Feuchter Triumph

Heute ist das ja zum Glück kaum noch ein Problem – im 19. Jahrhundert standen sich jedoch im frommen Wuppertal Reformierte und Lutheraner nicht sehr freundschaftlich gegenüber. Das Unglück des anderen wurde als Zeichen dafür gedeutet, dass er auch theologisch im Unrecht war. Vor allem an der Frage nach der Prädestination schieden sich die Geister, wie ein (zugegeben: sehr bissiger) Zeitzeuge schildert:

Einmal kam ein alter steifer Lutheraner ein wenig angetrunken aus einer Gesellschaft und mußte über eine baufällige Brücke gehen. Das mochte ihm in seinem Zustände doch etwas gefährlich dünken, und so begann er zu reflektieren: Gehst du hinüber, und es geht gut, so ist’s gut, geht es aber nicht gut, dann fällst du in die Wupper und dann sagen die Reformierten, es hätte so sein sollen; nun soll es aber nicht so sein. Er kehrte also um, suchte eine seichte Stelle, und an dieser watete er, bis an den Leib im Wasser, hindurch, mit dem seligen Gefühl, die Reformierten eines Triumphes beraubt zu haben.

Friedrich Engels, Briefe aus dem Wuppertal (1839)

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11 Antworten auf „Feuchter Triumph“

  1. Vermutlich hat Engels mit Nietzsche gedacht, die Erlösten müssten sich ein bisschen erlöster benehmen, bevor er an ihren Erlöser glauben könnte;-)

  2. Nein, Engels war der Meinung, die Erlösten müssen andere aus ihrem sozialen Elend erlösen, und das haben sie in Wuppertal jedenfalls nicht erkennbar getan, wenn man weiterliest:

    „Aber es herrscht ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht. Denn das ist ausgemacht, daß unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Arbeitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern, unter dem Vorwande, ihnen Gelegenheit zum Trinken zu nehmen, ja bei Predigerwahlen immer die ersten sind, die ihre Leute bestechen.“

  3. Es sind die Beobachtungen des 18-jährigen Engels. Die sozialen Zustände waren sehr schlecht (Kinderarbeit und Krankheiten in hohem Maß, Umweltsünden, …). Die Gläubigen lasen Bibel, setzten das Gelesene aber nach Engel zu wenig um. Eher war man dabei mit dem Finger auf den Nächsten (Bruder) zu zeigen.

  4. Nun war sicher nicht Friedrich Wilhelm Krummacher schuld an den Auswüchsen der Frühindustrialisierung.
    Die Gemeinden hatten freies Wahlrecht und haben ihn zu ihrem Pastor gewählt und berufen. Er galt übrigens als alles andere als engstirnig, musste sich sogar den Vorwurf, „Latitudinarier“ zu sein, gefallen lassen.
    Dass Engels die damalige Erweckungsbewegung wohl eher als eine Überdosis Opium für die werktätigen Massen verstand, hat sicher auch mit seiner Nähe zu Hegels Idealismus zu tun.

  5. @Peter: „das haben sie in Wuppertal jedenfalls nicht erkennbar getan“

    Da bin ich mir nicht so sicher. Bei einem Aufenthalt in Wuppertal war ich in einem Viertel, in dem zahlreiche Schautafeln zur Historie eher vom Gegenteil zeugen.

    Und in Wikipedia habe ich gelesen, dass Wuppertal im 19. Jahrhundert mit seinem diakonischen Engagement sogar richtiggehend Schule gemacht hat:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Elberfelder_System

    OK, das war nach 1839. Vielleicht hat ja Engels mitgeholfen, dass die Christen dort aufgewacht sind. Und ganz viele diakonische Initiativen (darunter auch die Diakonievereine in Bayern) sind eher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.

  6. @Johannes: Das stimmt auch, nur haben die meisten Vereinsgründungen (Diakoniewerke, „Rettungshäuser“, Suppenküchen etc.) eher auf die Symptome als die Ursachen der Misere gezielt. Kapitalismuskritik jedenfalls haben die wenigsten geübt. Mit wenigen Ausnahmen hat das Christentum die „soziale Frage“ verschlafen.

  7. @Lea Özil: Hegel selbst war ja kein Verächter der Religion. Ich denke, bei Engels war es wohl die Enttäuschung über die Tatenlosigkeit von Krummacher & Co (klar hatten sie es nicht verursacht, aber eben auch nicht geändert), die ihn dann zu Marx hinzog, der die Welt nicht neu interpretieren, sondern verändern wollte.

  8. Peter, kennst du David Chiltons Antwort auf Ron Sniders „Rich Christians in an Age of Hunger“ mit dem Titel: „Productive Christians in an Age of Guilt Manipulators“?
    Chilton argumentiert, dass „christlicher Sozialismus“ lediglich getaufter Humanismus ist, dessen Ziel wenigerNächstenliebe, als vielmehr rohe Staatsgewalt ist.

  9. Ich kenne das Buch nicht, das (üble) Argumentationsmuster hat es im 19. Jahrhundert auch schon gegeben. Zum Glück sind wir heute ein Stückchen weiter.

  10. „Hegel selbst war ja kein Verächter der Religion.“ Ja, vielleicht, wenn man „Gott“ mit dem „absoluten Geist“ gleichsetzt.

    Wenn du das soziale Engagement der damaligen (und heutigen) Christen als unzulänglich empfindest, plädierst du dann für politischen und ökonomischen Systemumsturz?

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