Fränkisches Wintermärchen

Wo der Tennenloher Forst am finstersten ist, da steht gut versteckt eine kleine Hütte. Kein Lichtstrahl dringt in diesen Winkel, kein Vogel singt dort und kein Harvester kam je in seine Nähe. Dort wohnen die Brüder Bodo und Waldo. Die beiden hatten eine schwere Kindheit, dort im Wald. Der Vater starb früh und der Stiefvater versoff das wenige Geld, das ihre Mutter vom Markt nach Hause brachte, wo sie Waldhonig verkaufte. Wenn er betrunken war, schlug er seine Frau und die Stiefsöhne. So schlimm waren die Verletzungen, dass Bodo lebenlang hinkte und Waldo schielte.

Drei Tage nach Waldos sechzehntem Geburtstag schlug der Alte die Mutter bewusstlos und ließ sie im Wald liegen, während er wegging, um sich zu betrinken. Als Bodo und Waldo sie am nächsten Tag fanden, war sie tot – erfroren in der Nacht. Der Stiefvater kehrte nie zurück. Bodo und Waldo verkauften Waldhonig und lebten von Beeren und kleineren Wildereien. Aber jeden Winter, wenn sich der Tod der Mutter jährte, erwachte ihr Zorn.

Sie wussten nicht viel über die Vorlieben des Stiefvaters, nur dass er ein passionierter Langläufer gewesen war. Wenn im Winter genug Schnee lag, schwang er sich auf die Bretter und verschwand für Stunden im Wald. Seine Spuren im Schnee waren vor dem Haus zu sehen und die Jungen hofften jedesmal vergeblich, er würde nie zurückkehren.

Eines Winters lag an diesem ominösen Tag viel Schnee. Er war drei Tage zuvor gefallen, und als Bodo und Waldo den Ort aufsuchten, wo sie die Mutter tot gefunden hatten, stießen sie auf Spuren von Langlaufski. Sie blieben wie angewurzelt stehen, und dann stieß Waldo einen tiefen, herzzerreißenden Schrei aus. Bodo begann, sich die Haare zu raufen und auszureißen und dann trampelten die beiden so lange auf dem Weg herum, bis die Spur nicht mehr zu erkennen war.

Seit jenem Tag streifen Bodo und Waldo durch den winterlichen Reichswald, wenn Schnee liegt. Jeden Morgen beim ersten Licht der Dämmerung verlassen sie die Hütte. Bodo fährt einen halbtoten Traktor mit riesigen Profilreifen und Waldo reitet eine alte Mähre. Sie suchen hin und her im Wald nach Spuren von Langläufern. Und wenn sie irgendwo eine entdecken, dann fahren und reiten sie so lange auf dem Weg herum, bis sie nicht mehr zu gebrauchen ist. Das Pferd tritt mit klammheimlicher Freude tiefe Löcher in den Schnee, die sich mit Schlamm und Wasser füllen und Langläufern das Fortkommen unmöglich machen. Die Reifen des Traktors ziehen mit größter Genugtuung diagonal gerillte Furchen, in denen sich Langläufer nur mit Mühe aufrecht halten.

So hoffen Bodo und Waldo, dass der böse Stiefvater nie zurückkommt. So ist vor allem Waldo und seinem Gaul auch nicht eine Spur entgangen, wenn er mittags in die abgelegene, finstere Hütte zurückkehrt. Dort leben sie bis heute, humpelnd und schielend und fern von anderen Menschen. Ihre einzigen freunde sind ein paar Spaziergänger und Hundebesitzer. Die sieht man ab und zu im Wald, wenn sie die eine oder andere Ski-Spur, die Bodo und Waldo übersehen haben, genüsslich zertreten…

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Von Menschen und Göttern

erzählt die wahre Geschichte des kleinen Trappistenkonvents von Tibhirine im algerischen Atlasgebirge, dessen Brüder sich angesichts der Bedrohung durch die islamistische GIA dazu durchringen, sich weder von der korrupten Armee beschützen zu lassen noch dem Dorf, in dem sie leben, den Rücken zu kehren und wieder nach Frankreich zu gehen. In der Schlüsselszene redet ein Bruder davon, dass sie wie Vögel seien, die auf einem Baum säßen und nicht wüssten, ob die weiterfliegen. Darauf antwortet eine Dorfbewohnerin: „Wir sind die Vögel – ihr seid der Baum.“ Und die Mönche bleiben schließlich, im vollen Bewusstsein der möglichen Folgen.

Wer eine fesselnde Auslegung der Jahreslosung 2011 sucht, der wird hier fündig: Die Reaktion auf das Böse, das sich im Krieg zwischen Diktatur und Islamisten regt und alles zu vergiften  droht, ist nicht der Rückzug, sondern die Bereitschaft zum Leiden um der Liebe willen.

Es ist ein leiser Film, trotz einer mit Gewalt aufgeladenen Atmosphäre. Und es ist beeindruckend, wie diese Christen unter den Muslimen friedlich leben – sogar im Abschiedsbrief des Priors findet sich kein Wort des Hasses oder der Verachtung gegenüber dem Islam. Wie ein roter Faden ziehen sich die Gesänge der Liturgie und die Schriftlesungen durch die Handlung.

Wer es einrichten kann, sollte Von Menschen und Göttern unbedingt anschauen. Trotz des Todes von sechs der acht Brüder im Mai 1996 nach der Entführung durch die GIA, aber unter bis heute nicht völlig geklärten Umständen, ist es ein Film, der am Ende doch Mut und Hoffnung verbreitet.

