Die große Geschmacks-Ver(w)irrung

„Esst, was man Euch vorsetzt“, trägt Jesus seinen Nachfolgern in Lukas 10 auf. Wenn sie das nur mal beherzigt hätten! Vielleicht sähe die Welt heute völlig anders aus. Aber da hat das Essen ein seltsames Aroma, die Leute und ihr Haus einen ungewohnten (Stall-)Geruch, sie sprechen den „falschen“ Dialekt, haben die falsche Frisur und Kleidung, hören die falsche Musik, reden zu derb oder zu intellektuell, zu schnell oder zu stockend, haben zu viele Kinder oder zu wenige, lachen über die falschen Witze und über die richtigen nicht, sind nicht nüchtern oder nicht warmherzig genug – und schon denkt der Freudenbote nach, ob er lieber das Quartier wechselt.

Eben deshalb ist das Evangelium oft an Geschmacksfragen gescheitert. Ein guter Teil kirchlich-gemeindlicher Streitereien hat mit Fragen des Geschmacks zu tun: Stifragen in Musik, Architektur und Mode sind ebenso wie politische Präferenzen (neben den bekannten liturgischen wie Händeheben und -falten, Kreuzschlagen, lateinisch oder englisch singen etc.) zu schier unüberwindlichen Blockaden geworden. Dabei könnten Gegensätze sich doch auch hier mal anziehen…?

Jesus wusste nur zu genau, was die große Gefahr war: Unser Geschmack kann wie der Geruchssinn reflexartig tiefe Bauchgefühle auslösen. Man findet etwas ganz unwillkürlich appetitlich oder eklig, und erst im zweiten Schritt wird dann der Verstand zugeschaltet, dessen Aufgabe es nun ist, dem Gegenüber die Schuld am eigenen Widerwillen zu geben und die Bauchentscheidung zum Rückzug und zur Distanzierung zu rationalisieren, indem man ein Haar in der vorgesetzten Suppe entdeckt (statt die eigenen Gewohnheiten und Vorlieben kritisch zu betrachten). Ich meine, wo kämen wir denn hin, wenn einfach jeder…?

Nx Besonderes, werden jetzt viele sagen. In der Partnerwahl und beim Autokauf spielen spontane und reflexartige Sympathie und Antipathie ja auch die Schlüsselrolle bei weitreichenden und kostspieligen Entschlüssen. Da ist der Deutsche halt einfach spießig und in all seiner vermeintlichen „Vernunft“ (die er den Südeuropäern abspricht) dennoch selber komplett und zutiefst irrational. Neulich stand in der Zeit ein Interview zum Thema Autodesign, und der Experte sagte:

Eine Schweizer Studie hat mal untersucht, wie schnell Männer Frauengesichter beurteilen. Die Probanden bekamen Fotos gezeigt und mussten zwei Knöpfe drücken: »gefällt mir/gefällt mir nicht«. Sie brauchten nicht mal eine Sekunde. Ich behaupte: Bei Autos ist es dasselbe. Der Mann trifft seine Entscheidung emotional – leugnet das aber, weil er ja Deutscher ist! Wenn er sich insgeheim längst in einen Wagen verguckt hat, kauft er sich zig Fachzeitschriften, liest Tests, studiert Tabellen. Er sucht so lange den richtigen Autotest, bis es total rational erscheint, sich seinen Traumwagen zu kaufen.

Das Auto als Herzensangelegenheit – geschenkt!. Wenn es aber darum geht, niemanden aus der Einladung Gottes auszuschließen, dann können wir uns diese Spießer-Mentalität (die nicht nur kleinbürgerlich sein kann, sondern auch in tausend anderen Geschmacksrichtungen existiert) schlicht nicht leisten, ohne unseren Auftrag und damit auch den Auftraggeber zu verraten, dem solche Reflexe völlig fern lagen und der genau deswegen auch die Autorität hatte, Leuten wie den Pharisäern und den Reichen mal kräftig die Meinung zu sagen, ohne alle Brücken zu ihnen deshalb abzubrechen. Gott also – wie verkappt und heimlich auch immer – dafür zu danken (und uns selbst dazu zu gratulieren), dass „ich nicht so bin wie der da“ (Lukas 18,11) macht mich auch dann zum „Pharisäer“, wenn ich mich selber als „Zöllner“ einsortiert hätte.

Meine unwillkürlichen Reflexe werden sich, wenn überhaupt, nur langsam ändern. Ich spüre sie jeden Tag. Was ich tun kann, ist, sie nicht mehr hinter einem Wall von Pseudo-Argumenten zu verstecken, sondern sie als das zu sehen, was sie sind: irrational und potenziell schädlich. Christliche Freiheit bedeutet dann: Ich muss ihnen nicht nachgeben.

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