabilisierend. Hollis nennt die Zeit zwischen 12 und 40 Jahren das „erste Erwachsenenalter“. Der heranwachsende Mensch versucht, die „Großen“ nachzuahmen. Die Abhängigkeit des Kindes tritt zurück, beziehungsweise wird sie auf die kollektiv geprägten Rollen des Erwachsenen projiziert: Karriere, Partnerschaft und Elternrolle (und natürlich der „gute Christ“ mit dem „richtigen“ Glauben) verheißen Halt und Sicherheit und dämmen die gelegentlich auftretende Angst ein. Und doch ist dies erst eine recht oberflächliche, schablonenhafte und damit auch vorläufige Identität.

Erst im Übergang zum zweiten Erwachsenenalter brechen die Projektionen zusammen. Die Rollen, die man sich ausgesucht hat, führen keineswegs automatisch zum erfüllten Leben. Enttäuschung und Ernüchterung sind die Folge, der Sinn des eigenen Tuns und Daseins verflüchtigt sich, die Antworten anderer Menschen passen nicht mehr zu den eigenen Fragen. Manche flüchten sich dann in Elternkomplexe und unter den Schirm einer fremden Autorität und die Entwicklung der Persönlichkeit kommt zum Stillstand. Andere stellen sich der neuen Verantwortung, die aus dem Sterben des Egos und erwächst, und fangen an, bewusster und klarer zu leben. Für die entscheidenden Fragen im Leben taugen geborgte Antworten nichts. Die gute Nachricht, schreibt Hollis, die aus dem Tod des ersten Erwachsenenalters folgt, ist dass man sein Leben zurückbekommt.

Die vierte Identität schließlich hat mit dem Bewusstsein der Sterblichkeit zu tun.

Hollis ordnet jeder diese Lebensphasen eine Achse zu: Für die Kindheit ist es die Eltern/Kind-Beziehung. Das erste Erwachsenenalter dreht sich um die Achse zwischen Ego und der äußeren Welt, in der es sich behauptet und einrichtet. Immer, wenn die Achse sich ändert, gerät die bisherige Identität notwendigerweise ins Wanken: Im zweiten Erwachsenenalter bekommt das gedemütigte Ego es mit dem geheimnisvollen Selbst zu tun, das einer größeren Bestimmung folgt als einfach nur zu „funktionieren“, und das der Verstand nie ganz zu fassen bekommt. Die vierte Achse ist die zwischen dem Selbst und Gott: Was ist meine ganz eigene Rolle als vergänglicher Mensch im kosmischen Drama?

Bei aller Konfusion, die diese Übergänge mit sich bringen, ist es doch auch tröstlich, dass wir alle vor der gleichen Aufgabe stehen.

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