Wer lieber vorher noch ein paar Kritiken liest: Hier oder hier klicken. Übrigens: Gut drei Millionen Franzosen haben den Streifen von Regisseur Xavier Beauvoir schon gesehen.

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Die unmögliche Nichterkenntnis

Frank hat zu meinem Adventspost eine spannende Frage gestellt, und ich dachte, die Antwort ist einen neuen Post wert. Hier also noch einmal die Frage:

Ist es aus christlicher Sicht denkbar, dass Gott (so es ihn gibt) dem Atheisten (dessen Vorstellung/Wunsch vom „Jenseits“ ja die Nichtexistenz ist), ebendieses erfahren lässt? Also: „Wenn jemand mich bewußt nicht erkennen will oder den Gedanken an meine Existenz ablehnt, dann erweise ich ihm trotzdem aus Liebe den Gefallen des Nichtweiterexistierens nach dem Tode.“

Die kurze Antwort darauf habe ich schon in den Kommentaren gegeben: es ist natürlich denkbar. Wobei es in meinem Text gar nicht um das Leben nach dem Tod/im „Jenseits“ ging, sondern um das Kommen Christi in diese Welt und deren Heilung und Verwandlung. Doch selbst dann stellt sich die Frage, ob man in dieser neuen Welt zuhause sein möchte oder nicht. Und wie Gott wohl reagieren würde, wenn jemand das nicht will. Ich finde, alles deutet eher in die Richtung, dass er niemanden dazu zwingen würde – Liebe drängt sich nicht auf. Am Ende, hat C.S. Lewis einmal recht lapidar gesagt, gibt es nur zwei Arten von Menschen: Solche, die zu Gott sagen: „Dein Wille geschehe“ und solche, zu denen Gott sagt: „Dein Wille geschehe.“ Das ist also die eine Seite.

Was mich aber fasziniert hat, war das Bild, das beim Nachdenken über diese Frage vor meinem inneren Auge entstand – womit ich nicht behaupten will, dass Frank das so gemeint hat –, die andere Seite dieser Frage also: Von einem Menschen, der nicht nur für den Augenblick sagt, dass er keine Anhaltspunkte für Gottes Existenz sieht (das ist ja auch oft schwer genug), sondern der diese Möglichkeit so kategorisch ablehnt, dass er – für den Fall, dass sie zur Realität wird – lieber die alte Illusion bestätigt bekommen möchte. Aber wäre es nicht tausendmal interessanter, einmal kurz über die eigene Täuschung den Kopf zu schütteln und dann staunend Gott Auge in Auge gegenüberzustehen? Gut, Gott kann einen schon erschrecken, davon weiß die Bibel einiges zu berichten. Aber dabei bleiben die biblischen und anderen Berichte ja nicht stehen. Müssten nicht alle, auch die großartigsten und bewegendsten Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben, wie ein müder Abklatsch dieser Begegnung erscheinen? Anders gefragt: Kann man so wenig neugierig sein und das größte Geheimnis überhaupt ausblenden wollen?

Meine zweite Überlegung betrifft die Haltung der Welt gegenüber: Wenn sich herausstellen sollte, dass diese Welt tatsächlich Gottes Schöpfung ist und dass Gott sein unvollendetes Werk nun zur vollen Blüte und Entfaltung bringt, kann man sich in diesem Moment von ihr abwenden? Müsste nicht gerade eine humanistische Grundhaltung dazu führen, dass man alles daran setzt, zum ersten Mal in einem intakten Ökosystem leben zu können, Teil eines rundum angstfrei funktionierenden Gemeinwesens zu sein, geliebte Menschen frei von Gebrechen und Behinderungen zu sehen? Ist es vorstellbar, dass jemand lebens-müde auf der Ziellinie seines Langstreckenlaufs kehrt macht, sich verabschiedet und einsam im Nichts versinkt, und das alles nur, weil er Gott als den Ursprung alles Guten dieser Welt nicht erträgt (und wenn ja, was bedeutet das eigentlich für das gegenwärtige Verhältnis zu Mitmenschen und Schöpfung, wenn man es konsequent zu Ende denkt)?

Drittens: Was bedeutet das im Blick das eigene Selbst? Natürlich hält jeder seinen gegenwärtigen Standpunkt für gut begründet, er ist ja die Quintessenz der gesammelten Lebenserfahrungen. Aber Menschen ändern sich, wir sind lernfähig. Und große Ereignisse haben schon viele dazu gebracht, sich zu korrigieren. Solche Korrekturen störrisch abzulehnen muss also kein Zeichen heroischer Konsequenz sein. Fehlbarkeit gehört eben zum Menschsein, deshalb regen sich ja manche über den Papst auf (der sich im Übrigen auch in den allermeisten Fällen für fehlbar hält), es erinnert eher an Margot Honecker. Wenn wir unsere erstaunliche Fähigkeit zum Selbstbetrug noch dazurechnen, wird das Bild noch etwas beunruhigender. Es kann ja ungemein befreiend sein, Illusionen aufzugeben, wenngleich es immer auch beschwerlich und schmerzhaft ist. Aber soll Gott am Ende (wann und in welcher Form auch immer es kommt) unsere Lebenslügen unangetastet lassen und einfach auf die Löschtaste drücken? Wäre damit dann nicht alles, auch das Gute und Richtige, das in jedem Menschenleben auch vorkommt, ad absurdum geführt? Und – um wieder in die Gegenwart zurückzukehren – macht man sich mit diesem Wunsch nicht schon in dem Sinne selbst zum Gott, dass man davon ausgeht, dass die Wirklichkeit um uns herum sich nach unseren Vorlieben und Vorstellungen richtet, dem Diktat unseres Dogmas beugt?

