Kontrastlektüre

Ich habe im Urlaub endlich The Shack (dt.: Die Hütte) zuende gelesen und war underwhelmed, wie es eine Freundin in England ausdrückte, als ich davon sprach. Nun weiß ich auch, dass das Buch viele tief berührt und begeistert hat. Nur wirklich nachempfinden kann ich es nicht.

Richtig begriffen, was mich an der Hütte denn immer so genervt hat, habe ich allerdings, als ich gleich danach von Franz Jalicz Miteinander im Glauben wachsen zur Hand nahm und gar nicht mehr aufhören konnte. Natürlich vergleiche ich hier nun Äpfel mit Birnen, das Genre ist gänzlich verschieden. Das Thema der geistlichen Begleitung dagegen ist es nicht, selbst wenn im einen Fall ein realer Mensch und im anderen Fall drei imaginäre – und hier fehlt mir schon das passende Wort – Gestalten auftreten.

Jaliczs erläutert die Grundzüge geistlicher Begleitung, einfach praktisch und motivierend. Er schreibt hundert Seiten über das Interesse am Gegenüber und das konzentrierte Zuhören. Der arme Mack von William P. Young dagegen dient für mein Empfinden eher als Stichwortgeber für einen weiteren mehr oder weniger spannenden Monolog „Gottes“, manchmal reagieren die allwissenden drei – die mit (sorry…) kitschigen innertrinitarischen Liebesbezeugungen ständig um sich werfen – sogar ausgesprochen amüsiert auf seine Fragen und kurzen Einwürfe (obwohl das Buch sonst komplett frei von Humor in jeder Form ist).

Während sich Youngs „Gott“ seinem „Bodenpersonal“ und jeglicher Form von kirchlicher Institution gegenüber seltsam distanziert zeigt, arbeitet Jaliczs daran, einen Raum zu schaffen, in dem Kritik und Verletzungen ausgesprochen werden können, ohne seine Zugehörigkeit zur Kirche damit in Frage zu stellen oder Missstände dabei zu rechtfertigen. Dem Leidenden lässt er vor allem Zeit – auch das habe ich bei Macks Turbo-Therapie vermisst. Freilich kann Gottes Geist seelische Prozesse auch beschleunigen, im Alltag ist das aber meiner Erfahrung nach eher die Ausnahme. Da werde ich eher nervös, wenn jemand allzu schnell über etwas hinweg zu sein glaubt.

Natürlich ist das weder ein fairer Vergleich noch eine umfassende Rezension der beiden Bücher. Mein total subjektives Fazit der Urlaubslektüre ist daher eher dieses: Über meine Probleme würde ich doch lieber mit Pater Jalics reden. Und ich denke (nur dass kein falscher Gegensatz entsteht): selbst wenn jemand The Shack richtig gut fand, wird er von Jalics‘ Weisheit noch profitieren.

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Das konnte nicht wahr sein

Otto hat versehentlich Macbooks für knapp 50 Euro angeboten. Rund 2500 Kunden haben 6500 Geräte bestellt und wollen den Versand jetzt verklagen, weil der die Geräte zu diesem Preis nun doch nicht hergibt – dafür aber 100 Euro Entschädigung zahlt.

Selbst wenn diese Käufer formal im Recht sein sollten: Die meisten haben mehrere Geräte bestellt, höchstwahrscheinlich um sie für ein Vielfaches weiter zu verkaufen. Dass 49,95 € kein realistischer Preis sein konnte (wenigstens nicht ohne Mobilfunk- oder DSL-Vertrag), kann – muss! – jeder wissen.

Was mich dabei wütend macht: irgendwer bei Otto ist für die Panne verantwortlich und hat unter Garantie schon längst jede Menge Ärger am Hals. Jede weitere Klage gegen seinen Arbeitgeber macht diesem Menschen das Leben noch ein bisschen schwerer. Hier auf den Buchstaben des Gesetzes zu pochen, ist unanständig.

