Fränkisches Wintermärchen

Wo der Tennenloher Forst am finstersten ist, da steht gut versteckt eine kleine Hütte. Kein Lichtstrahl dringt in diesen Winkel, kein Vogel singt dort und kein Harvester kam je in seine Nähe. Dort wohnen die Brüder Bodo und Waldo. Die beiden hatten eine schwere Kindheit, dort im Wald. Der Vater starb früh und der Stiefvater versoff das wenige Geld, das ihre Mutter vom Markt nach Hause brachte, wo sie Waldhonig verkaufte. Wenn er betrunken war, schlug er seine Frau und die Stiefsöhne. So schlimm waren die Verletzungen, dass Bodo lebenlang hinkte und Waldo schielte.

Drei Tage nach Waldos sechzehntem Geburtstag schlug der Alte die Mutter bewusstlos und ließ sie im Wald liegen, während er wegging, um sich zu betrinken. Als Bodo und Waldo sie am nächsten Tag fanden, war sie tot – erfroren in der Nacht. Der Stiefvater kehrte nie zurück. Bodo und Waldo verkauften Waldhonig und lebten von Beeren und kleineren Wildereien. Aber jeden Winter, wenn sich der Tod der Mutter jährte, erwachte ihr Zorn.

Sie wussten nicht viel über die Vorlieben des Stiefvaters, nur dass er ein passionierter Langläufer gewesen war. Wenn im Winter genug Schnee lag, schwang er sich auf die Bretter und verschwand für Stunden im Wald. Seine Spuren im Schnee waren vor dem Haus zu sehen und die Jungen hofften jedesmal vergeblich, er würde nie zurückkehren.

Eines Winters lag an diesem ominösen Tag viel Schnee. Er war drei Tage zuvor gefallen, und als Bodo und Waldo den Ort aufsuchten, wo sie die Mutter tot gefunden hatten, stießen sie auf Spuren von Langlaufski. Sie blieben wie angewurzelt stehen, und dann stieß Waldo einen tiefen, herzzerreißenden Schrei aus. Bodo begann, sich die Haare zu raufen und auszureißen und dann trampelten die beiden so lange auf dem Weg herum, bis die Spur nicht mehr zu erkennen war.

Seit jenem Tag streifen Bodo und Waldo durch den winterlichen Reichswald, wenn Schnee liegt. Jeden Morgen beim ersten Licht der Dämmerung verlassen sie die Hütte. Bodo fährt einen halbtoten Traktor mit riesigen Profilreifen und Waldo reitet eine alte Mähre. Sie suchen hin und her im Wald nach Spuren von Langläufern. Und wenn sie irgendwo eine entdecken, dann fahren und reiten sie so lange auf dem Weg herum, bis sie nicht mehr zu gebrauchen ist. Das Pferd tritt mit klammheimlicher Freude tiefe Löcher in den Schnee, die sich mit Schlamm und Wasser füllen und Langläufern das Fortkommen unmöglich machen. Die Reifen des Traktors ziehen mit größter Genugtuung diagonal gerillte Furchen, in denen sich Langläufer nur mit Mühe aufrecht halten.

So hoffen Bodo und Waldo, dass der böse Stiefvater nie zurückkommt. So ist vor allem Waldo und seinem Gaul auch nicht eine Spur entgangen, wenn er mittags in die abgelegene, finstere Hütte zurückkehrt. Dort leben sie bis heute, humpelnd und schielend und fern von anderen Menschen. Ihre einzigen freunde sind ein paar Spaziergänger und Hundebesitzer. Die sieht man ab und zu im Wald, wenn sie die eine oder andere Ski-Spur, die Bodo und Waldo übersehen haben, genüsslich zertreten…

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Eine Antwort auf „Fränkisches Wintermärchen“

  1. Huch, schauder! Gar gruselig ist’s offenbar dieser Tage, ein Langläufer in Franken zu sein…

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