Zuletzt: Gott bewusst nicht erkennen zu wollen scheint mir logisch gesehen ein Ding der Unmöglichkeit. Genau genommen bedeutet das, ihn eben schon erkannt zu haben und nachträglich die Augen davor zu verschließen. Oder zumindest verrät die Formulierung doch so viel: Ich weiß genau, wo ich hinschauen müsste – aber ich tu’s nicht, weil ich schon ahne, was ich dann sehe. Nur – wenn ich um jeden Preis vermeiden will, Gottes ansichtig zu werden, dann werde ich auch viele andere Dinge im Leben womöglich nie sehen, weil sie ihm so nahe sind, dass sie schon etwas von seinem Licht widerspiegeln oder dass sein Schatten auf sie fällt. Ängste und Aversionen können uns blenden, aber in den seltensten Fällen unseres Alltags ist das eine gute Sache. Warum sollte es in den großen Fragen von Leben und Tod anders sein?

So gesehen haben Atheisten ja eigentlich einen Vorteil: Wenn sie sich in ihrer Weltanschauung getäuscht haben, können sie es noch herausfinden. Wenn Christen sich täuschen, wenn die Welt sich nicht ändert und mit dem physischen Tod alles aus ist, werden sie es nie erfahren. Will man aber partout bis zuletzt Recht behalten, müsste man als Atheist die Fronten wechseln.

Bis jetzt dachte ich, Atheisten sind in der Regel der Meinung, dass Christen sich Illusionen über die Welt machen, weil diese schöner und tröstlicher sind als die schnöde Wirklichkeit. Jetzt aber frage ich mich, ob es nicht einen Atheismus gibt, der die Vorstellung einer gott-losen Welt so schön und attraktiv findet, dass er sie unbedingt glauben will

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Weisheit der Woche: Gedanken

Wenn ich mich damit beschäftigen würde, was Blöde denken, bliebe mir keine Zeit mehr für das, was intelligente Leute denken.

Eric-Emmanuel Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa

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Viva la revolución

er heißt Wunder-rat, Gott-held, Ewig-vater, Friede-fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende

Jes 9,5-6

Frohe Weihnachten!

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Advent 2010 (3): Unterwegs zum Sehen

(Hier gibt es den gesamten Text der letzten drei Posts als PDF)

In dem Abschnitt (siehe letzter Post) Jes 52,7-10 erscheint der unsichtbare Gott, der im Kommen ist, nie direkt. Er spiegelt sich nur in den Schritten des Boten, der Stimme der Wächter und der Erwartung, dass sogar die Steine in Jubel ausbrechen. Ganz am Ende ist davon die Rede, dass er seinen mächtigen Arm entblößt: Er krempelt die Ärmel hoch und lässt die Muskeln spielen.

Bleiben wir noch einen Moment bei Gottes Unsichtbarkeit. Man muss sie ernst nehmen, um richtig davon reden zu können, dass Gott in der menschlichen Geschichte erschienen ist. Und es gibt zwei verwandte Stimmen, auf die zu hören sich dabei lohnt. Das eine ist die Stimme der Atheisten. Tomas Halik schreibt ja davon, dass hier eine existenzielle Wahrheit hörbar wird, nämlich die der Abwesenheit Gottes. Und die erfahren nicht auf die eine oder andere Art alle Menschen zu bestimmten Zeiten. Für Christen ist es eine wirkliche, wenn auch vorläufige Wahrheit. Sie ist aber nur in der Hoffnung aufgehoben, nicht in unserer täglichen Erfahrung. Da taucht die immer wieder auf, und wir können nachfühlen, was der „tolle Mensch“ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft sagt:

Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?

Die andere Wahrheit, die uns herausfordert, ist die des Judentums, das sich nicht zu Jesus als dem Messias bekennen kann, wie etwa Martin Buber und Schalom Ben-Chorin sagen. Und man muss die Begründung ernst nehmen, auch wenn sie nur ein vorläufiges Nein zu Jesu messianischem Anspruch ist:

Der Jude weiß zutiefst um die Unerlöstheit der Welt und er erkennt und anerkennt inmitten dieser Unerlöstheit keine Enklaven der Erlösung. Die Konzeption der erlösten Seele inmitten einer unerlösten Welt ist ihm fremd, urfremd, von Urgrund seiner Existenz her unzugänglich. (…) Erlösung heißt jüdisch gesehen, Erlösung von allem Übel. Übel des Leibes und der Seele, Übel der Schöpfung und der Kultur.

