George Lindbeck geht der Frage nach, ob mit einem – wie auch immer gearteten – christlichen Wahrheitsanspruch auch zwingend die Vorstellung verbunden ist, dass Nicht- und Andersgläubige keinen Anteil an Gottes Heil erhalten und der ewigen Verdammnis anheim fallen. Den ersten Christen, sagt Lindbeck, war dieses Denken eher fremd:
Die Christen der ersten Jahrhunderte muten an, als wäre ihnen eine ungewöhnliche Verbindung von Gelassenheit und Dringlichkeit in ihrer Haltung gegenüber Menschen außerhalb der Kirche zu eigen gewesen. Einerseits scheinen sie nicht um das letztgültige Schicksal der überwältigenden Mehrheit der Nichtchristen besorgt gewesen zu sein, unter denen sie lebten. Uns sind keine Gewissenskonflikte bekannt, die aus der Notwendigkeit heraus entstanden, in der sie sich des öfteren befanden, sogar nahen Freunden oder Verwandten verschweigen zu müssen, dass sie Gläubige waren. Die Christen scheinen sich selbst nicht als Hüter betrachtet zu haben, die der Blutschuld der Heiden überführt würden, die zu warnen sie unterlassen haben – das Alte Testament verweist schließlich auf die Verpflichtung, nicht die Heiden, sondern die zu ermahnen, die schon zum erwählten Volk gehören (Ez 3,18). Und dennoch war andererseits die missionarische Verkündigung vordringlich, und Glaube und Taufe waren der Weg vom Tod zum Leben: der Übergang von dem alten zum neuen Zeitalter.
Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter, S.92
Wenn Lindbeck mit den „Gewissenskonflikten“ auf den Umstand anspielt, daß das öffentliche Bekenntnis zu Christus in den ersten Jahrhunderten nach Christus oft mit erheblichen Gefahren verbunden war, dann ist seine Behauptung schlichtweg falsch: jeder einzelne frühchristliche Märtyrer (und davon gibt es viele) ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß das Gewissen Christen sehr wohl dazu drängte, ihren Glauben trotz möglicher negativer Konsequenzen zu bezeugen!
Die angesprochene „Gelassenheit“ hat dagegen eine ganz andere Quelle: nicht etwa fehlende Besorgnis über das künftige Schicksal von Nichtchristen hat diese gespeist, vielmehr war es das Wissen darum, daß auch dieses Schicksal letzlich nicht in Menschen-, sondern in Gottes Hand liegt.
Daß darüber hinaus den ersten Christen das Denken, „Nicht- bzw. Andersgläubige“ hätten keinen Anteil an Gottes Heil, fremd gewesen sei, kann mehr als nur bezweifelt werden: das Neue Testament zeigt ja zumindest ansatzweise diese Möglichkeit auf – und die Bekenntnisbildung in den ersten Jahrhunderten greift eifrig darauf zurück. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, ob dieses Denken dem Gesamtzeugnis von Christus gerecht wird – zumal es gesamtbiblisch betrachtet auch Alternativen zu diesem Denken gibt. Aber „fremd“ war es den ersten Christen damit nun wirklich keineswegs!
@ Tobias: Ich wüsste jetzt auf Anhieb nicht, wo das in den altkirchlichen Bekenntnissen groß thematisiert würde…? Und Lindbeck hat sicher damit Recht, dass die neutestamentlichen Warnungen vor dem Gericht ganz überwiegend nach innen gerichtet sind, also nicht gegen die Heiden.
@Peter: Das Wörtchen „eifrig“ ist korrekturbedürftig, mein Fehler. Ich formuliere es mal so: die Aufnahme des Gerichts in den jeweils zweiten Artikel der altkirchlichen Bekenntnisse ist auch Widerhall eines Denkens, das Lindbeck gerne als späte Verzeichnung des christlichen Glaubens sehen würde. Die Schriften der frühen Kirchenväter dagegen kennen – zwar nicht durchweg, aber keineswegs nur als Randmeinung – sehr wohl den Gedanken, daß Heiden, so sie nicht Christus als ihren Herrn und Heiland anerkennen, das Heil Gottes verschlossen bleiben könne.
Daß die neutestamentlichen Warnungen vor dem Gericht überwiegend nach innen gerichtet sind, ist richtig – erklärt sich allerdings auch daher, daß die neutestamentlichen Schriften nun einmal an die bereits an Christus Glaubenden adressiert sind. Damit ist noch überhaupt nicht darüber entschieden, ob dieser Befund den Schluß zuläßt, die Gerichtswarnungen seien lediglich etwa ein pädagogisches Stilmittel etc. und nicht auch dogmatisch verwertbar. Im Gegenteil: bei Paulus scheint es – die Gelehrten streiten sich – in der Tat zwei unterschiedliche Perspektiven auf die „letzten Dinge“ zu geben: einen universalistischen Ansatz, der so etwas wie eine Allerlösung nahelegt, aber eben auch die Vorstellung eines doppelten Ausgangs. Die Argumentation z.B. in Römer 2-3 läßt den Gedanken, der Mensch könne an Christus vorbei zu Gottes Heil gelangen, gar nicht zu (ob es nach dem Tod noch so etwas wie eine „Zurechtbringung“ der zu Lebzeiten nicht Christus angehörenden Menschen gibt, ist zwar eine berechtigte, aber eben auch spekulative Anfrage) – und hat definitiv dogmatischen (im Sinne von allgemeingültigen) Charakter.
