Albern – warum eigentlich nicht?

Ausgerechnet Joachim Gauck hat „Occupy Wall Street“ als „unsäglich albern“ bezeichnet. Vermutlich ist ihm dabei gar nicht bewusst gewesen, dass er den Leuten damit ein Kompliment macht, denn viele haben sich den Rat „stay foolish“ aus Steve Jobs‘ legendärer Stanford Adress zu eigen gemacht – hungrig sind sie schon längst, dafür hat der Turbokapiltalismus des letzten Jahrzehnts und die Banken-/Schuldenkrise gesorgt.

Sie sind albern genug, zu fragen, ob es nicht auch ganz anders gehen könnte. Nur denken sie dabei nicht über elektronische Helfer nach, die sie selbstverständlich nutzen, sondern über unser Wirtschaftssystem, das zu ändern unsere Politiker nicht den Mut hatten, als sie es konnten. Allen voran Barack Obama, der mit seinen stets halbherzigen Aktionen massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat.

Johnathan Askin nennt im Huffington Post die Demonstranten treffend die Generation „What if“. Sie sagen nicht mehr „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, sondern sie wenden dieselbe Logik auf andere Dinge an. Sie sind im digitalen Zeitalter groß geworden und haben gelernt, sich alle die Zukunft in allen möglichen Farben und Formen auszumalen und durchzuspielen. Und nun wenden sie diese Phantasie (klingt nach Margot Käßmann, oder?) auf die reale Welt an.

Natürlich kann man nun mit Gauck, einem Vertreter des letzten großen Umbruchs, „ja, aber…“ sagen. Aber vielleicht folgt der vor uns liegende Umbruch ja anderen Mustern als der zurückliegende. Vielleicht stehen uns manche Erinnerungen und Erfahrungswerte dabei eher im Weg? Im biblischen Bild gesagt: Als David die schwere Rüstung wieder auszog und mit seinem Steinschleuderchen gegen Goliath ins Feld zog, da empfanden Saul und seine Generäle das mit Sicherheit auch als „unsäglich albern“.

Nicht nur die (Ost-)Revolutionäre von gestern, auch die in stabilen Verhältnissen groß gewordenen Baby-Boomer im Westen erscheinen im Licht dieser Ereignisse als „Generation Unbedarft“. Sie haben immer noch zu viel zu verlieren, um unbefangen zu fragen: „Was wäre, wenn?“. Ihr revolutionäres Restpotenzial scheint vom Wohlstand aufgezehrt, schreibt Paul Campos, und nun sind sie unerträglich selbstgefällig geworden. Gänzlich unbedarft waren heute auch die Nürnberger Nachrichten, die rätselten, was den Bankenprotest mit einem „religiösen Fanatiker“ wie Guy Fawkes zu tun haben sollte. Der Autor hat offenbar V wie Vendetta nicht gesehen, wo das Volk auf die Straße geht und seine Unterdrücker abschüttelt. Die Botschaft der Maskerade heißt nichts anderes als „Wir sind das Volk“, beziehungsweise eben: „we are the 99%“. Fürchtet Gauck insgeheim, dass die neue Revolution – wenn es denn eine werden sollte – die alte in den Schatten stellt?

Occupy Wall Street ist, sagt Askin, nur der öffentliche Beta-Test der Generation What If“. Brian McLaren hat in Naked Spirituality den Begriff der TAZ – temporary autonomous zone – verwendet, den er von Kester Brewin übernommen hat. Damit meint er zum Beispiel Festivals (Askin erwähnt „Burning Man“) und Events, wo die gängigen Verhaltensnormen außer Kraft gesetzt sind. Natürlich ist das eine zwiespältige Sache: Schon Rom kannte Brot und Spiele als Mittel, die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren. Aber vielleicht verdient neben der Funktion als Überdruckventil und Anästhetikum auch der Aspekt Beachtung, ob hier – vor allem eben bei den Demos – alternatives Handeln hypothetisch diskutiert und experimentell eingeübt werden kann.

Und vielleicht tun wir gut daran, Sonntage und Gottesdienste auch als solche Gelegenheiten zu verstehen und zu leben: Freiräume, in denen man nicht ins nächste Korsett gedrückt wird und funktionieren muss, sondern dem Alltagstrott den Rücken kehrt, um zu fragen, ob das alles eigentlich so sein muss – von der persönlichen Lebensgestaltung bis hin zur Weltwirtschaft. Wo wir das kommende Reich Gottes so feiern, dass der Vorgeschmack allein schon die Risse im Fundament scheinbar unüberwindlicher Gegebenheiten sichtbar werden lässt. Was ist denn die Bergpredigt, wenn nicht ein großes „was wäre eigentlich, wenn?“, das nicht nur weltfremd oder weltflüchtig ein utopisches Ideal zelebriert, sondern das Alternativen in Sicht- und damit tatsächlich auch in Reichweite rückt? Das jedes politische und soziale System diesem Zweifel aussetzt, ob menschenwürdiges Leben nicht auch anders und besser aussehen könnte als unter den vermeintlichen Sachzwängen.

Zum Glück gibt es auch unter Christen eine emergente Generation „What if“, die nicht nur hinter die herrschenden gesellschaftlichen, sondern auch kirchlichen Verhältnisse ein Fragezeichen setzt. Ohne immer gleich auch schon sagen zu können, wie die Zukunft definitiv aussehen muss.

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