Die eine Stimme sagt uns also: Es wird nichts mehr kommen. Die andere sagt uns: es ist noch nichts geschehen. Christen teilen die Erfahrungen des leeren Raumes und der unerfüllten Hoffnung, und doch reden wir vom Kommen Gottes. Der Grund dafür liegt in den Versen, die sich am Ende von Jesaja 52 anschließen und den Auftakt für das berühmte Gottesknechtslied in Jes 53 bilden:

Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun; was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt. (Jes 52,13-15)

Hier finden wir diese gewaltige Spannung zwischen er unauffälligen, ja abstoßenden Gestalt dessen, den Gott sendet, um das Schicksal Israels zu wenden, und der Erwartung, dass diese Wende dennoch nicht nur die Innerlichkeit betrifft, sondern das ganze Leben grundlegend auf den Kopf stellt. Dann versteht man auch endlich, warum so viele Worte und Gleichnisse Jesu damit zu tun haben, dass man das Kommen Gottes (beziehungsweise des Menschensohnes) verpassen kann. Das sind keine Warnungen vor dem, was wir manchmal den „jüngsten Tag“ nennen. Seine Wiederkehr in Herrlichkeit wird niemand verpassen, dann werden die Steine schreien und die Trümmer jubeln. Aber das erste, unscheinbare, verkleidete Kommen, das konnte man sehr wohl verpassen. Es war missverständlich, und dennoch nötig. Gott markiert damit seinen Eintrittspunkt in die Geschichte: Draußen, unten, am Rande. Nicht etabliert, oben, im Zentrum. Und er erduldet die Ablehnung der Welt, statt sie zu ersticken und zu übertrumpfen. Nur so werden neben den Übeln von Leib und Seele auch die der Kultur überwunden.

Wir leben im Glauben, sagt Paulus, und noch nicht im Schauen. Und doch ist es nicht weniger ganzheitlich. Der irdische Jesus, schreibt Jürgen Moltmann, war auf dem Weg zur Offenbarung seiner Messianiät. Der auferstandene Herr ist auf dem Weg zu seiner Herrschaft, die der ganzen Welt umfassenden Frieden bringt. Aber er ist eben noch auf dem Weg – auch auf dem Weg mit uns, die wir bei jeder Feier des Abendmahls mit Paulus sagen: „So oft ihr von diesem Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1.Kor 11,26)

Hat das erste Kommen des Messias die Welt verändert? Nietzsches „toller Mensch“ (der einzig „normale“ in einer verrückten Welt) hat einen interessanten Gedanken dazu, der sich nicht nur auf das „Ereignis“ des vermeintlichen, von uns Menschen herbeigeführten Todes Gottes beziehen lässt, sondern vielleicht eben auch auf seine Auferstehung:

Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden.

Das ungeheure (Christus-) Ereignis ist noch unterwegs. Wenn das keine Adventsbotschaft ist! Etwas spekulativ gefragt: Beschreibt Jesaja 52 vielleicht einen geschichtlichen Prozess in dem Sinne, dass die Apostel und die ersten Christen der Bote auf den Bergen waren, spätere Generationen (uns eingeschlossen) den Wächtern auf der Mauer entsprechen und wir den Einzug in die Stadt und den Gesang der Trümmer erst noch vor uns haben und dann gemeinsam feiern – mit Juden und Atheisten und allen Menschen, denen er nämlich auch gilt, und zwar zum Heil, nicht zum Unheil?

Was kann man damit praktisch tun? Nur eins: Vor-läufig schon jetzt so leben, als wäre das die einzige, alles bestimmende Wirklichkeit. Frohe Weihnachten!

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Advent 2010 (2): Ungewohnte Geräusche

(Teil 1 ist hier zu finden)

Alles beginnt mit einer Stille, so stelle ich mir das zumindest vor. Während alle beschäftigt sind, das Rad am Laufen zu halten, gibt es auch ein paar Überflüssige, ins Abseits geratene, die in den Ruinen des einstmals stolzen Jerusalem hausen. Für sie und über sie dichtet der namenlose Prophet ein Leid voller Hoffnung. Es dringt durch die Grabesstille, durch das bedrückte Schweigen (Jes 52,7-10):

Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König.

Horch, deine Wächter erheben die Stimme, sie beginnen alle zu jubeln. Denn sie sehen mit eigenen Augen, wie der Herr nach Zion zurückkehrt.

Brecht in Jubel aus, jauchzt alle zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr tröstet sein Volk, er erlöst Jerusalem.

Der Herr macht seinen heiligen Arm frei vor den Augen aller Völker. Alle Enden der Erde sehen das Heil unseres Gottes.

Das erste, was wir hören, sind Schritte.

Ein Bote kommt gelaufen. Wenn es ein Film wäre, dann sähen wir eine Hügelkette mit Jerusalem in der Ferne, und einen Weg, der den Kamm erreicht. Auf diesem Weg sähen wir federnd ein paar Füße laufen, nicht mit schweren Soldatenstiefeln. Jemand fliegt fast dahin und hat doch noch genug Luft, vom Frieden zu sprechen dabei. Anders als der legendäre Marathonläufer stirbt er auch nicht am Ziel. Er eilt dem nahenden König voraus, Waffen und Gepäck hat er abgeworfen, weil er weiß, er wird nie wieder kämpfen müssen. Friede ist eingekehrt: Nicht zu einer Stippvisite, sondern er bleibt.

Das zweite, was wir hören, sind Stimmen.

„Horch!“, sagt der Prophet (was zeigt: er muss Franke gewesen sein!). Die Wächter schlafen oder arbeiten nicht wie andere, sie halten die Augen offen. Und so sehen sie als erste den Tross heranrücken, dessen Banner die richtige Farbe hat. Ihre Stimmen wecken Jerusalem aus seinem Dornröschenschlaf. Die Wächter sehen schon, was die anderen erst zu hören bekommen. Und sie jubeln.

Das dritte, was wir hören, sind die Steine.

