Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (1)

Ich habe diese Woche in Berlin ein paar Schlaglichter aus Rodney Starks Buch „The Rise of Christianity“ präsentiert, im Wesentlichen mit der Absicht, dass sie uns als Sehhilfe dienen für unsere Aufgaben heute. Der Länge halber teile ich das auf mehrere Posts auf, hier der erste Teil:

Stark (geb. 1934) ist kein Theologe, sondern Religionssoziologe. Er stammt aus einer lutherischen Familie, hat in Berkeley studiert, wurde dort promoviert und lehrte später Sozialwissenschaften an der Baylor-University. Er ist einer der wichtigsten Vertreter der „Rational Choice“-Theorie religiöser Bekehrung. Vor kurzen hat sein (mit einem gewissen Recht als „revisionistisch“ beschriebenes) Buch über die Kreuzzüge auch in Deutschland Aufsehen erregt.

Im seinem weniger verfänglichen Werk The Rise of Christianity nimmt Stark die Zeit der Alten Kirche unter die Lupe und fragt nach den Ursachen für deren bemerkenswertes Wachstum. Er beginnt mit einer experimentellen Rechnung: Bei einer vorsichtig geschätzten Ausgangszahl von 1.000 Christen im Jahr 40 ergäbe sich mit einer kontinuierlichen Wachstumsrate von 40% pro Jahrzehnt eine Zahl von

  • 7.530 Christen für das Jahr 100 (0,0126% der Gesamtbevölkerung),
  • 217.795 (0,36%) für das Jahr 200,
  • 6.3 Millionen für das Jahr 300 (10,5%) und
  • 33 Millionen (56,5%) für das Jahr 350.

Danach war ein solches Wachstum auch praktisch nicht mehr möglich. Man kenne, so Stark, ähnliche Wachstumsraten von religiösen Gruppierungen im 20. Jahrhundert. Das sind aber, wohlgemerkt, rein hypothetische Zahlen. Eine Art Plausibilitätsrechnung. Andererseits auch ganz befreiend, dass ein eher konstant-gemächliches Tempo im Vordergrund steht, hin und wieder wurden da ja schon ganz andere Kurven von Gemeindewachstum als Ziel ausgegeben.

Stark hält ein konstantes Wachstum für wesentlich plausibler als spontane und wundersame Massenbekehrungen, von denen außerdem keine Berichte existieren. Zudem zeigen diese Projektionen, dass die in ihrer Wirkung heftig diskutierte konstantinische Wende eher eine Folge des exponentiellen Wachstums der Christenheit war als deren Ursache: Der christliche Glaube war im 4. Jahrhundert längst auf dem Weg zum Massenphänomen. Der Kaiser sprang auf den fahrenden Zug auf, er schob ihn nicht an.

Was dieses Wachstum im Einzelnen beförderte, dazu demnächst mehr.

Share

Ein junges Evangelium

Passend zu manchen Diskussionen der letzten Wochen und Monate stieß ich heute auf diese Präsentation zur Frage, wie die derzeit umlaufenden Versionen des Evangeliums auf junge Erwachsene wirken und was ihr Interesse wieder wecken könnte – danke an Krish Kandiah für den Hinweis!

Share

Weisheit der Woche: Fühlen können

Es gibt wenige Vorbilder in unserer Kultur, die einen Mann dazu einladen oder es ihm zugestehen, ehrlich zu sich selbst zu sein. Fragt man ihn, wie er sich fühlt, dann wird ein Mann oft erklären, was er denkt oder was das Problem „da draußen“ ist. […] es erfordert ein Jahr Therapie, bis er seine tatsächlichen Gefühle verinnerlicht und präsent hat – ein Jahr, um dorthin zu gelangen, wo Frauen in der Regel anfangen.

Der Psychoanalytiker James Hollis in dem wunderbaren kleinen Buch The Middle Passage

Share

Evangelisation: Darf’s ein bisschen mehr sein?

Der „Runde Tisch Evangelisation“ in Berlin ging gestern zu Ende mit einer Betrachtung von Erhard Michel zu Jesaja 49,6. Dort heißt es:

Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.

Die Diskussionen vom Vorabend gingen mir noch im Kopf herum, wo das traditionell evangelikale Verständnis von Evangelisation auf den Gedanken der Gesellschaftstransformation (ich würde ja lieber von integraler Mission sprechen) getroffen war, als Erhard im Blick auf das Jesajawort vom „ganzen Schalom Gottes“ sprach und damit den eschatologischen Horizont des Propheten benannte.

Und genau hier liegt für mich der Angelpunkt, auf den die unterschiedlichen Ansätze bezogen werden müssen. Das herkömmliche Verständnis von „Evangelisation“ hat damit zu tun, „Seelen“ für den „Himmel“ zu gewinnen. Der theologische Bogen reicht vom Sündenfall bis zur jenseitigen Heimat, in die der einzelne aufgenommen wird, sofern er zustimmend auf die Predigt des Evangeliums antwortet. Evangelisation ist daher die Erläuterung des Heilsweges und der dringende Appell, ihn zu wählen. Wenn jemand den Weg in den Himmel einschlägt, indem er glaubt, ist das Ziel erreicht. Alles andere wird tendenziell als Hilfsdienst betrachtet, wenn es also „funktioniert“ und sofern die evangelistische Pflicht erfüllt ist (bzw. eben leichter von der Hand geht), kann man sich gern an die Kür machen. Alles soziale oder gar politische Handeln jedoch steht permanent unter dem tiefsitzenden Verdacht, das „Eigentliche“ könne darüber vergessen oder vernachlässigt werden. Dann geht es Menschen vielleicht vorübergehend besser, aber sie verpassen womöglich doch das ewige Ziel, und dann wäre aller Aufwand vergeblich. Johannes Reimer hat das gestern morgen sinngemäß so kommentiert, dass man auf die Rettung einzelner „aus der Welt“ bedacht ist, aber die Welt (bzw. die vielfältigen Lebenswelten, die Heinzpeter Hempelmann zuvor schon klug analysiert hatte) weitgehend sich selbst überlässt. Dieser Rückzug war theologisch vielleicht noch nachvollziehbar in den Wirren der Völkerwanderung (Augustinus) oder unter einem Monarchen, den von Gottes Gnaden regierte (Luther), passt aber nicht mehr in die offene Bürgergesellschaft. Allerdings: Aufgrund dieser Eschatologie, der Vorstellungen vom Ziel und Ende der Welt, ist die enge Definition von Evangelisation ganz logisch. Ein innergeschichtlicher Kampf für Gerechtigkeit ist vielleicht heroisch, aber nicht eigentlich nötig. Es sichert ja niemandem einen rettenden Platz im Himmel, denn der wird nach anderen Kriterien vergeben, und alles Diesseitige verliert demgegenüber an Bedeutung.