Und über gierige Banker oder Politiker sollte von diesen Leuten auch keiner mehr herziehen. Nur gute Menschen haben ein Macbook verdient…

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Leitung einer missionalen Gemeinde (7): Eine Frage des Charakters

Die missionale Reise in fremdes Terrain stellt für Roxburgh und Romanuk neue Anforderungen an die verantwortlichen Persönlichkeiten. Die Autoren schildern einige Beispiele, bleiben jedoch in ihrer Ausführung der Begriffe eher allgemein, ich begnüge mich hier mit der Aufzählung und mache es kurz:

  • Persönliche Reife (Präsenz, Authentizität, Selbstwahrnehmung)
  • Konfliktfähigkeit
  • Mut

Alles zusammen konstituiert den Faktor Glaubwürdigkeit. Der ist unerlässlich, will man verunsicherte Menschen mitnehmen auf einen Weg mit einem ungewissen Ziel.

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Eine Frage, viele Meinungen

Am Wochenende hat sich eines unserer Kinder beim Sport verletzt. Mein Frau brachte es zum orthopädischen Notdienst, erhielt dort eine erste Diagnose und wurde zur Erstellung eines CT in die Uniklinik geschickt. Dort sprach sie mit einem Assistenzarzt, der das CT für überflüssig hielt und eine Halskrause verschrieb. Wenn es bis morgen nicht besser wird, müssen wir noch einmal zum Arzt, das wäre dann der dritte, und wenn wir Pech haben, die dritte Meinung.

Ähnlich muss es viele Leuten mit den verschiedenen Religionen und Konfessionen gehen. Wie schön wäre es, wenn sie in den wesentlichen Fragen von Diagnose unserer persönlichen und gesellschaftlichen Situation übereinstimmen und dieselbe Therapie verschreiben würden. Oder wenn die Wirtschaftwissenschaftler in der Bewertung der Konjunktur einig wären und unseren Politikern keine verwirrende Vielfalt von Prognosen und Maßnahmenkatalogen gäben.

Wir müssen aber zum Arzt, wir müssen uns um unsere Wirtschaft kümmern (selbst wenn es immer wieder Situationen gibt, wo Nichtstun auch zu sehr annehmbaren Resultaten führt) – und wir müssen uns selbst (und gelegentlich anderen auch) Rechenschaft darüber geben können, was wir glauben und warum es uns sinnvoll erscheint. Wir müssen – um ein weiteres Beispiel zu bemühen – demnächst auch wieder wählen und dabei aus vielen unterschiedlichen Parteien und Kandidaten auswählen.

Die Vielstimmigkeit in all diesen Bereichen ist kein gutes Argument dafür, sich erst gar nicht richtig mit den Themen auseinanderzusetzen. Daher erstaunt es schon, dass die Ansicht so weit verbreitet ist, dass wir es uns leisten können, Fragen nach Gott oder dem Grund und Ziel unserer Existenz scheinbar offen zu lassen. Sollte das die Kapitulation vor der eigenen Ratlosigkeit angesichts des religiösen Pluralismus sein, dann könnte der Arztbesuch vielleicht ein paar Ideen abwerfen, was man tun könnte. Irgendwie schaffen wir es ja auch, eine Entscheidung zu treffen, und sei es nur im Trial-and-Error-Verfahren:

Natürlich kann ich mich auch als Patient einlesen in die Materie, ich kann mich über den Ruf und die Qualifikation der verschiedenen Ärzte informieren (bei Bekannten, im Internet, ggf. in Zeitschriften, alles natürlich ohne Gewähr…) und den auswählen, der am besten abschneidet, oder ich kann meinem Bauchgefühl oder meiner Intuition vertrauen. Je gravierender das Problem, desto mehr Zeit werde ich mir dafür nehmen. In jedem Fall ist es aber ein Risiko und in jedem Fall geht es darum, wem ich vertraue und auf wen ich mich verlasse. Sicheres „Wissen“ gibt es immer erst hinterher, auch in Politik, Medizin und Wirtschaft.