Ja, richtig, die Steine. Während in meinem Film zu Jesaja 52 der König (er bleibt für uns unsichtbar – wir „sehen“ hier nur die Reaktionen) durch die Straßen reitet und sein Schatten auf Pflaster- und Mauersteine fällt, brechen auch die Trümmer Jerusalems in Jubel aus. Nicht nur die Menschen müssen erlöst werden, auch die Strukturen, in denen sie leben: Die Straßen, die sie verbinden und auf denen sie sich treffen, die Mauern, die sie beschützen und ihnen nachts die Wärme erhalten und am Tage Schatten spenden. Die Trümmer, die das sichtbare Symbol dafür waren, dass Gott seine Hand von Juda abgezogen hatte, sie sollen jetzt jubeln. So wie ein paar Kapitel später die Bäume in der Hände klatschen. Wenn diese (seine Jünger) schweigen, sagt Jesus am Palmsonntag den Kritikern, dann werden die Steine schreien: Diese Steine.

All diese Stimmen trösten die niedergeschlagene Stadt. Aber selbst 2500 Jahre später fragen wir uns beim Lesen: Nehmen sie den Mund nicht ganz schön voll? Ist die Antwort auf drohende Resignation denn blauäugiger Triumphalismus?

(Teil 3 gibt es morgen)

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Advent 2010 (1): Das ewig alte Lied?

Unser Podcast hatte diese Woche ein technisches Problem, da habe ich beschlossen, die Predigt vom Sonntag in mehreren Abschnitten zu posten, für alle, die es nochmal nachlesen wollen, wenn -hören schon nicht geht. Morgen geht es weiter mit Teil 2.

In diesen Tagen ist die Frage ja erlaubt: Wartet die Welt auf irgendetwas? Alle wirken so beschäftigt. Die Mächtigen wollen, dass alles so bleibt, wie es war. Die Pyramiden, auf denen ihre Macht beruht, sollen halten. Bestenfalls rutscht der einzelne einen Platz nach oben. Und selbst viele, die unten sind in den Pyramiden, träumen nur vom Aufstieg, nicht vom Abbruch dieser Konstruktionen – ein armseliger Traum mit tragischen Folgen. Religion und Militär hatten aus der Sicht der Pyramidenkönige schon immer den Zweck, diese zu sichern und dafür zu sorgen, dass alles beim Alten bleibt. Das war schon im Alten Orient so. Das Symbol dafür war neben der Pyramide das Rad: Es dreht sich immer im Kreis. Einzelne Menschen kommen und gehen, werden geboren und sterben, aber das Volk bleibt und das Großreich mit seinem Gottkönig auch. Es konnte nichts Neues geben. Das Neue kann nur ein Irrtum sein. Wirklich Bestand hat nur das ewige Jetzt.

Nur einer sprang ab vom ewigen Rad. Ein Verrückter, der die Stimme eines Unsichtbaren gehört hatte, eines Gottes, der weder Namen noch Adresse an einer der Prachtstraßen Mesopotamiens vorzuweisen hatte. Abram verlässt Ur und folgt der Verheißung des Neuen. Später hört Mose die Stimme des unbekannten Gottes, von dem es keine Bilder geben durfte, und führte Israel aus dem Schatten der Pyramiden Ägyptens in das Land der Verheißung. Ein Volk von Propheten, das von dem her lebte, was erst noch kommen sollte. Eine Oase der Möglichkeiten in der Wüste ewiger, unerbittlicher Notwendigkeit und Schicksalhaftigkeit.

Aber auch Israel bekommt Probleme. Seine Könige bauen die Pyramiden nach, die sie verlassen hatten. Sie stellen Armeen auf, sie instrumentalisieren die Priester und das Heiligtum, sie bürden den Armen hohe Abgaben auf und bevorzugen die Reichen. Sie verstopfen ihre Ohren gegen die Klagen des Volkes und die Stimmen der Propheten. Am Ende werden Israel und Juda überrollt. Die Militärmaschinen der Assyrer und Babylonier walzen über es hinweg. Es kommt unter das Rad der Geschichte, die offenbar immer eine Geschichte der Großen ist.

Die Revolution ist beendet. Die Reformer sind gestrauchelt.

Das Experiment ist gescheitert. Die Utopie ist gestorben.

Die Lieder von der verheißenen Freiheit sind verstummt.

Die Kriegsmaschinen und Kultbetriebe der Großen drehen sich ungestört weiter und ihr gleichbleibendes Summen scheint zu sagen: Selig die nichts mehr erwarten, denn sie können nicht enttäuscht werden.

Bei uns sind dieses Jahr die Reichen wieder um viele Millionen reicher geworden und die Armen bekommen … 5 Euro mehr Hartz IV – vielleicht. Banker beziehen wieder unanständig hohe Boni, Herr Berlusconi hat wieder ein Misstrauensvotum überlebt. Wir Deutschen sind der drittgrößte Waffenexporteur der Welt, die Wirtschaft brummt auch deshalb und die Bundeswehr verteidigt unverklemmt die Handelswege. Alles bliebt beim Alten: Firmen verlagern Jobs und vergiften weiter Arbeiter und Umwelt, die Eliten verlagern ihre Konten und verachten die Armen, Scharfmacher hier und anderswo gießen Öl ins Feuer der Konflikte, weil man so mehr Bücher, Waffen, Menschen oder Rohstoffe verkaufen kann. Und selbst in den Oasen des Wohlstands: Menschen fühlen sich wie die Zahnräder des Systems: Sie stehen neben sich, sie werden gelebt, alle positive Leidenschaft für einen Beruf, mit dem man sich identifizieren kann, für Menschen, an die man sich mit Haut und Haaren verschenkt, scheint blockiert. Es fehlt den Dingen der Glanz, nichts leuchtet mehr.

