Sinnklaubereien

Vor einer Weile habe ich hier den Begriff „Leib“ schon einmal reflektiert. Kürzlich bin ich beim Lesen von Kolosser 2,12f. wieder ins Nachdenken gekommen. Dort steht nämlich eine auf den ersten Blick ziemlich merkwürdige Aussage:

In ihm habt ihr eine Beschneidung empfangen, die man nicht mit Händen vornimmt, nämlich die Beschneidung, die Christus gegeben hat. Wer sie empfängt, sagt sich los von seinem vergänglichen Körper. Mit Christus wurdet ihr in der Taufe begraben, mit ihm auch auferweckt, durch den Glauben an die Kraft Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat.

Wörtlich übersetzt heißt es am Ende von V. 12: „legt seinen Leib des Fleisches ab“, und man fragt sich, ob Paulus zum Gnostiker mutiert ist, dessen größte Sehnsucht es ist, der physisch-materiellen Welt und dem Gefängnis des Körpers zu entfliehen, um als reiner Geist in die Sphären ewigen Glücks zu entschweben.

Wie sich die Übersetzer ein „Lossagen“ vom eigenen Leib vorstellen, würde mich ja auch sehr interessieren. Und es wäre eine Untersuchung wert, welche dieser Text im Lauf der Jahrhunderte bei der Entstehung eigenartiger asketischer Bußpraktiken gespielt haben könnte. Aber hat er auch einen Sinn für „Normalos“?

Er hat, wenn man die Begriffe richtig versteht. Zuerst den Begriff „Leib“. Bei Jünger habe ich die hilfreiche Formulierung gelernt: Der Mensch ist „Leib“, insofern er ein Weltverhältnis hat. Nur weil wir leiblich existieren, kommunizieren wir auch und stehen in Beziehung zu anderen. Dieses „Weltverhältnis“, das es hier abzulegen gilt, wird weiter bestimmt durch den Begriff „Fleisch“. Damit wird nicht nur auf die physische Vergänglichkeit und Gebrechlichkeit Bezug genommen, sondern „Fleisch“ kann bei Paulus als eine gottferne und gottwidrige Macht erscheinen, von der Menschen befreit werden müssen, beziehungsweise als ein Modus des Menschseins, der sich gegen Gott verschließt – etwa in Galater 5. Diese Art, in Streit und Konkurrenz auf andere und Gott zu reagieren, gilt es tatsächlich abzulegen.

Die Taufe als christliches Pendant zur jüdischen Beschneidung, so wäre die Aussage im Gesamtzusammenhang dann zu lesen, geht weiter als diese, weil sie einen grundlegenderen Wandel bewirkt und ermöglicht. Sie betrifft nicht nur einen symbolischen Teil des „Leibes“, sondern unsere komplette Existenz. Sie nimmt nicht nur etwas weg, sondern sie bringt etwas Neues ins Spiel, für das die Beschneidung der Platzhalter war, der Hinweis auf etwas, das noch ausstand.

Also muss ein Getaufter (das war schon der Streit mit den Galatern) nicht auch noch beschnitten werden, um zum Volk Gottes zu gehören. Nicht Abraham ist für ihn der Einstiegspunkt in Gottes Heil, sondern der auferstandene Christus, dem er vertraut. Dessen Kraft verändert nun alle Beziehungen: Die zu mir selbst (ich erkenne mich als geliebten Menschen), zu den Mitmenschen (ich kann den anderen lieben) und zu den Mächten und Gewalten, deren Zwänge und Drohungen ihre Wirkung einbüßen. Das ist natürlich idealisiert. Tatsächlich ist es ein ständiges Ringen, sich so verwandeln zu lassen. ( vgl. 1,29)

In diesem veränderten Bezug auf die Umwelt entspricht der Glaubende also den veränderten Verhältnissen, die seit der Auferstehung Jesu von den Toten gelten. Es ist insofern eine prophetische Existenz, als weder die Mächte selbst noch das Gros der Menschheit schon erkannt hätten, dass deren unterdrückerische Macht nur noch auf Illusionen und leeren Drohungen beruht.

Sie ist der Nährboden für Zivilcourage, unangepasstes Leben und friedliche (aber keineswegs harmlose) Revolutionen. Zum Beispiel auch davon, sich freizuschwimmen von den Erwartungsschablonen unserer Gesellschaft. Neulich habe ich mich mit ein paar jungen Christen über deren Erwartungen und Lebensträume unterhalten und war hinterher deprimiert, wie oft da Haus, Beruf, Partner und Glück zu hören war, aber nicht mehr als das. Nicht weiter und größer denken zu können, visionär verarmt zu sein, im Materiellen und Privaten erst auf- und dann unterzugehen, das ist das Werk der „Mächte und Gewalten“ der Konsumgesellschaft. Deren Wucherungen gilt es zu beschneiden oder ihnen kontinuierlich abzusterben. Die Taufe ist der Auftakt dieses Prozesses. Derzeit haben wir noch viel Luft nach oben.