Steht also bei der Entscheidung für eine Glaubensrichtung, Weltanschauung oder Religion akut etwas auf dem Spiel? Eine ganze Menge, wenn man es ernst nimmt: Wofür werde ich Zeit, Kraft und Mittel einsetzen und wofür nicht? Wie definiere ich Erfolg? Worauf setze ich meine Hoffnung und was bringt mich dazu, an ihr auch unter erschwerten Bedingungen festzuhalten? Mit welchen Menschen lasse ich mich ein und wen nehme ich mir zum Vorbild? Niemand ist gezwungen, sich darüber Gedanken zu machen. Es tut nicht weh, wenn wir es unterlassen. Gut, vielleicht tut es schon weh, nur können wir den Schmerz verpasster Chancen oder falscher Entscheidungen gar nicht richtig zuordnen und halten das für „normal“ – schließlich geht es vielen so. Und schlicht auf die Stimmen zu setzen, die mir sagen, was ich hören will, kann auch ins Auge gehen.

Die Entscheidungen fallen dann eher unbewusst – unsere familiären und sozialen Skripte regeln das Überleben schon irgendwie: eine Art quasireligiöse „Werkseinstellungen“, die dann eben unverändert bleiben. Wenn wir also meinen, dass wir unsere Autonomie bewahren, indem wir uns erst gar nicht mit Religionen befassen, die sie eventuell einschränken könnten, dann ist das ein Irrtum. Irgendwer hat schon längst festgelegt, was für uns selbstverständlich ist. Wir haben uns nur noch nie gefragt, wer es war und mit welcher Absicht das geschah.

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Leitung einer missionalen Gemeinde (6): Bereit für Veränderungen?

Ich komme zum sechsten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World:

Die Erwartungen, die eine Gemeinde an ihre LeiterInnen richtet, wachsen in der reaktiven Zone drastisch an. Zum Glück sind Dinge gefragt, die man tatsächlich lernen kann – eine realistische Selbsteinschätzung und ehrliches Feedback vorausgesetzt. Dazu gehören unter anderem

  • Menschen dazu zu verhelfen, sich ernst zu nehmen und der eigenen Intuition zu vertrauen
  • in einer Gemeinde die guten Gewohnheiten des Betens, des Lesens der Schrift, des Schweigens und der Gastfreundschaft zu pflegen, aus denen das missionale Leben dann wachsen kann
  • ein gründliches Verständnis des komplexen sozialen Umfelds einer Gemeinde zu entwickeln und zu vermitteln

Zugleich bleibt die Frage, wohin die Entwicklung eigentlich gehen soll. Das eigentliche Ziel ist es, Gott zu kennen, allerdings darf das nun nicht verkürzt verstanden werden:

Gott zu kennen bedeutet auch, an einem Leben Anteil zu haben, das sich mit einer echten Berufung erfüllt ist, und das zu tun, was uns im Leben aufgetragen ist. Nur indem wir an Gottes Leben teilhaben, können wir unser telos ausleben und in unser Werk und unsere Bestimmung hineinfinden. (S. 117)

Leiten bedeutet, diese Identität einer christlichen Gemeinde im Blick zu behalten und an erste Stelle zu setzen. Denn die Bibel erzählt davon, wie Gott mitten in der Welt eine alternative Gemeinschaft formt. Zur Zeit des Kirchenvaters Tertullian war es üblich, dass neue Christen diesen alternativen Lebensstil sehr gründlich und konkret einüben mussten. Seit der konstantinischen Wende waren die Bischöfe weniger mit der Vermittlung eines konkreten Lebensstils und der Bildung einer Kontrastgesellschaft befasst, sondern beaufsichtigten Theologie und öffentlichen Kultus.

Das Verständnis der Menschwerdung Gottes hielt die alte Kirche davon ab, die konkrete, politische und praktische Christusnachfolge gering zu achten und dem typisch modernen Zwiespalt zwischen innerer Frömmigkeit und einem praktischen Atheismus in der Methodik des Gemeindeaufbaus zu erliegen, der sich unkritisch an der Struktur und Funktionsweise von Behörden oder Unternehmen orientiert.