Wenn man allerdings wie etwa Jürgen Moltmann, Tom Wright und viele andere eine Eschatologie zugrunde legt, in der wie bei Jesaja das universale Heil für die ganze Schöpfung, die Neuschöpfung aller Dinge, also die zukünftige Verwandlung und Heilung der Welt der Fluchtpunkt göttlichen Wirkens in der Welt ist, dann ist all das Soziale nicht einfach Beiwerk, sondern schon eine konkrete Vorwegnahme dieses erwarteten und erhofften Zustands umfassender Gerechtigkeit, es ist zugleich ein theopolitischer Aufstand gegen all unsere korrupten Formen von Macht, all unsere destruktiven Verstrickungen in Hass (und sei er noch so subtil), Lüge oder Gier. Es ist eine Demonstration des Reiches Gottes, ohne die jede Wortverkündigung entleert wäre und unvollständig bliebe und sich dem Verdacht einer billigen Vertröstung aussetzen würde. Was im traditionellen Paradigma als „Evangelisation“ erscheint, wäre dann der Aufruf und das Angebot, sich dieser Bewegung Gottes in der Welt (die im Übrigen nicht unbedingt nur Christen umfassen muss) anzuschließen. Wer sich gewinnen lässt, für den beginnt damit ein sehr konkretes Ringen um eine tiefe Umgestaltung, eine unablässige Konfrontation mit allen inneren und äußeren Kräften der Zerstörung, eine Hinwendung zu anderen Menschen, ein Mitleiden mit der geschundenen Kreatur und zugleich das dankbare und ausgelassene Feiern all der Vorboten des zweiten Frühlings unserer Welt und Gottes barmherziger Gegenwart mitten in ihr. Wie könnte so jemand schweigen oder sprachlos bleiben, wenn er nach dem Grund seiner Hoffnung gefragt wird?

Insofern handelt es sich für mich auch nicht um zwei Sichtweisen, die gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander stehen oder um theologische Geschmacksfragen. Das „alte“ Paradigma (das eigentlich das jüngere ist) ist eine theologische Verkürzung und praktische Verengung dessen, was uns die Propheten, Jesus und die Apostel an Hoffnung mitgegeben haben und worauf der Geist Gottes mitten in der Geschichte dieser Welt hinwirkt. Während der messianisch-missionale Ansatz (neue Kombination von Attributen, aber ich finde sie ganz apart) alle wesentlichen Elemente das bisherigen in sein Koordinatensystem aufnehmen kann, ist das umgekehrt kaum zu schaffen. Unglücklicherweise befinden sich viele Vertreter des traditionellen Evangelisationsparadigmas historisch bedingt in einer Frontstellung gegen die Aufklärung, die Reich Gottes und zivilisatorischen Fortschritt durch pädagogische Vernunft und guten Willen in eins setzte bzw. den Fortschritt und die reine Immanenz vorzog. Das führt häufig zu verzerrten Wahrnehmungen und falschen Alternativen – als ob jemand, der Gott auch immanent am Werk sieht, deswegen gleich auch allen Bezug zur Transzendenz aufgegeben hätte. In dieser Frontstellung hat man zu Recht Kritik an der rationalistisch-pragmatischen Ausrichtung des Modernismus geübt, de facto aber auch dessen dualistisches Denken und die Reduktion des Glaubens auf das Jenseitige, Private, Innerliche und Apolitische stillschweigend übernommen.

Aber das ist eben einfach zu wenig: Wir müssen das wieder integrieren, was frühere Generationen abgespalten haben, statt es weiter misszuverstehen und zu bekämpfen. Das muss man gut und umsichtig tun, aber eben auch ohne sich einschüchtern zu lassen, wenn einem mal eben wieder Verrat am Evangelium oder (und das wäre in den Augen derer, die es sagen, dasselbe) ein Flirt mit Positionen des Weltkirchenrates unterstellt wird. Nun ist die Lausanner Bewegung im Grunde ja auf einem solchen Weg: 1974 stellte man das soziale Handeln ergänzend und eher lose neben die Evangelisation, in Kapstadt 2010 war dieses Nebeneinander und das Ringen um eine theologische Integration der verschiedenen Flügel wieder deutlich spürbar und das von Chris Wright geprägte Abschlussdokument sagt es unter anderem so:

The Church exists to worship and glorify God for all eternity and to participate in the transforming mission of God within history. Our mission is wholly derived from God’s mission, addresses the whole of God’s creation, and is grounded at its centre in the redeeming victory of the cross. This is the people to whom we belong, whose faith we confess and whose mission we share.

Der Ansatz ist also da. Was machen wir nun daraus? Andrew Perriman hat die Aufgabe jüngst so formuliert, und ich lasse das als Schlusswort im Raum stehen:

It seems to me that the church in the West today needs to recover something of that eschatological urgency and ambition. A sound biblical theology should do more than provide structure, shape and stability. It should generate the narrative by which we make sense of our place in the scheme of things—not somewhere vaguely between creation and new creation but here in the twenty-first century, as we struggle to justify our existence in the face of an all-powerful, all-meaningful, all-consuming secular materialism.

