Advent 2010 (3): Unterwegs zum Sehen

(Hier gibt es den gesamten Text der letzten drei Posts als PDF)

In dem Abschnitt (siehe letzter Post) Jes 52,7-10 erscheint der unsichtbare Gott, der im Kommen ist, nie direkt. Er spiegelt sich nur in den Schritten des Boten, der Stimme der Wächter und der Erwartung, dass sogar die Steine in Jubel ausbrechen. Ganz am Ende ist davon die Rede, dass er seinen mächtigen Arm entblößt: Er krempelt die Ärmel hoch und lässt die Muskeln spielen.

Bleiben wir noch einen Moment bei Gottes Unsichtbarkeit. Man muss sie ernst nehmen, um richtig davon reden zu können, dass Gott in der menschlichen Geschichte erschienen ist. Und es gibt zwei verwandte Stimmen, auf die zu hören sich dabei lohnt. Das eine ist die Stimme der Atheisten. Tomas Halik schreibt ja davon, dass hier eine existenzielle Wahrheit hörbar wird, nämlich die der Abwesenheit Gottes. Und die erfahren nicht auf die eine oder andere Art alle Menschen zu bestimmten Zeiten. Für Christen ist es eine wirkliche, wenn auch vorläufige Wahrheit. Sie ist aber nur in der Hoffnung aufgehoben, nicht in unserer täglichen Erfahrung. Da taucht die immer wieder auf, und wir können nachfühlen, was der „tolle Mensch“ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft sagt:

Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?

Die andere Wahrheit, die uns herausfordert, ist die des Judentums, das sich nicht zu Jesus als dem Messias bekennen kann, wie etwa Martin Buber und Schalom Ben-Chorin sagen. Und man muss die Begründung ernst nehmen, auch wenn sie nur ein vorläufiges Nein zu Jesu messianischem Anspruch ist:

Der Jude weiß zutiefst um die Unerlöstheit der Welt und er erkennt und anerkennt inmitten dieser Unerlöstheit keine Enklaven der Erlösung. Die Konzeption der erlösten Seele inmitten einer unerlösten Welt ist ihm fremd, urfremd, von Urgrund seiner Existenz her unzugänglich. (…) Erlösung heißt jüdisch gesehen, Erlösung von allem Übel. Übel des Leibes und der Seele, Übel der Schöpfung und der Kultur.

Die eine Stimme sagt uns also: Es wird nichts mehr kommen. Die andere sagt uns: es ist noch nichts geschehen. Christen teilen die Erfahrungen des leeren Raumes und der unerfüllten Hoffnung, und doch reden wir vom Kommen Gottes. Der Grund dafür liegt in den Versen, die sich am Ende von Jesaja 52 anschließen und den Auftakt für das berühmte Gottesknechtslied in Jes 53 bilden:

Seht, mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und hoch erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun; was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt. (Jes 52,13-15)

Hier finden wir diese gewaltige Spannung zwischen er unauffälligen, ja abstoßenden Gestalt dessen, den Gott sendet, um das Schicksal Israels zu wenden, und der Erwartung, dass diese Wende dennoch nicht nur die Innerlichkeit betrifft, sondern das ganze Leben grundlegend auf den Kopf stellt. Dann versteht man auch endlich, warum so viele Worte und Gleichnisse Jesu damit zu tun haben, dass man das Kommen Gottes (beziehungsweise des Menschensohnes) verpassen kann. Das sind keine Warnungen vor dem, was wir manchmal den „jüngsten Tag“ nennen. Seine Wiederkehr in Herrlichkeit wird niemand verpassen, dann werden die Steine schreien und die Trümmer jubeln. Aber das erste, unscheinbare, verkleidete Kommen, das konnte man sehr wohl verpassen. Es war missverständlich, und dennoch nötig. Gott markiert damit seinen Eintrittspunkt in die Geschichte: Draußen, unten, am Rande. Nicht etabliert, oben, im Zentrum. Und er erduldet die Ablehnung der Welt, statt sie zu ersticken und zu übertrumpfen. Nur so werden neben den Übeln von Leib und Seele auch die der Kultur überwunden.

Wir leben im Glauben, sagt Paulus, und noch nicht im Schauen. Und doch ist es nicht weniger ganzheitlich. Der irdische Jesus, schreibt Jürgen Moltmann, war auf dem Weg zur Offenbarung seiner Messianiät. Der auferstandene Herr ist auf dem Weg zu seiner Herrschaft, die der ganzen Welt umfassenden Frieden bringt. Aber er ist eben noch auf dem Weg – auch auf dem Weg mit uns, die wir bei jeder Feier des Abendmahls mit Paulus sagen: „So oft ihr von diesem Brot esst und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1.Kor 11,26)

Hat das erste Kommen des Messias die Welt verändert? Nietzsches „toller Mensch“ (der einzig „normale“ in einer verrückten Welt) hat einen interessanten Gedanken dazu, der sich nicht nur auf das „Ereignis“ des vermeintlichen, von uns Menschen herbeigeführten Todes Gottes beziehen lässt, sondern vielleicht eben auch auf seine Auferstehung:

Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden.

Das ungeheure (Christus-) Ereignis ist noch unterwegs. Wenn das keine Adventsbotschaft ist! Etwas spekulativ gefragt: Beschreibt Jesaja 52 vielleicht einen geschichtlichen Prozess in dem Sinne, dass die Apostel und die ersten Christen der Bote auf den Bergen waren, spätere Generationen (uns eingeschlossen) den Wächtern auf der Mauer entsprechen und wir den Einzug in die Stadt und den Gesang der Trümmer erst noch vor uns haben und dann gemeinsam feiern – mit Juden und Atheisten und allen Menschen, denen er nämlich auch gilt, und zwar zum Heil, nicht zum Unheil?

Was kann man damit praktisch tun? Nur eins: Vor-läufig schon jetzt so leben, als wäre das die einzige, alles bestimmende Wirklichkeit. Frohe Weihnachten!

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