Damals wie heute – das Alte scheint so übermächtig. Gott scheint so

… schwach

… abwesend

… desinteressiert?

Ehrlich: Was soll man da noch erwarten? Es müsste schon ein Prophet kommen, um den verhangenen Horizont aufzureißen…

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Rooney in Narnia

Gestern habe ich den dritten Narnia-Film, „Die Reise auf der Morgenröte“, in 3D ansehen können, nun sortiere ich meine Eindrücke. Es ist zwar schon länger her, dass ich das Buch dazu das letzte Mal gelesen habe, aber die Geschichte wirkt ziemlich maßstabsgetreu umgesetzt. Die Animationen sind im Vergleich zum ersten Film, der heute abend im Fernsehen läuft, deutlich verbessert. Die Akteure sind im Wesentlichen dieselben wie bei Prinz Kaspian, nur dass diesmal der käsegesichtige Cousin Eustachius dazu kommt, den man auf Anhieb unsympathisch findet – wenn schon nicht wegen seines exaltierten Namens, dann weil einen die platte Nase unwillkürlich an Wayne Rooney erinnert.

Die Transformation vom Kotzbrocken zum Edelmann ist dann auch das Thema der Handlung, aber da fehlt mir etwas die Tiefe hinter der gelungenen 3D-Oberfläche. Eustachius entdeckt auf einer Wüsteninsel, die die Crew auf der Suche nach sechs der sieben verschollenen Lords erreicht, eine Müllkippe voll Gold und erliegt dem Glitzerzauber. Die Folge ist die Metamorphose des Äußeren entsprechend dem Inneren: Er wird zu dem Monster, das er schon immer war: ein Drache, der – keine Angst – auch bei kleineren Kindern keine Albträume verursachen dürfte. Entsprechend läuft ab da die Handlung in die umgekehrte Richtung: Eustachius erkennt seine Fehler, stellt sich erstmals in den Dienst der Gemeinschaft und wird dafür am Ende von Elmar Gun… äh, Aslan natürlich, erlöst. Das heißt, er bekommt seine ursprüngliche Gestalt zurück und freut sich erstmals „ein Junge“ zu sein (statt den besserwisserischen Erwachsenen zu geben).

Die Rooney-Nase hat er immer noch. Aber man findet sie nicht mehr ganz so unsympathisch.

Es mag an meiner Tagesform gelegen haben – irgendwie hat mich dieser Film nicht so recht berührt. Vielleicht deshalb, weil er sehr an seiner literarischen Vorlage klebt, allerdings selbst mit guter Computergrafik das innere Ringen des Eustachius nicht annähernd so umsetzen kann, wie es der allwissende Erzähler im Buch darstellt. Aber auch die anderen Charaktere bleiben recht schablonenhaft. Nur ein Akteur spielt alle anderen an die Wand: Reepiecheep. Das sagt eigentlich alles…

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Messiashoffnung – zwei Wirkungen

Die Messiashoffnung kann in beiden Richtungen wirken: Sie kann das Herz der Menschen aus der Gegenwart abziehen und in die Zukunft setzen. Dann entleert die Messiashoffnung das gegenwärtige Leben, das Handeln, aber natürlich auch das Leiden an den gegenwärtigen Unterdrückungen. Sie kann aber auch die Zukunft des Messias vergegenwärtigen und die Gegenwart mit dem Trost und dem Glück des nahenden Gottes erfüllen. Dann erzwingt die messianische Idee gerade kein »Leben im Aufschub«, sondern ein Leben in der Vorwegnahme, in welchem alles schon in endgültiger Weise getan werden muss, weil das Reich Gottes auf die Weise des Messias schon »naheherbeigekommen« ist.

Jürgen Moltmann in: Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen. S. 43

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Wer ist hier benebelt?

In den letzten Monaten fand ich beim evangelikalen Medienmagazin Pro den einen oder anderen lesenswerten Kommentar und dachte schon, ob die Redaktion ihre stramm konservative Linie nun aufgibt? Doch mit diesem Versuch, den Verteidigungsminister gegen angebliche Medienhetze in Schutz zu nehmen, rückte sich das Bild wieder zurecht: Alles bleibt, wie es immer war.

Zur Erinnerung: zu Guttenberg war in der Öffentlichkeit fast (und das war das Neue) unisono für seinen Afghanistan-Trip kritisiert worden, auf dem ihn seine Frau und Johannes B. Kerner begleiteten. Letzterer ist (abgesehen von dem Mini-Eklat um Eva Herman in seiner Sendung) ja nicht gerade als kritischer Fragensteller bekannt, sondern als jemand, der seinen Plaudergästen weit entgegenkommt, Und Kerner ist kein politischer Journalist, sondern er macht Unterhaltung im Privatfernsehen. Dass so etwas in Amerika üblich ist, preist „Pro“ nun als Fortschritt an: Der Krieg sei dort als Normalität akzeptiert, man gehe pragmatisch damit um.

Wir hingegen, behauptet „Pro“, haben ein gespaltenes Verhältnis zum Krieg in Afghanistan, davon zeugen die angeblich „benebelten Reaktionen“ der Presse. Vor allem sei man gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Soldaten, und es sei Guttenbergs Verdienst, diese Gleichgültigkeit überwunden zu haben.