Share

Grenzwertige Arbeitsethik

Ich bin auf dem Weg nach Berlin und der ICE erreicht die bayerisch-thüringische Grenze. Hinter mir sitzt der kleine Lukas mit seinem Papa und unterhält lautstark den Ruhebereich des Zuges. Er bekommt gerade erklärt, dass Deutschland nach dem Krieg geteilt war und dass hier die scharf bewachte Grenze verlief. Wenn jemand versuchte, sie zu überwinden, wurde er von den Wachsoldaten beschossen. 1989 dann, sagt der Papa, wurde die Grenze geöffnet und schließlich die deutsche Teilung aufgehoben.

Daraufhin fragt Lukas: „Wo sind die, die geschossen haben?“ Und der Vater antwortet: „Die haben nur ihre Arbeit gemacht“.

Hat er tatsächlich so gesagt.

Share

Unverdient, aber nicht bedingungslos?

Daniel Rushing hat auf academia.edu ein interessantes Paper über die neue Paulusperspektive (Stendahl, Sanders, Dunn, Wright etc.) veröffentlicht. Darin greift er unter anderem auch ein paar Auszüge aus dem mehr als tausendseitigen Wälzer The Deliverance of God: An Apocalyptic Rereading of Justification in Paul von Douglas Campbell auf.

Demnach verfährt die klassische Paulusauslegung (liberal wie konservativ, sagt Rushing) nach folgendem Muster:

  • Sie geht von einem Gegensatz gerettet (bzw. gerechtfertigt) und unerlöst bzw. nicht gerechtfertigt aus, wobei für den Übergang von letzterem zu ersterem der Blick ins eigene Innere entscheidend ist
  • Sie setzt ein rationales Individuum mit Eigeninteresse voraus, das von Gottes Existenz durch die Stimme des Gewissens und den Anblick der Schöpfung überzeugt ist
  • Gott erscheint als kosmischer Gesetzgeber und moralischer Richter, der die Schuldigen bestraft und die Gerechten belohnt.
  • Das Ziel des Individuums muss als also sein, gerecht zu werden, um der Strafe und entgehen und den Lohn zu empfangen
  • Hier (mit der Introspektive) beginnt der „Zyklus der Verzweiflung“ – Luthers bohrende Frage nach dem gnädigen Gott: Jeder Versuch, gerecht zu werden, ist zum Scheitern verurteilt
  • Alternativ gibt es den Narrenzyklus: Menschen ignorieren das Urteil ihres Gewissens und machen sich selbst etwas vor, statt den wahren Ernst ihrer Lage anzuerkennen
  • Neben diesen beiden Zyklen gibt es zwei „Kontrakte“: Der eine verfügt, dass Gott Sünde unbedingt strafen muss, der andere legt fest, dass durch Christus Menschen aus dem Zyklus der Verzweiflung entkommen können.
  • Indem Gott Jesus straft, erfüllt er den ersten „Kontrakt“ und ermöglicht den zweiten: An Jesus erfüllt sich Gottes Zorn gegen Sünde und Sünder, zugleich verleiht er denen seine vollkommene Gerechtigkeit, die glauben.

Campbell formuliert abschließend:

Gnade bezeichnet in dieser Lesart der Rechtfertigung: Gottes unverdiente Großzügigkeit, die sich in der Rettung allein durch Glauben erweist; sie ist nicht mehr als das und auch nicht weniger. Sie ist eher „unverdient“ als „bedingungslos“ (an dieser Stelle fragt man sich freilich, ob es sich wirklich in dem Sinne um „Gnade“ handelt, wie die Bezeichnung normalerweise theologisch verwendet wird). Allerdings werden erlöste Individuen darauf dennoch mit einer gewissen Freude, Frieden und Dankbarkeit reagieren. Schließlich ist ihnen die tödliche Last der Sorge abgenommen. So können die Themen der fröhlichen oder umkämpften Empfänglichkeit, des Friedens und der Dankbarkeit, die in den Texten des Paulus anklingen, mit dem Modell an passender Stelle verknüpft werden.

Der ganze Gedankengang ist jetzt leider doppelt verkürzt, weil ich Rushings Zusammenfassung hier nochmal knapp wiedergebe. Es mag also sein, dass sich das im Original noch viel differenzierter anhört. Trotzdem würde ich sagen, so oder doch ganz ähnlich habe ich das auch viele Male präsentiert bekommen.

Share

Weisheit der Woche: Die „freie“ Gesellschaft

Wo sind Public Relations erfunden worden? In den freiesten Gesellschaften der Welt, in Amerika und England. Und warum? Weil es in freien Ländern schwierig ist, die Bürger über direkte Machtausübung zu kontrollieren. Sie müssen sie anders kontrollieren: Sie müssen ihre Meinungen beeinflussen, ihre Anschauungen und Haltungen. In freien Gesellschaften geht es darum, die Köpfe zu reglementieren. So wie die Armee die Körper der Soldaten reglementiert.

Noam Chomsky im Interview mit Zeit Online

Share

Der Jona-Komplex (2)

DSC01087.jpgAn Bord des in Seenot geratenen Schiffes überschlagen sich bald die Ereignisse. Der Kapitän rüffelt Jona, weil der nicht wie alle anderen seinen Gott um Rettung anfleht: praktischer Atheismus beim verstockten Propheten, bei den Seeleuten dagegen lebendige Religiosität, die sich sogar dem Urteil Gottes zu stellen bereit ist. Und Jahwe redet zu den Heiden auf ihre (!) Weise, indem er das Los auf Jona fallen lässt, und damit „seinen“ Mann verpetzt. Selbst jetzt müssen die Einzelheiten Jona noch zeitraubend aus der Nase gezogen werden – wer gibt schon freiwillig zu, dass er die ganze Mannschaft ins Unglück gestürzt hat. Immerhin räumt er bei der Gelegenheit ein, dass sein Gott nicht nur Himmel und Erde, sondern auch das Meer gemacht hat – wieder ein Beispiel dafür, dass theoretisches Wissen bei Jona ohne jeden Bezug zu seinen existenziellen Entscheidungen bleibt.