Christus nachzufolgen bedeutet nicht in erster Linie, ein anderes Bild von sich selbst zu gewinnen, sondern sich einer andersartigen Gemeinschaft mit anderen Verhaltensweisen anzuschließen. Wir sehen in der Apostelgeschichte, wie sich Gemeinschaft gerade nicht durch strategische Organisationsentwicklung bildet und ausbreitet, sondern wie der Geist Gottes solche Pläne und Vorstellungen immer wieder über den Haufen wirft. Die Zukunft der Gemeinde wächst aus ihren praktischen, konkreten Lebensvollzügen und entzieht sich jeder Systematisierung und schematischen Konzeptionalisierung.

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Wenn Dasselbe nicht mehr Dasselbe ist, obwohl man Dasselbe sagt

Ich kann hier immer nur Schnipsel aus George Lindbecks Gedanken zu Theologie, Sprache und Kultur wiedergeben und lebe ganz gut damit, manches erst auf Nachfrage präzisieren zu können, also gehen wir doch fröhlich in eine neue Runde. Lindbeck formuliert eine Alternative zu Relativismus einerseits und der Reaktion des protestantischen Fundamentalismus bzw. katholischen Traditionalismus andererseits. Letztere bringen kirchliche Lehraussagen (die man vom Relativismus bedroht sieht) insgesamt in Misskredit durch den Hang zu einer gewissen Sturheit. Sie übersehen, so Lindbeck (und er beschreibt damit auch einen Kernpunkt der Auseinandersetzung um Emerging Church), nämlich Folgendes:

Die Bedeutung von Riten und Äußerungen hängt vom Kontext ab. Die alten Formen in neuen Situationen wiederzugeben, lässt oftmals die ursprüngliche Bedeutung, den ursprünglichen Geist verlorengehen. Gerade so wie der einzige Weg, Eltern, Ehepartner, Kinder und Nachbarn zu lieben der ist, dass man sich jedem gegenüber auf unterschiedliche Weise verhält, gerade so ist oft der einzige Weg, dieselbe Botschaft zu übermitteln, sie verschieden zu verkündigen. (S. 119f.)

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Das (ewige?) Leben der anderen

George Lindbeck geht der Frage nach, ob mit einem – wie auch immer gearteten – christlichen Wahrheitsanspruch auch zwingend die Vorstellung verbunden ist, dass Nicht- und Andersgläubige keinen Anteil an Gottes Heil erhalten und der ewigen Verdammnis anheim fallen. Den ersten Christen, sagt Lindbeck, war dieses Denken eher fremd:

Die Christen der ersten Jahrhunderte muten an, als wäre ihnen eine ungewöhnliche Verbindung von Gelassenheit und Dringlichkeit in ihrer Haltung gegenüber Menschen außerhalb der Kirche zu eigen gewesen. Einerseits scheinen sie nicht um das letztgültige Schicksal der überwältigenden Mehrheit der Nichtchristen besorgt gewesen zu sein, unter denen sie lebten. Uns sind keine Gewissenskonflikte bekannt, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden, in der sie sich des öfteren befanden, sogar nahen Freunden oder Verwandten verschweigen zu müssen, dass sie Gläubige waren. Die Christen scheinen sich selbst nicht als Hüter betrachtet zu haben, die der Blutschuld der Heiden überführt würden, die zu warnen sie unterlassen haben – das Alte Testament verweist schließlich auf die Verpflichtung, nicht die Heiden, sondern die zu ermahnen, die schon zum erwählten Volk gehören (Ez 3,18). Und dennoch war andererseits die missionarische Verkündigung vordringlich, und Glaube und Taufe waren der Weg vom Tod zum Leben: der Übergang von dem alten zum neuen Zeitalter.

Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, S.92

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Sind alle Religionen gleich?