Da frage ich mich, in welchem Land der Kommentator Moritz Brecker eigentlich lebt. Von „Gleichgültigkeit“ kann keine Rede sein. Natürlich gibt es eine gewisse Zurückhaltung, vielleicht auch Sprachlosigkeit, aber die rührt doch daher, dass wir feststellen, aus purer Gefälligkeit gegenüber den Amerikanern vor neun Jahren mit in ein Land einmarschiert zu sein, das sich keineswegs so leicht „befrieden“ lässt, wie man damals dachte. Und jetzt, so scheint es vielen, sitzen wir mit auf dem Pulverfass und können weder vor noch zurück. Eine stabile Regierung in Kabul ist nicht in Sicht. Ein Abzug unverrichteter Dinge wäre ebenfalls eine Katastrophe. Was bitteschön sollen wir da noch sagen? Die Familien der toten Soldaten haben sicher Anteilnahme verdient, und die Truppen vor Ort unseren Respekt, aber wer kann denn heute noch den Sinn solcher Opfer stimmig erklären? Völlig Zu Recht schreibt die Zeit dazu:

Aber erklärt werden soll nichts, sondern beworben mit der üblichen Masche, die Kerners und auch Guttenbergs Markenzeichen ist, nämlich kübelweise Emotion, Herz und Betroffenheit. Zweifellos sind die Erzählungen der Soldaten furchterregend. Anstatt zu fragen, warum so etwas überhaupt erlitten werden muss, wendet Kerner das Leid der Truppen in einen Appell an die Bevölkerung, falls diese nicht schon vor dem Fernseher eingeschlafen ist.

Vielleicht wäre mehr Schweigen angesichts der nagenden Zweifel und bitteren Ratlosigkeit derzeit tatsächlich angemessener. Und vielleicht sollte Guttenberg (und in seinem ergebenen Gefolge auch „Pro“ als eifriger Verteidigungsministerverteidiger) das schon mal einüben.

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Viele Lichter und doch kein Leuchten

Wer sich im Advent durch die vorweihnachtlich kaufberauschten Massen in den Innenstädten schiebt denn das Geld sitzt den Deutschen, wie man liest und hört, wieder lockerer in den Taschen, es reckt gar konsumfreudig den Hals über deren Rand hinaus – der kann schon ins Grübeln kommen, ob hier noch irgendwer mit dem Begriff „Erlösung“ etwas anfangen kann, sich nach einer Rettung (geschweige denn einem Retter) sehnt. Sofern man kein Moralist ist (und wer will das noch sein?), kann man augenscheinlich ja doch ganz fröhlich genießen.

Doch passend zum Konsumgipfel des Jahres hört man Stimmen, die den aus der Mode gekommenen Begriff der „Entfremdung“ wieder rehabilitieren. Nicht in dem alten, bevormundenden Sinne des Essentialismus derer, die immer schon ganz genau wussten, was gut und richtig ist, aber um denen zu helfen, die Erfahrungen wie in Worte zu fassen versuchen wie das Gefühl, nicht zu leben, sondern gelebt zu werden. Die Berliner Soziologin Rahel Jaeggi nennt, so beschreibt es Christian Weber in der SZ,

Menschen, die sich in ihren gesellschaftlichen Rollen fremd fühlen, von ungewollten Wünschen beherrscht sind oder an der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Umwelt leiden.

und Ihr Kasseler Kollege Heinz Bude spricht laut Weber von

… Entfremdung in der Arbeit, wenn man keinen Stolz mehr darauf empfinden könne, selber etwas in Gang zu setzen. Entfremdung in der Liebe sei die Unfähigkeit zur Hingabe und dem Außersichsein. Und entfremdet sei auch eine Haltung zur Politik, die unfähig ist zu öffentlicher Leidenschaft. „Entfremdung ist, wenn nichts leuchtet, wenn uns nichts ergreift und wenn uns nichts auf den Grund setzen kann“, so Bude.

Ist es möglich, dass die vielen Lichter in den Fußgängerzonen, Vorgärten und Fensterbänken ein Signal der Sehnsucht sind, dass endlich wieder etwas richtig lebendig und von innen heraus leuchten möge? Und wäre das ein spätmoderner Zugang zu dem jesajanischen Text vom Volk, das im Dunklen wohnt (9,1ff), wenn Amy MacDonald in „The Road to Home“ zum Beispiel singt:

Oh the light is fading all the time and this life I’m in, it seems to pass me by

Und dann fährt sie fort:

But I’ll still remember which way to go. I’m on the road, the road to home

MacDonald sehnt sich zurück nach Schottland, nach ihrer Heimat. Weber schreibt dagegen, der Weg aus der Entfremdung heraus könne nicht im konservativen und/oder romantischen Irrtum bestehen, „den jeweils vorvergangenen Gesellschaftszustand als weniger entfremdet zu preisen.“

Die ersehnte Heimat liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. So sagt es der Prophet auch dem Volk. Glücksratgeber und privatisierte, ihrer theopolitischen Wurzeln beraubte Religiosität helfen nur bedingt: Das Alte kehrt nicht mehr zurück, unsere ganze Hoffnung ruht auf der Verheißung, dass Gott etwas Neues tut, nämlich das drückende Joch entfernt und den Stecken des Treibers zerbricht. Auf dieses Neue passen also die Begriffe, die Jaeggi im Blick auf gutes, gelingendes Leben aufzählt, gar nicht so schlecht. Können Menschen selbstbestimmt Projekte verfolgen, mit denen sie sich identifizieren können, oder noch anders gesagt:

Ist etwas irgendwie anschlussfähig? Ermöglicht es Erfahrungen oder behindert es diese?

