Wie die ersten Christen friedlich die Welt „eroberten“ (5)

Letzter Teil meiner Serie zu Rodney Starks Analyse des Wachstums der alten Kirche. Anscheinend bezieht sich auch John Ortberg in „Weltbeweger“ darauf, und wer das Thema etwas vertiefen und die missionale Thematik weiter verfolgen möchte, kann gern auch in Evangelium: Gottes langer Marsch durch seine Welt weiterlesen.

Antiochia muss ein für unsere Verhältnisse unerträglich enges, düsteres und stinkendes Gewirr kleiner Gassen gewesen sein. Die nach Rom, Alexandria und Ephesus viertgrößte Stadt des römischen Weltreiches war damit keine Ausnahmeerscheinung. Von den freistehenden luftigen Villen der Historienfilme, in deren Atrium stets ein Brunnen friedlich plätschert, kam im Schnitt eine auf 26 Blocks mehrstöckiger verrußter Mietskasernen, in denen es weder Wasserleitungen noch Kamine (und das bedeutete stete Feuergefahr!) gab. Ganze Familien teilten sich mit ihren Haustieren meist nur ein Zimmer. Nicht selten stürzten Gebäude ein und begruben ihre Bewohner unter sich, weil die oberen Stockwerke mit den billigeren Wohnungen hoffnungslos überfüllt waren und die Statik nachgab.

Die Einwohnerdichte betrug, so schätzt Stark, das Doppelte des heutigen Manhattan. Viele Leute waren aufgrund der hygienischen Verhältnisse und der schlechten Luft chronisch krank, die Säuglings- und Kindersterblichkeit lag bei 50%, und wenn jemand das Erwachsenenalter erreicht hatte, war in der Regel ein Elternteil schon verstorben. Ohne ständigen Zuzug vom Land wären die Städte allesamt geschrumpft. Brände, Erdbeben, Plünderungen, Aufstände und Epidemien – im Schnitt dezimierte während der Antike alle 15 Jahre eine große Katastrophe die Population der Stadt am Orontes. Stark schreibt:

Jede zutreffende Darstellung Antiochias aus neutestamentlicher Zeit muss eine Stadt voller Elend, Gefahren, Angst, Verzweiflung und Hass zeichnen. Eine Stadt, in der die Durchschnittsfamilie ein armseliges Leben in dreckigen und beengten Quartieren führte, wo mindestens die Hälfte aller Kinder bei der Geburt oder im Säuglingsalter starb und die meisten Kinder, die überlebten, mindestens ein Elternteil verloren hatten, bis sie erwachsen waren. (S. 160)

Hier wurde das Christentum als Stadtreligion geboren. Denn weil das Evangelium soziale Schranken aufhob (etwa die tiefe Kluft zwischen Sklaven und Freien), religiöse Aus- und Abgrenzungen sprengte (Juden und Heiden, einschließlich sämtlicher zerstrittener Untergruppen der beiden Lager), weil entwurzelte Menschen dort eine Familie und ein funktionierendes soziales Netz fanden, und sich damit immer seltener aggressiv und kriminell selbst behaupten mussten, weil Streit durch Vergebung und wo nötig auch ein paar ernste Mahnungen der Ältesten beigelegt wurde – aus all diesen Gründen waren die Christen „gute Nachricht“ für das stets vom Kollaps bedrohte Leben der Metropole. Das Christentum war, schreibt Stark, nicht nur eine neue Religion, sondern „eine neue Kultur, die das Leben in den griechisch-römischen Städten erträglicher machen konnte.“ (S.162)

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