George Lindbeck hat sich in »Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter« mit der Frage von Religionen und Konfessionen beschäftigt, insbesondere der Annahme, dass die verschiedenen Glaubensformen und -systeme der Ausdruck einer allgemeinen Grunderfahrung sind, die allen Menschen und Kulturen gemeinsam ist – also die Begegnung mit dem „Heiligen“ oder tiefe Gefühle von Liebe, Verbundenheit, Ehrfurcht oder Mitleid. Lindbeck antwortet mit einem kulturell-sprachlichen Ansatz, der in der Sprache, den Deutungsmusters und der Praxis einer Gemeinschaft die Voraussetzung (und nicht etwa die Folge) für konkrete Glaubenserfahrungen sieht. Es gibt also einen gemeinsamen Kern, sondern nur oberflächliche Ähnlichkeiten:

Die ihnen gemeinsamen affektiven Merkmale sind sozusagen Teil ihres Rohmaterials, sind Funktionen jener Gefühle der Nähe zum unmittelbar Nächsten, die von allen geteilt werden, auch von Nazis und Kopfjägern. Es ist genauso ein Fehler, sie als eine Gattung zu klassifizieren, wie zu behaupten, dass alle roten Dinge, ob Äpfel, Indianer oder der rote Platz in Moskau zur gleichen Gattung gehören. (S. 69)

(…) Man kann nicht behaupten, dass zwei Sprachen einander gleichen, indem man zeigt, dass beide sich überlappende Bestände an Lauten gebrauchen oder Referenzobjekte gemeinsam haben (z.B. Mutter, Kind, Wasser, Feuer und hervorragendere Personen und Gegenstände der Welt, die sich Menschen teilen). Was bei der Bestimmung der Ähnlichkeiten unter den Sprachen zählt, sind die grammatischen Muster, die Verweisvorgänge, die semantischen und syntaktischen Strukturen. Etwas entfernt Analoges kann im Fall der Religionen gesagt werden. Die gegebene Tatsache, dass alle Religionen etwas anempfehlen, das »Liebe« zu dem, was am Wichtigsten (»Gott«) zu nehmen ist, genannt werden kann, ist genauso banal wie die uninteressante Tatsache, dass alle Sprachen gesprochen werden (oder wurden). Das Entscheidende sind die unverwechselbaren Erzähl-, Glaubens-, Ritual- und Verhaltensmuster, die »Liebe« und »Gott« ihre spezifische und manchmal sich widersprechende Bedeutung geben. (S. 71)

Religiöse Innovation (wie etwa Luthers Turmerlebnis) entspringt daher nicht einfach nur einer neuen Erfahrung und Gefühlslage im Hinblick auf Gott, die Welt und das Selbst,

… sondern weil ein religiöses Interpretationsschema (wie immer in der religiösen Praxis und im Glauben eingebettet) Anomalien bei der Anwendung auf neue Kontexte entwickelt. (…) Prophetische Gestalten spüren – oft unter dramatischen Umständen -, wie die überlieferten Glaubensmuster, Handlungen und Rituale einer Neuprägung bedürfen (und dass sie neu geprägt werden können). Religiöse Erfahrungen resultieren dann aus diesen neuen konzeptionellen Mustern, anstatt ihre Quelle zu sein. (S. 67)

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Leitung einer missionalen Gemeinde (5): Das „Missional Change Model“

Für alle, die erst hier einsteigen, der Link zu den Kapiteln 1, 2, 3 und 4 aus The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World

Missionale Veränderungsprozesse in Situationen abrupten, nichtlinearen Wandels haben drei Schwierigkeiten: Wir wissen erstens noch nicht genau, wo das angestrebte Ziel liegt, zweitens werden wir auf dem Weg dahin Fehler machen, drittens bewegt sich das Ziel auch noch. Das „Missional Change Model“ soll dem gerecht werden und besteht aus fünf Schritten/Stufen/Phasen:

  1. Bewusstes Wahrnehmen: Oft ahnt eine Gemeinde schon längst, dass etwas nicht mehr stimmt. Dennoch fällt es den meisten schwer, was hinter den Gefühlen von Verwirrung und Beunruhigung steckt. Anstatt nun neue, allgemein verbindliche Ziele auszurufen und so „Klarheit“ zu schaffen, muss ein Raum geschaffen und müssen Begriffe gefunden werden, die das zur Sprache bringen.
  2. Verstehen: Denken und Fühlen muss zusammenfinden. In der Regel setzt das voraus, dass man beginnt, andere Fragen zu stellen. Woraus bestehen die Veränderungen, die wir erleben? Was hat sich in unserem Umfeld verändert? Welche gewohnten Denkmuster helfen nicht mehr weiter?
  3. Bewerten: Jetzt erst (nach 6-12 Monaten) kommt die Zeit, die Haltungen, Werte und Aktivitäten daraufhin zu überprüfen, ob sie den Veränderungen der Gemeinde und ihres Kontextes gerecht werden, warum manche Veränderungen so schwer fallen, wo man von anderen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten könnte, und wo Strukturen und Prozesse überarbeitet werden müssen und vieles mehr. Das Gemeindeleben geht vorläufig ohne dramatische Veränderungen weiter, aber es werden sehr bewusst
  4. Experimente unternommen: Eine Gemeinde, die lange in der Performativen Zone war, wird sich vielen groß angelegten Veränderungen widersetzen, weil man sich das Neue so schlecht vorstellen kann. In den Köpfen dominiert immer noch das Bild dessen, was früher war und ja auch bis eben noch (scheinbar) gut funktionierte. Wenn an einem Auto immer wieder derselbe Defekt auftritt, kann es nötig sein, die Gewohnheiten der verschiedenen Autofahrer in der Familie zu untersuchen, statt immer wieder in die Werkstatt zu fahren. Kleine Experimente verhindern, dass Neues pauschal abgelehnt wird und schaffen Raum für Neues Denken und Verhalten. Dem scheinbar so bedrohlichen Chaos des Experimentierens wird begrenzt Raum gegeben.
  5. Sich Festlegen: Je länge die Experimente andauern und je besser sie verlaufen, desto mehr wird es tatsächlich vorstellbar, dass die Gemeinde anders leben könnte.

Die Offenheit für Neues ist unterschiedlich groß: Wenn man den Veränderungsprozess in Phase 1 mit 50% der Gemeindeglieder beginnt, werden nach rund 18 Monaten etwa 10% an diesen Punkt gelangt sein. Wenn die ersten 10% („innovators“) dann die nächsten 15% („responders“) mit auf die Reise nehmen, sind es nach 3 Jahren etwa 25%. Dann setzt allmählich eine Eigendynamik ein und in den nächsten 18 Monaten wird sich gut die Hälfte auf den neuen Kurs einlassen. Am Ende (und damit muss man auch rechnen) werden noch 10-25% übrig bleiben (oder eben nicht bleiben…), die das Neue nach wie vor ablehnen.

Für Leiter ist dieser Prozess ungemein anstrengend. Das regelmäßige Gebet und das offene Gespräch müssen tiefsitzende Gewohnheiten sein, wenn man nicht den Boden unter den Füßen verlieren will. Zudem geben Roxburgh und Romanuk noch diese Ratschläge:

  1. Eine Bestandsaufnahme des eigenen Wissens
  2. Ein 360 Grad Feedback zu Stärken und Schwächen als Leiter
  3. Zuhören
  4. Neue Schlüsselthemen und -gebiete erschließen
  5. Einen persönlichen Aktionsplan zur Weiterentwicklung
  6. Sich Einlassen

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Leitung einer missionalen Gemeinde (4): Die Kultur einer Gemeinde

Ich komme zum vierten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World

Im westlichen Denken dominiert noch immer ein mechanistisches Weltbild. Wenn man nur die „Mechanik“ und die zugrundeliegenden Gesetze verstanden hat, kann man präzise voraussagen, wie sich ein Objekt verhalten wird. Mit solchen und ähnlichen Prämissen wird auch das Thema des Wandels in einer Gemeinde oft angegangen. Die Autoren setzen dagegen:

Erstens kann man eine Gemeinde nicht über Strukturen und Programme verändern, sondern man muss ihre Kultur verändern: Das Selbstbild, die Werte und ungeschriebenen Gesetze, die den Umgang der einzelnen mit einander regeln und die Gemeinschaft prägen. Zweitens geschieht dies nicht, indem man die Kultur ständig thematisiert, sondern indem man mit einander über die Schrift ins Gespräch kommt und deren Bedeutung für das tägliche Leben am Ort thematisiert. Drittens sind dazu viele winzig kleine Schritte erforderlich und keine große Vision, die von oben verkündet und an der alles ausgerichtet wird.