Alle Insassen dieses Schiffs treffen sich in der Logik von Schuld und Strafe: Der Sturm muss mit dem Fehlverhalten eines der Anwesenden zu tun haben. Diese Logik existiert nicht nur in den heidnischen Kulten (die vorchristlichen Wikinger opferten vor tausend Jahren neben Tieren auch noch Sklaven), sondern auch im Judentum, auch da nimmt Gott Israel in „Sippenhaft“ für Vergehen einzelner. Allerdings wird dieses Denken in der Bibel auch deutlich kritisiert, und das Buch Jona scheint mir Teil dieser Selbstkritik zu sein. Und so muss Gott gar nicht explizit fordern, dass man ihm Jona ausliefert – niemand hier kann sich etwas anderes vorstellen, und Jona spricht es aus. Ist das nun prophetische Inspiration oder allzu menschliche Resignation?

Die Idee, dass Gott Gruppen und ganze Gesellschaften in „Sippenhaft“ nehmen und pauschal strafen könnte, für Dinge, die ihn stören, hält sich auch heute leider noch in manchen christlichen Milieus. Da wird dann auch mal schnell die nächstbeste Katastrophe als Gottes Strafgericht ausgegeben oder eine Minderheit zum Sündenbock gemacht.

Doch ungeachtet der Tatsache, dass Jona gerade dabei ist, sie mutwillig um ihren Besitz und vielleicht auch ihr Leben zu bringen, versuchen die Seeleute erneut, mit letzter Kraft das rettende Ufer zu erreichen. Erst als das selbstlose Unterfangen scheitert, wird Jona aufgegeben – jedoch nicht ohne die Bitte an Gott, ihnen dieses zwiespältige „Opfer“ nicht nachzutragen. Am Ende dieses ersten Kapitels haben wir einen Gottesmann, der total versagt und nur um Haaresbreite dem Untergang entgeht, und eine durch und durch gottesfürchtige Schiffsbesatzung, die Gott für fairer und barmherziger hält als Jona, der es wissen müsste. Immerhin: Auch so kann „Mission“ gelingen…

Die Ironie des Ganzen lautet: Jonas Präferenz für einen unbarmherzigen Gott befördert ihn ins Wasser, wo er der Barmherzigkeit Gottes in Gestalt eines mächtigen Fischs begegnet. Wird ihn das verändern? Wenigstens zeitweise sieht es danach aus…

Dennoch schimmert schon hier in diesem plakativen Kontrast eine andere Hoffnung durch, die Hoffnung auf Gottes Reich. Ich habe neulich schon den Beitrag von Klaus Mertes auf Zeit Online zitiert. Er schreibt dort gegen Ende, wie gerade der Tod Jesu die Logik von Leistung, Rache, unentrinnbar bösen Tatfolgen und strafender Gewalt außer Kraft setzt:

Die Praxis Jesu weist einen Weg, wie die durch Gewalt beschädigten Vertrauensressourcen unter Menschen und Völkern wieder neu zum Sprudeln gebracht werden können. Dabei bedeutet „Reich Gottes“ nicht einfach die Wiederherstellung eines ursprünglich heilen, paradiesischen Zustandes der Gewaltlosigkeit. Vielmehr geht die Perspektive nach vorn: Im Reich Gottes werden Menschen und Völker, die zueinander kein Vertrauen mehr aufbringen können und sich deswegen in der Spirale gegenseitiger Gewalt verstrickt haben, versöhnt

… Das Evangelium schlägt als Alternative zur Gewalt den Weg der Gewaltlosigkeit vor: Sie meint aber gerade nicht Resignation gegenüber der Gewalt, sondern Widerstand gegen sie. Man kann die „Leistung“ Jesu am Kreuz so beschreiben: Dem Misstrauen und der Gewalt, die auf ihn prallen, gelingt es nicht, sein Vertrauen zu besiegen. Sein Tod ist kein äußerliches Opfer, sondern versöhnende Hingabe des Lebens, weil er bis zum Schluss aus Vertrauen lebt. Gott ist vertrauend.

Share

Sola Gratia. Echt jetzt?

IMG_0674.JPGHeute las ich bei einem Autor, der sich selbst als evangelikal einstuft, etwas über die katholische Kirche. Nichts unfreundliches, aber pro-forma-Kritik musste anscheinend doch sein, um dem Leser ausreichende Distanz zu beweisen. Also stand da unter anderem, Katholiken neigten zur „Werkgerechtigkeit“ – seit 500 Jahren der Standardvorwurf. Wie oft er inzwischen überprüft wurde oder ob sich hier ein identitätsstiftendes Sprachritual verselbständigt hat, ließ sich schwer beurteilen. Aus eigener Erfahrung könnte ich das so nicht verifizieren.

