Den Glauben der Armen ernst nehmen

Stefan Silber beschreibt in Mission und Prophetie in Zeiten der Interkulturalität, wie eine Theologie der Religionen durch die Perspektive der Armen aus der Befreiungstheologie berührt und verändert wird. Dabei lehnt er eine universalistische Vereinnahmung aller Religionen (etwa bei John Hick) ab, weil diese nicht mehr zwischen Gott und Götzen unterscheiden kann und daher auch das zweifellos vorhandene Unheil, das konkrete Religionen auch bewirken können, nicht richtig in den Blick nimmt. Das geht bestenfalls in den Studierstuben westlicher Intellektueller auf, aber nicht im globale Süden. Silber plädiert für einen anderen Ansatz:

Die Armen sind religiös. Dies gilt für die große Mehrheit der Armen im globalen Maßstab im Unterschied zu den meist säkularisierten Armen Europas. Die Armen verstehen sich vielfach sogar zuerst als religiöse, und dann erst als arme Menschen. Aufgrund des Kontextes der Armut leben sie ihre Religiosität in aller Regel in Differenz zu den Entwürfen ihrer religiösen Autoritäten und nicht selten in mehreren Systemen zugleich.

Aus der Perspektive der Armen sind diese religiösen Ausdrucksformen nicht als defizitäre oder verderbte Praxisformen einer Hochreligion zu verurteilen. Sie sind kreative Antworten auf die Offenbarungen Gottes, die ihnen in einer konkreten Situation von Unterdrückung und Gewalt mitten im Pluralismus der Regionen zuteil geworden sind. Ihre Pluralität und oft auch ihre Ambivalenz schuldet sich dem Kontext der Armut, aus dem sie erwachsen. Eine Theologie, die aus der Option für die Armen einen epistemologischen Vorrang dieses Kontextes ableitet, wird diese Pluralität nicht abwerten, sondern als eine Herausforderung betrachten, in ihr die Wege Gottes aufzuspüren. Die Religionen der Armen werden daher in der Theologie der Befreiung gerade auch in ihrer Pluralität anerkannt, nicht weil hinter allen Religionen derselbe Gott vermutet würde, sondern weil der plurale Kontext der Armut der bevorzugte Ort der Offenbarung Gottes ist.

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