Ein paar Faktoren bestimmen die Kultur unserer Gemeinden schon längst: Dazu zählt, um mit Ulrich Beck zu sprechen, die Risikogesellschaft. Frühere Sicherheiten verschwinden, Wirtschafts- und Sozialsysteme versagen ebenso wie traditionelle Lebensformen und -strukturen, der Orientierungsverlust verursacht Ängste. Zugleich ist – so Zygmunt Bauman – der öffentliche Diskurs vom Rückzug in und auf das Private geprägt. Kommunikation ist in Zeitalter der Talkshows weitgehend narzisstisch geworden, so dass selbst die Bibel als Selbsthilferatgeber zur Therapie der jeweils eigenen Probleme angesehen wird und der Gottesdienst mit Musik und Predigt nur noch dazu dient, die eigene Stimmung wieder ins Lot zu bringen. Dagegen können Menschen die Kräfte, die ihnen Orientierung und Sicherheit genommen haben, gar nicht richtig benennen.

Um wieder sprachfähig zu werden, brauchen Menschen eine Geschichte, die über ihre persönlichen Bedürfnisse hinausreicht. Zumal unsere Kultur aus kurzfristig zusammengeklebten Fragmenten vergangener Geschichten auch keine gemeinsame Perspektive mehr ermöglicht. Geschichten sind für die Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit entscheidend, sie sind das dramatische Repertoire, mit dem wir uns ausdrücken können. Missionale Gemeinde entsteht, wenn eine bestimmte Geschichte den gemeinsamen Rahmen von Denken und Erleben prägt:

Die biblische Geschichte konfrontiert; sie stellt unsere Konstruktionen in Frage, dekonstruiert unsere Welt, und bietet uns die Möglichkeit, eine andere Lebensweise anzunehmen.

Im Erzählen unserer Geschichte und im Benennen der Dinge und Erfahrungen wirken wir mit an der Erschaffung unserer Welt – es ist ein kreativer Akt. Im Hören auf die Schrift und im Sprechen der Liturgie entsteht die Gemeinde als soziale Wirklichkeit. Wir sind in Geschichten und Traditionen hineingeboren, die schon am Laufen sind. Wenn die uns symbolische Sprache aber verloren geht, verlieren wir mit der Fähigkeit, die Realitäten des Lebens zu benennen, auch die Orientierung. Dann wird eine Gemeinde zur Zuflucht von Individuen, die sich nach Trost und Sicherheit sehnen, statt die Realität der Gottesherrschaft zu bezeugen.

Veränderungsprozesse in der Kultur der Gemeinde berühren auch die symbolische Welt der einzelnen. Gott begegnet uns nicht in der idealen Welt unserer Ideen und Prinzipien, sondern in der Realität unserer Welt als einem Ort der Bedrängnis und Ängste. Daher geht es zunächst darum, dass diese Dinge zur Sprache kommen in einer Gemeinde, und dass sie zu Gott in Beziehung gesetzt werden. Dazu müssen einige Hürden überwunden werden, vor allem das unwillkürliche Schweigen, das verhindert, dass wir bestimmte Gefühle thematisieren oder bestimmte Ansichten in Frage stellen. Zu dieser Offenheit gehört ein geschützter Rahmen, und den schenkt die Praxis der Gastfreundschaft:

In einer gastfreundlichen Umgebung können wir wahrhaftig sein über unsere Ängste und das verwirrende Leben in einer fremden Welt, wo sich die Bedeutung der Kirche verdunkelt hat und die Sprache, die wir gebrauchen, unsere Erfahrungen nicht mehr wiedergibt. Gastfreundschaft und Partizipation laden uns ein an einen Ort, wo wir wieder neu anfangen zu entdecken, dass die Geschichte des Einen in unserer Mitte uns auf einen anderen Weg ruft.

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