Wie erklärt Lindbeck denn die Dringlichkeit missionarischer Verkündigung für die ersten Christen (und die von ihm scheinbar ja nicht erwähnten Martyrien?), wenn die Möglichkeit eines Vom-Heil-Ausgeschlossenseins gar keine „urchristliche“ Vorstellung war? „Nur“ mit dem Verweis auf den Anbruch eines neuen Zeitalters? Ich habe bis heute noch kein überzeugendes Argument dafür finden können, daß das bloße „Schon jetzt“ das Missionsgebot unantastbar machen kann, obwohl das „Noch nicht“ (eingeschlossen die Möglichkeit eines doppelten Ausgangs) gar nicht mehr zur Debatte steht. Ich traue da einer durchaus langen und sehr alten theologischen Tradition sowie *auch* guten exegetischen Gründen mehr als dem Komplex der Postmoderne, für die ein „Zu spät“ – egal aus welchem Grund – ein Sakrileg (weil Erschütterung ihrer Selbstgewißheit) zu sein scheint.
Um keine Mißverständnisse zu erzeugen: ich habe große Sympathien für den Gedanken der Allerlösung und bin von ihm auch in Maßen (d.h.: durchaus verbunden mit Anfragen und vielleicht sogar Aporien) überzeugt – aber daraus unter der Hand die Behauptung zu stricken, den ersten Christen sei der Gedanken von so etwas wie einem doppelten Ausgang fremd gewesen, scheint mir doch deutliche Züge von Projektion zu tragen, weniger von historischer Analyse.
@ Tobias: Ich habe das vielleicht missverständlich zusammengestellt. Lindbeck sagt lediglich, dass diese Frage kein großes Thema war und dass man nicht genau sagen kann, wie die kognitive Dissonanz zwischen der Gelassenheit auf der einen und der missionarischen Aktivität auf der anderen Seite gelöst oder gemildert wurde. Anders heutiger Evangelikalismus und andere konservative Strömungen im Christentum, die ganz genau wissen, was den Nichtglaubenden am Ende alles droht und blüht und die Hölle wie die Trinität zum Glaubensgegenstand erster Ordnung erheben…
@Peter: Ah – gut, wenn das tatsächlich das ist, was Lindbeck zum Ausdruck bringen möchte, dann bin ich da mit ihm ganz d’accord. Mit Jüngel ausgedrückt: „Wo erfahren wird, daß Gott für das Heil des Menschen alles getan hat, da kann man für das Wohl des Menschen gar nicht genug tun.“ – in diesem Sinne kann die Frage nach dem „Danach“ wirklich ein Randthema für Christen sein (ich sehe da übrigens durchaus erfreuliche Entwicklungen im „Evangelikalismus“ der letzen Jahre – da waren die Fronten früher doch wesentlich schärfer).
Für mich liest sich Lindbeck hier allerdings nach wie vor so, daß er tatsächlich erstens von Martyrien nichts weiß (Stichwort „Gewissenskonflikt“) bzw. sie nicht wirklich ernstnimmt, und zweitens die Gelassenheit der ersten Christen angesichts dieses Themas so erklärt, als habe es damals nicht bereits Lehrbildungen gegeben, für die ein doppelter Ausgang zumindest denkbar war. Das ist für mich dann aber ein Ausspielen des „Schon jetzt“ gegen das „Noch nicht“. Läßt sich dieser Eindruck vielleicht durch andere Ausführungen Lindbecks korrigieren?
Wieder ist die Wahl des Ausschnitts das Problem. Lindbeck nimmt auf die Martyrien keinen Bezug, weil es um die Frage ging, was mit denen ist, die noch nie das Evangelium gehört haben (der doppelte Ausgang wird ja als Möglichkeit angedeutet für die, die das Evangelium hören und ablehnen).
Ich vermute, auf Deine Frage würde er antworten, dass die Evangelien natürlich klare Aussagen zum Wert des Christusbekenntnisses machten, ebenso wie die alte Kirche insgesamt dazu viel zu sagen hatte (war es Polykarp, der das Blut der Märtyrer als die Saat der Kirchen bezeichnet hatte?). Und was erfreuliche Öffnungen unter heutigen Evangelikalen angeht, stimme ich Dir auch erleichtert zu. Obwohl das innerevangelikal immer noch zu schweren Verwerfungen führt.
@Peter
Angesichts deiner häufigen Kommentare und Erläuterungen zu deinen eigenen Blogeinträgen, scheint mir, das es für dich ökonomischer währe, deine Artikel nicht zu knapp – und damit miss- oder un-verständlich – zu verfassen.
Gruß
Danke für den Tipp. Andererseits – je ausführlicher, desto mehr Gelegenheiten, etwas misszuverstehen. Man kann sich nicht gegen alles absichern. Umgekehrter Tipp: Versuch doch mal, keinen Kommentar zu schreiben, der länger ist als der ursprüngliche Post 🙂
LOL
@Peter: Von Tertullian, nicht Polykarp, stammt der Satz „semen est sanguis Christianorum“. Aber das nur als Fußnote. Mich würde immer noch ein Kommentar Deinerseits zu meinen Anfragen bezüglich Nadia Bolz-Weber interessieren.