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Weisheit der Woche: Alles simpel?

Ich habe mich immer gewundert, dass wir zwar von jedem Fernsehtechniker erwarten, auf der Höhe der Zeit zu handeln, dass aber ausgerechnet dort, wo es um die Fragen des Lebens und Sterbens geht, alles ganz einfach liegen soll. Ich habe deshalb meine Probleme mit Theologen, die alles simpel haben wollen – sich auch mit entsprechender Simplizität in die Diskussionen der Welt- und Wirtschaftskinder einschalten.

Robert Leicht in der Zeit

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Afrika: Schwarzseher irren

Da habe ich eben noch geschrieben, dass wir zu oft ökonomische Maßstäbe anlegen, und just erscheint ein Bericht der Zeit, dass gerade ausgerechnet Ökonomen beweisen, dass es mit Afrika spürbar bergauf geht und extreme Armut dort möglicherweise weitgehend überwunden werden kann – vielleicht muss man also fragen: Was ist schlimmer, als alles ökonomisch zu bewerten? Und die Antwort lautet: Es ökonomisch falsch zu bewerten.

Zurück nach Afrika und zum Nutzen richtiger Bewertungen: Die Misere dieses Kontinents ist lange als unabänderlich beklagt worden, Lichtblicke schien es wenige zu geben. Dabei zeigen die Wirtschaftsdaten nach den Analysen der Ökonomen Maxim Pinkovskiy vom Massachusetts Institute of Technology und Xavier Sala-i-Martin von der Columbia University in New York, dass die Entwicklung seit Jahren zum Guten hin verläuft und keineswegs alles so bleiben muss, wie es aufgrund der bösen oder tragischen Vorgeschichte bisher war. Denn die Zahl der Armen nimmt ab, inzwischen sogar recht zügig, und das lässt hoffen:

Die Zahl der Menschen, die in extremer absoluter Armut leben müssen, sank von 41,6 Prozent im Jahr 1990 auf 31,8 Prozent im Jahr 2006. Sie sank sehr viel schneller in Ländern, die mit besonders hohen Armutsraten begonnen haben, also passen sich die Armutsraten an. »Sogar die elendsten Teile des ärmsten Kontinents können auf einen nachhaltigen Pfad gelangen und innerhalb eines Jahrzehnts die Armut ausrotten«, folgern Pinkovskiy und Sala-i-Martin.

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Emergente Christologie

Vor einer Weile habe ich hier skizziert, wie mein Doktorvater Berndt Hamm den aus der Biologie und Systemtheorie entlehnten Begriff der Emergenz gewinnbringend auf die Kirchengeschichte angewandt hat, und schon vor längerer Zeit darauf verwiesen, dass er auch bei Michael Welker in der Pneumatologie erscheint.

Nun habe ich in den letzten Tagen über der Christologie gebrütet und dazu einen Aufsatz in diesem Sammelband von Hans-Joachim Eckstein gelesen, wo er beschreibt, wie sich innerhalb kürzester Zeit, sprich: schon in den frühen Paulusbriefen, Ansätze einer „hohe Christologie“ herausgebildet haben, die den christlichen Gottesbegriff radikal verändert haben gegenüber dem jüdischen Mono- und dem heidnischen Polytheismus.

Und wieder ist es die innovative Verknüpfung zweier längst vorhandener Traditionen, die die Grundlage dafür bildet: Auf der einen Seite stehen Messias, Menschensohn, Gottesknecht – also die Erwartung, dass Gott durch konkrete Personen geschichtlich handelt und das Schicksal der Welt wendet -, auf der anderen Seite die Weisheit Gottes, die ewigen Ursprungs ist und an der Erschaffung der Welt beteiligt, auch wenn sie im Judentum nicht als richtig eigenständiges Wesen gedacht wird. Nur so war es möglich, die (durchaus später noch auftretenden) falschen Alternativen des Adoptianismus (der wäre so neu nicht gewesen in der Antike) oder des Modalismus (Gott verkleidet sich vorübergehend als Mensch) zu vermeiden.

Freilich geschah dies erst im Rückblick auf das Leben, den Tod und die Auferstehung Christi. Wie das Staunen der Jünger und der Protest der Pharisäer, Priester und Schriftgelehrten zeigt, waren zwar die Puzzleteilchen dafür zwar längst vorhanden, niemand aber hatte sie bis dahin in dieser Form zusammengesetzt und nicht jeder fand die neue Konstellation großartig. Exakt diese spannungsreiche, dynamische Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität ist es, was der Begriff „Emergenz“ bezeichnet. Ein paar Jahrhunderte später erfindet die Kirche dafür dann den Begriff der Dreieinigkeit.

Nach vorn gedacht bedeutet das, dass Theologie durchaus zu neuen Deutungen und Begrifflichkeiten kommen kann, die nicht etwa ein Abfall von der bekannten Wahrheit sind, sondern ein tieferes Verstehen ermöglichen und alte Alternativen überwinden – also auch hier ein „dritter Weg“. Manchmal muss man wohl auch alle vorhandenen Traditionen zusammenbringen und neu kombinieren, um dem gerecht zu werden, was Gott in der Welt tut. Und um noch einmal auf Hamm und die Reformation zurückzukommen: Manchmal ist die Zeit dafür einfach reif.

Ob das auch auf unsere Situation zutrifft, wissen wir dann in fünfzig Jahren…

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