Merkwürdig ist es allemal. Denn Leistungsfrömmigkeit (und nichts anderes wäre die beklagte „Werkgerechtigkeit“ ja) ist im evangelikalen Bereich mindestens so lebendig wie unter den römischen Geschwistern. Ein typischer Fall von Splitter/Balken? Testen lässt sich das ganz leicht, wenn man (wie hier verschiedentlich geschehen) über das Thema Himmel und Hölle spricht. Gegen als zu inklusiv und universal empfundene Vorstellungen von Gottes Gnade erscheint dann reflexartig (und das kann ich nun durchaus aus eigener Erfahrung verifizieren…) der Einwand, dass man sich ja dann vielleicht ganz umsonst Mühe gebe und auf manches verzichte, wenn da am Ende (fast) alle „rein dürfen“, und überhaupt gehe so aller moralischer und geistlicher Ernst verloren. Man meint dann fast schon die FDP mit ihrem „Leistung muss sich wieder lohnen“ zu hören. Vielleicht ist die katholische Neigung eher die, für gutes Verhalten einen Lohn zu bekommen, während die protestantische Variante oder Versuchung die ist, auf einer knackigen Strafe für uneinsichtiges Fehlverhalten zu bestehen – die deutlich unsympathischere Form eines analogen Fehlers.

Vielleicht ist das ja ein großer Nutzen dieser Debatte: Nimm die Hölle weg – und das sonst so gut getarnte fromme Leistungsdenken geht auf die Barrikaden. Letzten Endes klagt es, so scheint mir, Gott selbst so an wie der ältere Bruder des verlorenen Sohns. Als geistliche Übung wäre diese Umkehrung von John Lennons „Imagine there’s no heaven“ auf jeden Fall ein Volltreffer – so wie Ignatius von Loyola das Gegenteil, nämlich die imaginäre Höllenfahrt, wegen des therapeutischen Effekts in seine Übungen aufnahm.

Also: Ich stelle mir mal rein hypothetisch vor, Gott schafft am Ende doch das Kunststück, keine einzige Menschenseele zu verlieren. Was freut mich daran, was stört mich? Wen möchte ich auf keinen Fall dort haben? Was regt mich an diesen Menschen so auf? Und was sagt das wiederum über meinen Schatten aus, den Teil meiner Persönlichkeit, den ich nur unter allergrößten Schmerzen anerkennen will? Wenn Gott mich liebt, obwohl er das sieht und weiß, kann ich dann auch aufhören, diese Seiten an mir selbst und anderen zu verdammen? Und wäre es dann noch eine Katastrophe, wenn die Hölle am Ende leer wäre?

PS: Der Katholik (!) Hans Urs von Balthasar hat übrigens ganz passend zu diesen Diskussionen geschrieben: „Das Ernsteste, was es gibt, ist nicht die Strafgerechtigkeit Gottes, sondern seine Liebe.“

Share

Der Jona-Komplex (1)

DSC05053Mit dem Buch Jona hat sich eine phantasievolle und freche Erzählung zwischen all die ernsten Prophetentexte der Bibel gemogelt. Historische Details sind Mangelware, stattdessen stehen eher schablonenhafte Kontraste und Klischees im Zentrum der Geschichte, wie sie für Satire und Karikaturen typisch sind. Die Frage, ob das also alles genau so war oder nicht, können wir getrost zurückstellen hinter die Frage, ob und inwiefern es heute so ist. Jona steht hier als Spiegel, als Platzhalter, als Symbolfigur für das Volk Gottes: Nicht die Adressaten von Gottes Botschaft lassen hier Gottes Ruf an sich abprallen, sondern der Bote selber ist verstockt.

Gottes Auftrag scheint Jona aus heiterem Himmel zu treffen, aber Trägheit kann man ihm kaum vorwerfen: Seine plötzliche Panik hat aber nichts mit Angst zu tun – das wäre eine durchaus verständliche Regung gewesen, angesichts der Tatsache, dass er sich allein in die Metropole einer brutalen Großmacht wagen soll. Er bucht eine Schiffspassage in den äußersten Westen der damals bekannten Welt. Sein Motto erscheint zweimal im Text: „Weit weg vom Herrn“. Äußerlich wird damit das nachvollzogen, was innerlich schon der Fall ist: Gott ist Jona lästig geworden, weil der Glaube an ihn irritierende innere Grenzüberschreitungen mit sich bringen würde. Um die Konfrontation mit sich selbst zu vermeiden, ist ihm kein äußerer Weg zu weit, sogar die Angst der palästinischen Landratten vor dem Meer überwindet er.

Jona behandelt „seinen“ Gott, als wäre der eine territoriale Größe – wie die Götter des antiken Pantheons auf bestimmte Bereiche des Lebens begrenzt oder als Stammesgottheit nur ein Garant für das Überleben und die Macht eines bestimmten Volkes. Jeder außer Jona weiß sofort, dass die Rechnung nicht aufgehen kann. Seine Flucht war ungefähr ebenso schlau wie der Versuch des (eigentlich so cleveren) Odysseus, dem Meeresgott Poseidon ausgerechnet auf dem Seeweg zu entwischen. Nur dass Jonas Irrfahrt deutlich kürzer ausfällt und so gar nichts Heldenhaftes an sich hat.

Die weitere Geschichte zeigt: Gott lässt nicht locker. Während sich Ninive im dritten Kapitel scheinbar en passant bekehrt, dreht sich alles um die bis zuletzt offene Frage, ob sich auch der bockige Bote noch ändert. Gott hat hier keinen Plan B, keinen Ersatzmann, den er ins Rennen schickt. Wenn Jona der „Platzhalter“ für das gesamte Gottesvolk ist, dann ist das auch ganz logisch. Jonas Reaktion liest sich wie ein Gleichnis zur Klage Gottes in Jeremia 7,24: „Aber sie wollten nicht hören noch ihre Ohren mir zukehren, sondern wandelten nach ihrem eignen Rat und nach ihrem verstockten und bösen Herzen und kehrten mir den Rücken zu und nicht das Angesicht.“

