Meer Leidenschaft – muss das sein?

Am Ufer des Zürichsees treffe ich auf einen Strandkorb aus Sylt, auf dem ein Slogan prangt, der irgendwas von Meer Leidenschaft verheißt. Der Begriff „Leidenschaft“ ist ja inzwischen nicht mehr so ganz originell in der Werbung. Es scheint ein gefühltes Leidenschaftsdefizit zu geben, und mit der Aussicht auf Leidenschaft lässt sich scheinbar alles mögliche verkaufen. Freilich bleibt die Frage, wie lange eine von außen induzierte, gekaufte Passion denn hält.

Stimmt die Analyse – sind wir tatsächlich so leidenschaftslos? Und wenn ja, was hat es mit der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu tun und ihren tausendfachen Zerstreuungen? Oder ist auch „Leidenschaft“ (wie schon „Authentizität“) so ein überbewertetes Verkäufer-Schlagwort geworden, das irgendwie noch an ein paar vage Restsehnsüchte anderweitig übersättigter Menschen appellieren soll? Ist sie denn gezielt herstellbar oder wie Glück eher eine Begleiterscheinung, ein Abfallprodukt ganz anderer Dinge und Tätigkeiten? Kann sie überhaupt ein Ziel sein, oder er-folgt sie nur dann, wenn man es nicht auf sie abgesehen hat? Ist die Forderung nach mehr Leidenschaft vielleicht ähnlich absurd wie das beliebte „sei doch mal spontan?“

Um Ostern herum habe ich eine Diskussion verfolgt, die in eine ähnliche Richtung lief: Warum feiern Christen Ostern nicht ausgelassener, fröhlicher, begeisterter – eben: leidenschaftlicher? Jemand verglich das Ganze mit dem Jubel beim Gewinn der Fußball-WM. Zustimmung rundherum wurde geäußert. Also nicht nur spontane, sondern spontan öffentlich inszenierte Leidenschaft ist das Ziel der Übung. Stille Freude ist deswegen schon so unbefriedigend, weil sie nicht demonstrativ genug ist. Alle müssen es sehen.

Kann man je leidenschaftlich genug sein? Die Selbstbezichtigung fehlender Leidenschaft kommt mir wie ein integrierter evangelikaler Bußreflex vor – eine spätmoderne Variante der mittelalterlichen Selbstgeißelungen. Wer diesen nie-genug-Knopf drückt, erzielt immer Wirkung. Das mag mit dem Selbstbild und dem eigenen Anspruch zu tun haben: Unter viele lauen Christen sind „wir“ nicht nur die besonders engagierten, sondern auch die, die Gott am leidenschaftlichsten lieben. Freilich schwankt der Grad der Leidenschaft im wirklichen Leben, also muss immer nachjustiert werden. Niemand wagt zu sagen, dass es jetzt genug ist. Denn so fängt das Lausein bekanntlich an, das Gott so zuwider ist.

Das kann dann schon Blüten treiben (und in Stress ausarten): In der Diskussion um den Osterjubel habe ich mich gefragt, zu welcher Begeisterung selbst der glühendste Fußballfan (wenn das jetzt die neue Norm ist…) fähig wäre, wenn sein Club vor 2.000 Jahren die Champions League gewonnen hätte. Viel von diesem spontanen Jubel liegt ja an der Ungewissheit im Vorfeld und der Spannung, die sich im Augenblick des Sieges entlädt (hatten wir ja diese Woche erst…). Das aber ist eben nicht beliebig reproduzierbar.

Dass wir nach knapp 2.000 Jahren noch Ostern feiern, obwohl wir nicht mehr mitfiebern müssen, ob Jesus auch dieses Jahr wieder auferstehen wird (und uns sein Tod auch nicht mehr in abgrundtiefe Verzweiflung stürzt jeden Karfreitag), ist doch vielleicht auch schon eine ganze Menge? Soll man die zarte Freude über Gottes große Taten immer dadurch gleich wieder abwürgen, dass man pflichtschuldig darüber klagt, sie mit dem eigenen Gefühl nicht einholen zu können? Lenkt das Schielen auf den emotionalen Puls, mithin auf uns selbst, nicht davon ab. das Fest unbeschwert zu feiern und uns selbst endlich mal nicht so wichtig zu nehmen? Aber wäre nicht das der Punkt, an dem Freude wieder „spontan“ entstehen kann, weil wir – endlich einmal! – unter keinem Erwartungsdruck und unter keiner Beobachtung mehr stehen?

Ein konstruktiver Gedanke kam mir dann doch noch zu Ostern. Wenn schon der Fußball das Maß der Dinge ist, warum nicht mal einen Autokorso am Ostersonntag in aller Herrgottsfrühe – hupend und fahnenschwenkend ein paar Stunden durch die Stadt rasen? Ganz authentisch und ganz öffentlich und – da bin ich mir ganz sicher – es wird sehr, sehr leidenschaftliche Reaktionen hervorrufen.

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Den Glauben der Armen ernst nehmen

Stefan Silber beschreibt in Mission und Prophetie in Zeiten der Interkulturalität, wie eine Theologie der Religionen durch die Perspektive der Armen aus der Befreiungstheologie berührt und verändert wird. Dabei lehnt er eine universalistische Vereinnahmung aller Religionen (etwa bei John Hick) ab, weil diese nicht mehr zwischen Gott und Götzen unterscheiden kann und daher auch das zweifellos vorhandene Unheil, das konkrete Religionen auch bewirken können, nicht richtig in den Blick nimmt. Das geht bestenfalls in den Studierstuben westlicher Intellektueller auf, aber nicht im globale Süden. Silber plädiert für einen anderen Ansatz:

Die Armen sind religiös. Dies gilt für die große Mehrheit der Armen im globalen Maßstab im Unterschied zu den meist säkularisierten Armen Europas. Die Armen verstehen sich vielfach sogar zuerst als religiöse, und dann erst als arme Menschen. Aufgrund des Kontextes der Armut leben sie ihre Religiosität in aller Regel in Differenz zu den Entwürfen ihrer religiösen Autoritäten und nicht selten in mehreren Systemen zugleich.

Aus der Perspektive der Armen sind diese religiösen Ausdrucksformen nicht als defizitäre oder verderbte Praxisformen einer Hochreligion zu verurteilen. Sie sind kreative Antworten auf die Offenbarungen Gottes, die ihnen in einer konkreten Situation von Unterdrückung und Gewalt mitten im Pluralismus der Regionen zuteil geworden sind. Ihre Pluralität und oft auch ihre Ambivalenz schuldet sich dem Kontext der Armut, aus dem sie erwachsen. Eine Theologie, die aus der Option für die Armen einen epistemologischen Vorrang dieses Kontextes ableitet, wird diese Pluralität nicht abwerten, sondern als eine Herausforderung betrachten, in ihr die Wege Gottes aufzuspüren. Die Religionen der Armen werden daher in der Theologie der Befreiung gerade auch in ihrer Pluralität anerkannt, nicht weil hinter allen Religionen derselbe Gott vermutet würde, sondern weil der plurale Kontext der Armut der bevorzugte Ort der Offenbarung Gottes ist.

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