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9 Antworten auf „Sinnklaubereien“

  1. Vielleicht hatten die jungen Leute auch nur 1Tim 2 verinnerlicht:

    „So ermahne ich euch nun, dass man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland.“

    Das hört sich nicht gerade wie ein Aufruf zur Sozialrevolution an.

  2. Ja. Die frühen Christen galten trotzdem als gefährliche Staatsfeinde, weil sie den herrschenden Kult nicht mitmachten. Wie müsste sowas heute aussehen?

  3. Ich frage mich in letzter Zeit, ob man den konsumkritischen Ansatz, den du beschreibst, in konservativen christlichen Kreisen vielleicht am effektivsten kommunizieren könnte, indem man zeigt, dass der Konsumismus eine der Formen des „Zeitgeistes“ ist. Und gegen den zu sein, ist hier ja erste Christenpflicht. Vielleicht schafft man es so, Christlichkeit und Bürgerlichkeit wieder ein wenig auseinander zu differenzieren?

  4. 1Tim liefert einen Vorschlag gegen den Konsumterror:
    „Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lässt sich genügen. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so lasst uns genügen.“

  5. @Alex: Das Bewusstsein, Gegenkultur leben zu sollen, ist ja eine ausgesprochene Stärke z.B. der evangelikalen Bewegung. Wenn der Reflex, im Zweifelsfall gegen den Strom zu schwimmen, von bürgerlicher Individualethik auf konstruktive Formen von Sozialethik verlagert werden könnte, wäre das sicher ein Gewinn.

  6. @Lea: Passt gut, das Zitat. In 1.Tim 6 stehen ein paar ziemlich unverblümte Warnungen, die selten gepredigt werden.

  7. Richtet sich die Frage nach der Vision und des Ablehnens von Konsum nicht auch nach der Frage wann Jesus den Menschen im Leben begegnet ? Für Menschen ohne christliches Elternhaus und ggf. obendrein ohne geordnetes Familienleben ist es ein gutes Ziel ihren Kindern ein von Jesus geheiltes und geordnetes Leben zu schenken ohne größere Visionen – einfach nur ein gutes Leben. Menschen die nie Geld hatten, aber irgendwann über Geld verfügen, müssen ggf. Konsum in Ausmaßen (er)leben um zu spüren, dass konsumieren etwas Totes ist. Meine Kinder sind fast groß und vielleicht bin ich an einer Gemeindegründung beteiligt. Das hätte ich mir vor 20 Jahren nicht träumen lassen. Da war es wichtig Mutter zu sein, Geld zu verdienen um uns durchzubringen … . Hätte ich ein christliches Elternhaus gehabt, wäre der Weg vielleicht ein anderer gewesen. Wir starten von unterschiedlichen Stellen, mit unterschiedlichen guten und schlechten Anlagen in Jesu Richtung. Das Konsumdenken wird sich generell in naher Zukunft aufgrund der wirtschaftlichen Situation verändern.

  8. „Es ist kein Anzeichen von Gesundheit, an eine zutiefst kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.“ (J. Krishnamurti)
    Das hieße im Umkehrschluss: gesund = unangepasst.
    Wenn durch die Hinwendung zu Christus ein Gesundungsprozess beginnt und wir anfangen, richtig statt falsch zu denken, kommt es zwangsläufig zu Reibungen und damit verbunden zu irgendeiner Form des Leidens, sei es durch Ablehnung durch die Gesellschaft (wie „Labelzwang“ in den Schulen, oder Verspottung von Hausfrauen oder –männern als „Heimchen am Herd“), oder durch staatliche Zwänge (z.B. Repressalien gegen Homeschooler oder Fernseh-Einheitsgebühren, obwohl man gar keinen Anschluss besitzt).
    Das „System“ erkennt aktives und passives Andersdenken als Bedrohung und sieht schon im bloßen Konsumverzicht eine grundsätzliche Infragestellung und damit eine ernsthafte Gefahr.

  9. Systeme – ja. Man kann sie auch unter dem Begriff „Welt“ zusammenfassen.
    Ich durfte nicht studieren, weil ich Kontakt zu einem Pfarrerehepaar hatte und nicht in die Partei wollte und meine Kinder werden auch heute in der Schule nicht mit Samthandschuhen angefasst, wenn sie als einzige Teilnehmer der jeweiligen Klasse von der Katechetin zur Christenlehre abgeholt wurden, werden. Sie mussten/müssen da immer die eine oder andere Bemerkung aushalten. Ja, der Eingriff in meinen Studierwunsch hing mir lange an aber ehrlich, die Verletzungen die man in christlichen Kreisen in welchen man sich „sicher“ und „daheim“ wähnt, weil das ja der „Leib Christi“ ist, angetan bekommt – die tun richtig weh. Daran kann man „Vergebung“ üben und wachsen. Ich bin da ehrlich immer noch dabei … .

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