Also stellt sich gleich zu Beginn der Geschichte die Frage,

  • ob manchmal erst ein „nach außen“ gerichteter Auftrag Gottes Menschen und ganze Glaubensgemeinschaften dazu zwingt, sich mit ihren inneren Widerständen und Vorbehalten ihm gegenüber auseinanderzusetzen
  • welche Funktion wir Gott denn insgeheim zugewiesen haben: Soll er vor allem dafür sorgen, dass die Dinge bleiben, wie sie sind (und wir mit ihnen)?
  • und ob diese Funktionalisierungen aus Gott praktisch einen Götzen machen
  • wie notwendig bestimmte Feindbilder und Klischees über andere sind, um der eigenen Verstocktheit nicht ansichtig zu werden

Erst einmal bricht der Sturm los. In Todesangst werfen die Seeleute ihre Ladung – den Grund der riskanten Reise und jede Aussicht auf Lohn und Gewinn – über Bord. Nur einer auf dem Schiff nimmt keine Notiz von der Gefahr, der Angst und dem Verlust aller anderen. Wenn man das nicht individualpsychologisch deutet, sondern auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft hin – und so dürfte es auch gemeint gewesen sein – dann stellt sich die Frage, wie Kirche innerhalb einer stürmischen See, in der sich unsere Gesellschaft befindet, noch meinen kann, dass sich alle anderen zu ändern hätten, nur nicht sie selbst. Dann wäre das Buch Jona eine Mahnung gegen jede Form des Klerikalismus, ähnlich wie es der Jesuit Klaus Mertes jüngst in Zeit Online formulierte.

Share

Kompromisslos hoffen

dsc02096.jpgAm Ende seines kleinen Diskurses über die Hölle schreibt Hans Urs von Balthasar, man müsse die biblischen Gerichts- und Unheilsworte insofern ernst nehmen, als man darin die große Verantwortung erkennt, die menschliche Freiheit mit sich bringt – die Möglichkeit, sich dauerhaft gegen Gott und das Gute zu immunisieren. Schwierig wird es immer dann, wenn man dem Erschrecken über sich selbst ausweicht und über das Schicksal anderer theoretisiert und spekuliert – für die anderen müssen wir kompromisslos hoffen:

Wer mit der Möglichkeit auch nur eines ewig Verlorenen außer seines selbst rechnet, der kann kaum vorbehaltlos lieben… Schon der leiseste Hintergedanke an eine endgültige Hölle für andere verführt in Augenblicken, wo das menschliche Miteinander besonders schwierig wird, dazu, den anderen sich selbst zu überlassen. Man müsste sich aber [es folgt ein Zitat von Hansjürgen Verweyen] »wirklich vorbehaltlos entscheiden, jeden Menschen in seinem ganzen Wert anzuerkennen und in dieser Bejahung der anderen die eigene endgültige Freude zu suchen. Sieht man die Dinge so, dann bedeutet ein ‚Himmel für alle‘ nicht etwa den Anreiz zur Faulheit im ethischen Engagement, sondern die schwerste Anforderung an alle, die man sich denken kann: den Entscheid für eine Geduld, die grundsätzlich niemand aufgibt, sondern unendlich lange auf den anderen zu warten bereit ist… wenn ich aufgrund der universalen Güte Gottes keinen auf ewig abschreiben darf, dann könnte mein ewiges Unglück gerade darin bestehen, dass ich selbst einfach nicht die Geduld aufbringe, auf die ‚Bekehrung des anderen‘ unendlich lange zu warten.« Und nicht irgendwann dem lieben Gott zu sagen: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ Kann ein Christ dieses Mörderwort in den Mund nehmen? Und welcher Mensch ist nicht mein Bruder?

Share

Gehorsam, Angst und Strafe

Ich habe gerade wieder Hans Urs von Balthasars (ich konnte die Autokorrektur gerade noch daran hindern, hier „Barthaar“ zu schreiben) „Kleinen Diskurs über die Hölle“ vor mir liegen. Balthasar steigt mit der Frage ein, ob die objektive Sicherheit über das Vorhandensein der Hölle nötig sei, um dem Evangelium den nötigen ernst zu verleihen.DSC01522.jpg

Von Balthasar setzt dagegen, dass nicht Gottes Strafgerechtigkeit, sondern gerade seine Liebe den Ernst des Evangeliums begründe. Freilich komme die Hölle als eine „reale Möglichkeit“ in den Blick, freilich finden sich in den Evangelien neben Worten der Hoffnung auch Drohworte. Macht man allerdings aus letzteren die Beschreibung objektiver Fakten, dann nimmt man ersteren damit allen Sinn. Man muss aber, um für sich selbst hoffen zu können, für die ganze Menschheit hoffen dürfen – und nicht etwa umgekehrt. Ein sehr sympathischer Gedanke gegen jede Form des Heilsegoismus.

Ganz passend dazu lese ich eben Folgendes bei Arno Gruen über Gruppen und Gesellschaften die nach dem Gehorsamsprinzip funktionieren (nur bevor jetzt jemand fragt: ein reifes Christentum stellt die Liebe und damit die Empathie über den Gehorsam, aber mache Spielarten christlicher Frömmigkeit trifft der folgende Absatz nur zu gut):

Gehorsam scheint […] zu einem Bedürfnis nach Eindeutigkeit zu führen, was als Kriterium für eine „Verantwortung“ herhält und wiederum ja nur den Autoritäten dient. Diese falschen Verantwortung führt durch die Anpassung an soziale Normen zu persönlicher Kohärenz. Diese Kohärenz aber beruht auf Gehorsam. Sie unterscheidet sich grundlegend von einer Identität, die sich aus eigenen empathischen Wahrnehmungen herleitet, durch die Notwendigkeit, andere Verhaltensweisen bestrafen zu müssen. Denn abweichendes Verhalten bedroht die eigene Anpassung an den Gehorsam, stellt sie infame und macht genau deswegen Angst. Das ist ein – vielleicht sogar der hauptsächliche – Faktor, der die Gewalttätigkeit ideologischer Extremisten auslöst. (Dem Leben entfremdet: Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden, 32f.)

Darüber lohnt es sich eine Weile nachzudenken…

Share

Der Segen des Schiffbruchs

Wracksausen.jpg Ich habe heute angefangen, Arno Gruens Buch Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden zu lesen. Gruen stammt aus Berlin, emigrierte während des Dritten Reichs in die USA und lebt nun in der Schweiz. Er benutzt Ortega y Gassets Metapher vom Schiffbruch, um die existenzielle Situation des Menschen, der sich mit der verunsichernden Frage „Wer bin ich?“ konfrontiert sieht, zu charakterisieren:

Das Leben ist seinem Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein, hießt nicht ertrinken … Das Gefühl des Schiffbruches, da es die Wahrheit des Leben ist, bedeutet schon die Rettung.

Allerdings unternehmen viele Menschen (Goethe wird als Paradebeispiel angeführt) diese Situation zu überspielen und zu verdrängen. Aus dem „Wer bin ich?“ wird ein durch Leistung und gesellschaftliche Anerkennung objektivierbares „Was bin ich?“, die Konfrontation mit sich selbst, die „Erkenntnis des Schmerzes“ und mit ihr die Empathie bleiben aus. Gruen folgert:

Wer ein anderes als sein eigenes Leben lebt, wer nicht mit der Wahrheit des Schiffbrüchigseins verbunden ist, fälscht sein Selbst, um sich abstrakt rechtfertigen zu können und zementiert sein Leben, dessen Grundfrage ebenso gefälscht ist. Wer sein Leben nicht lebt, fälscht es unbewusst, weil Schmerz, Leid und Schiffbruch in unserer Kultur mit Schwachsein gleichgesetzt werden. (S. 16)

Mich erinnert das noch ganz frisch an ein Gespräch in den letzten Tagen, in dem mir mein Gegenüber erzählte, wie ein ganz massiv auf Anpassung an äußere Normen angelegtes Christentum zwar lange half, seinen Schmerz irgendwie zu beherrschen, aber auf Kosten einer solchen Fälschung. Nun ist er aufgewacht zu diesem befreienden Lebensgefühl des Schiffbruchs, das auch eine gewisse schmerzhafte Heimatlosigkeit mit sich bringt. Das ist die positive Seite.

Es erinnert mich im Negativen auch an Jona, dessen Story mich die letzten Wochen begleitet hat. Der erscheint als komplett unfähig zu jeder Art von Empathie. Gott hält ihm das am Ende auch drastisch vor. Der zwischenzeitliche „Schiffbruch“ ändert das nur kurzzeitig – kaum hat er nämlich wieder physisch festen Boden unter den Füßen, funktioniert das alte Muster krankhafter Objektivierung wieder: Alles, was ihn interessiert, ist dass das Schema in seinem Kopf auch umgesetzt wird, indem die angekündigte Katastrophe eintrifft. Selbst Gott scheint kaum noch ein Gegenüber zu sein, das zu ihm durchdringt, sondern nur noch eine Art Prinzip. Wahrscheinlich liegt es daran, dass bei Jona keinerlei innere Entwicklung stattfindet. Sicher eine Karikatur, aber eine erschreckend aktuelle.

Share

Wie gut tut Wut?

Morgen werde ich über den Schluss der Jonageschichte predigen. Das Buch fällt völlig aus dem Rahmen der alttestamentlichen Prophetie, weil es eine Lehrerzählung ist und keine Sammlung von Prophetenworten. Jona ist nicht die einzige Gestalt, die in der Bibel mit Gott hadert, aber vermutlich die Absurdeste. Sogar Bileam kommt besser weg. Freilich ist alles karikiert: Der bockige Bote ist für Gott der harte Brocken, das vermeintlich so böse und große Ninive dagegen erweist sich als unglaublich harmlos.

Gottes entscheidende Frage an Jona (und der steht natürlich gleichnishaft für viele) lautet in dieser Geschichte jedoch: „Ist es recht von Dir, zornig zu sein?“ Jona gibt keine Antwort, und als Leser muss ich mich dieser Frage wohl auch stellen: Worüber rege ich mich denn gerade wirklich auf und wem nützt das überhaupt?

Vor ein paar Jahren habe ich den folgenden Text geschrieben – ich hänge ihn mit ein paar Änderungen hier einfach mal an:

Ich bin vom Typ her jemand, der gerne lacht, öfter mal melancholisch ist, selten wirklich traurig und niedergeschlagen. Ab und zu werde ich wütend. Damit bin ich in guter Gesellschaft. Für immer mehr Menschen scheint es die beherrschende Grundstimmung zu sein. Inzwischen treibt auch bei uns der unbeherrschte Zorn an den Schulen gewalttätige Blüten, die man vor kurzem nur in Amerika für denkbar hielt. Apropos Schule: Mein Zorn ist natürlich immer nur gerechter Zorn. So wie vor ein paar Jahren, als eines unserer Kinder vom Personal seiner Schule unfair oder wenigstens sehr ungeschickt behandelt wurde. Ich bat als besorgter Vater bei der Schulleitung um einen Gesprächstermin, nannte sachlich den Grund und bekam dann zu hören: „Ich sitze doch nicht hier herum und warte darauf, dass jemand mit mir reden will.“

Ich war im Bruchteil einer Sekunde von Null (ok: Siebzig) auf Hundertachtzig. Zorn ist im ersten Augenblick ein natürlicher und gesunder Impuls – ein Alarmsignal auf drohende Gefahr oder wenn ich verletzt werde. Der Affekt hat allerdings die Tendenz, sich (mit moralischen Urteilen zementiert) als Haltung festzusetzen und eine dauerhafte Quelle von Aggression zu werden, und genau da liegt das Problem, für das ich die Verantwortung trage: Zorn will verletzen und verletzt meistens auch schon allein dadurch, dass wir ihn mit entsprechender nonverbaler „Begleitmusik“ äußern. Daher sagt Paulus wohl auch in Eph 5,26: „Wenn ihr zornig seid, sündigt nicht“ – es passiert eben so schnell.

Benjamin Franklin hat einmal festgestellt: „Wir sind nie grundlos zornig, aber selten aus einem guten Grund.“ Zorn macht süchtig und ist ansteckend. Durch die Wucht der Aggression fühlt man sich plötzlich stark. Zorn nährt sich aus inneren, selbstgerechten Monologen unseres verletzten Egos. Solche sich selbst verstärkenden, negativen Gedankengänge haben insofern etwas „teuflisches“ (Eph. 5,27 ), als dieser in der Bibel eben als der Ankläger erscheint. Wir „geben ihm Raum“, indem wir uns in Vorwürfe gegen andere hineinsteigern und oft genug versäumen, das eigene Urteil, das dem Zorn zugrunde liegt, kritisch zu prüfen. Wir suchen nur noch selektiv nach dem, was ihn weiter nährt.

„Gerechter“ Zorn reduziert Hemmungen und schafft eine explosive Grundstimmung, die sich nur allzu häufig an der falschen Stelle entlädt: Ich komme frustriert von der Arbeit und kritisiere meine Frau oder schreie ein Kind wegen einer Kleinigkeit an. Die Bewältigung von Zorn ist aus biblischer Sicht ein Hauptproblem familiärer Beziehungen (Kol 3,19, Eph. 6,4). Denn Zorn bringt immer wieder Zorn hervor – gerade unter Menschen, die sich nahestehen.

Längst nicht alle werden offen aggressiv. Vielmehr macht sich kalter Zorn breit. Der Konflikt bleibt dennoch nicht sachlich, sondern bekommt eine persönliche Komponente: Verachtung. Mir ist es egal, ob der andere verletzt wird. Daher versteht Jesus an diesem Punkt schon längst keinen Spaß mehr. Den Ausdruck „Raka“ – das klingt wie das Räuspern, bevor man ausspuckt – nennt er einen ein Fall für den hohen Rat (Mt 5,22a), eine Form von Körperverletzung. Verachtung ist Gift für jede Beziehung.

Wer abfällig denkt und redet, wird früher oder später ausfällig. Mit dem vernichtenden Urteil „Gottloser Narr“ (Mt 5,22b) zerschneidet einer das Tischtuch zwischen sich und dem anderen, es ist eine Art eigenmächtige Exkommunikation – die Beziehung ist nach einer solchen tödlichen Bemerkung kaputt. Paulus verlangt wohl auch deshalb von den Ephesern, nicht zornig zu Bett zu gehen (und dort noch, wie ich beinahe, im Geist Beschwerdebriefe ans Schulamt zu verfassen). Ich werde nicht in jedem Fall eine Aussprache mit einem Konfliktpartner noch am selben Tag schaffen. Aber ich kann mich selbst belauschen und verhindern, dass ich meinen Zorn immer weiter anheize. Ich kann dem anderen vor Gott vergeben und mich bewusst bemühen, ihm auch im Falle eines offensichtlichen Fehlers das Beste und nicht das Schlimmste zu unterstellen. Das dämpft den Zorn.

Heute bin ich heilfroh, dass mir das damals gerade noch so gelungen ist. Das Gespräch in der Schule kam zustande, als ich ein paar Tage später hartnäckig, aber freundlich nachfragte. Mein Gegenüber entpuppte sich als etwas schrulliger, aber freundlicher Mensch, der auch Kinder hat, die ihm gelegentlich Sorgen machen. Und meinem Kind hatte ich damit vermutlich den allergrößten Gefallen getan.

Share

Im Atem Gottes stehen

Bei Ihrer Suche nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn betrachtet Barbara Bradley Hagerty Nahtoderlebnisse und stößt auf einen interessanten Fall. Im Jahr 1991 wurde bei der Musikerin Pam Reynolds ein Aneurysma festgestellt. Der Neurochirurg Robert Spetzler wagte eine Operation. Dazu wurde sie an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, die Körpertemperatur auf 15 Grad abgesenkt, dann wurde unter Narkose das Herz angehalten und das Blut aus dem Kopf abgelassen. Das EEG zeigte keinerlei Aktivität im Gehirn mehr an. Wäre der Zustand nicht künstlich herbeigeführt und wieder aufgehoben worden hätte man sagen können, sie war hirntot.

Nach dem erfolgreichen Eingriff wurde alles wieder rückgängig gemacht und die Patientin wachte auf. Sie berichtete, dass sie während der OP ihren Körper verlassen hatte und konnte sich an Details aus den Gesprächen des Operationsteams erinnern. Dann verließ sie die Szene und ging auf ein Licht zu, das sie anzog. Sie begegnete ihren verstorbenen Großmutter und ihren früheren Mentor (bzw. „Onkel“) und fragte, ob dieses Licht denn Gott sei. Die Antwort lautete: Das Licht ist nicht Gott selbst, aber der Atem Gottes. Irgendwann geleitete der Onkel sie wieder zurück und ermunterte sie, in ihren leblos daliegenden Körper zurückzukehren.

Ein späterer Abgleich mit den Protokollen ergab, dass Reynolds‘ Erinnerungen an Vorgänge während der Operation durchweg zutreffend waren. Hagerty zeigt auf, dass man diesen Fall im materialistischen Paradigma („Geist = Gehirn“) im Grunde nur so erklären kann, dass man irgendwelche Hirnaktivitäten postuliert, wo man nichts feststellen kann, damit aber verlässt man den Boden empirischer Wissenschaft und bewegt sich im Bereich von Spekulationen.

Apropos Spekulationen: Offenbar stürzen sich auch Esoteriker auf die Story und interpretieren sie nach ihren Kategorien. Interessant ist sie allemal, hier sind zwei Teile einer Dokumentation auf YouTube:

Share