Päpstlicher als der Papst?

Im April unterrichte ich Kirchengeschichte beim IGW in Karlsruhe. Heute habe ich mich in der Vorbereitung mal wieder mit der Vorgeschichte der Aufklärung befasst. Im Späthumanismus war eine Schlüsselfrage, wie Vernunft und Offenbarung in der Wahrheitserkenntnis zusammenpassen. Man ging in der Regel von einem harmonischen Miteinander aus. Aber Mathematik und Astronomie als die beiden Schrittmacher brachten bei Kopernikus, Galilei und Kepler (ein exkommunizierter Lutheraner aus Württemberg) Resultate hervor, die nicht nur das implizite Weltbild der Bibel, sondern auch deren expliziten Wortlaut in Frage stellten. Schon vor einer Weile hatte ich hier gelesen, dass die Reformatoren buchstäblich „päpstlicher als der Papst“ waren in der biblisch begründeten Zurückweisung des kopernikanischen Weltbildes:

Luther: „Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift anzeiget, so hiess Josua die Sonne stillstehen, und nicht das Erdreich.“

Melanchthon: „Die Augen sind Zeugen, dass sich der Himmel in vierundzwanzig Stunden umdreht. Doch gewisse Leute haben, entweder aus Neuerungssucht, oder um ihre Klugheit zu zeigen, geschlossen, dass sich die Erde bewegt.”

Calvin: „Wer wird es wagen, die Autorität von Kopernikus über die des Heiligen Geistes zu stellen?“

Wenn man das liest, fragt man sich ja unwillkürlich: Wie werden unsere heutigen Diskussionen mit den Wissenschaften in ein paar hundert Jahren beurteilt, etwa im Blick auf die Frage, was „natürlich“ ist und was nicht? Heute geht es nicht mehr um Astronomie, aber um Anthropologie und Biologie bzw. Medizin. Es muss auch keineswegs immer so sein, dass „die Wissenschaft“ Recht hat und die Theologie bzw. die Bibel Unrecht, „die“ Wissenschaft korrigiert sich ja auch ständig selbst, in den meisten Disziplinen gibt es ja auch kleinere und größere Glaubenskriege. Soll man sich da einmischen, oder noch anders gefragt: Ab wann muss man sich einmischen?

Neben ethischen Fragen wie dem Anfang und Ende des Lebens oder Wegen zu Frieden und Gerechtigkeit ist es vielleicht die Wissenschaftstheorie, die vor allem „bibeltreue“ Theologen erst einmal gründlich interessieren sollte und müsste. Theologie hat eine eigene Perspektive auf die Welt, den Menschen und das Leben, darin besteht der Unterschied zu anderen Disziplinen. Das Verhältnis zu anderen Wahrheiten lässt sich in kein statisches oben/unten und schon gar nicht entweder/oder auflösen. Wenn sich die Tradition und Theologie an das Welt- und zum Teil auch Menschenbild der Antike (und unbewusst allzu oft auch der Moderne bzw. Antimoderne) bindet, beraubt sie sich vieler Möglichkeiten, von Gott angemessen zu reden. Wo sie den Physikern, Biologen und Psychologen vorschreiben möchte, was sie zu entdecken haben, macht sie sich lächerlich. Wo sie aber die gelegentlich erhobenen Absolutheitsansprüche dieser Wissenschaften bzw. einiger ihrer Vertreter im Namen Gottes relativiert – ohne denselben Fehler zu begehen und sich absolut zu setzen –, da hat sie einen Sinn.

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9 Antworten auf „Päpstlicher als der Papst?“

  1. Ich denke, in ethischen Fragen, wie z.B. die von Dir angesprochenen Fragen des Anfangs und Ende des Lebens, sollte die Kirche durchaus mitreden. Allerdings im Dialog mit den Wissenschaften und nicht als ihr Gegner.

    Wo sich die Kirche in der Vergangenheit oft lächerlich gemacht hat war, wenn sie versucht hat, in Fragen der wissenschaftlichen Forschung mitzureden und dabei völlig unwissenschaftlich vorgegangen ist (Stichworte „Heliozentrisches Weltbild“, „Evolutionstheorie“, etc.). Darüber sind wir glücklicherweise größtenteils hinweg. Wie Du schon ansprichst, haben halt leider viele Leute keine Ahnung von Wissenschaftstheorie. Und manche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, die behaupten, die Wissenschaft könnte alles erklären sind da auch nicht hilfreich.

  2. Wobei die Anerkennung der Realität, so wie sie sich uns im 21. Jahrhundert darstellt, nur der erste Schritt sein kann. Von dieser Position aus gilt es, unsere Theologie auf nicht länger haltbare Grundannahmen hin zu hinterfragen, will man nicht Gefahr laufen, in zwei (unvereinbaren) Welten gleichzeitig zu leben. Diese Hinterfragung gelingt uns wohl leichter mit dem Alten Testament als mit den Texten des Neuen Testaments und mit den dogmatischen Grundlagen unserer jeweiligen Denomination. Dabei geht es nicht um eine Wiederlegung von historischen Ereignissen (à la „Jesus ist nicht am Kreuz gestorben; es gibt keine Auferstehung“ ) sondern um das ernsthafte Bemühen, diese Deutungen auch für Menschen des 21.Jahrhunderts kongruent erscheinen zu lassen (-was ja zu jeder Zeit Aufgabe der Theologie war-). Viele Theologie, so wie sie mir begegnet, schadet mit dem Bild, das sie über Gott und diese Welt verbreitet, dem Ansehen Gottes mehr, als es jeder noch so ernsthafter Atheismus jemals könnte
    Zu den Dingen, die für mich nicht mehr intellektuell redlich vertreten werden können gehören u.A.
    – das Sterben von Lebewesen ist durch menschliches Fehlverhalten bedingt („der Tod ist der Sünde Sold“)
    – wir sind alle Leidtragende eines historischen Fehlverhaltens („wie durch den Einen der Tod in die Welt kam“)
    – Jesu Leben und Sterben hat etwas mit diesem Verhalten eines nicht-existenten Wesens zu tun („der neue Adam“)
    – Freiheit heißt: Menschen können sich nur für das Böse entscheiden, und sind von daher im Wesen böse.
    – Die evolutive Entwicklung des Menschen aus unbelebter Materie über Hominide macht alle theologischen Aussagen wie „Wir Menschen sind gefallen; wir sind entfremdet, wir haben unsere Heimat verloren ..“ wenig glaubhaft. Vollendung liegt vor uns, nicht als zu betrauernder Umstand in längst vergangenen Zeiten. Denn wenn wir etwas verloren hätten, müsste es ja jemanden geben, der dies zuletzt besaß. Den gab es aber nicht. Damit macht aber auch das Reden von Versöhnung („Für welche wann stattgefundene Trennung?“) und von der Rebellion des Menschen („wie denn, wenn sie den gar nicht kennen, gegen den sie sich angeblich entschieden haben?“) und dem Zorn über störrische Wesen ebenfalls wenig Sinn.
    Wie aber kann ich dann sinnvoll davon reden, dass Christus für mich gestorben ist und seine Auferstehung mir neues Leben gebracht hat? Darüber grüble ich schon lange nach ….

    1. @Michael: ohne eine befriedigende Antwort auf die vielen offenen Fragen geben zu können:
      – Freiheit und Verantwortung ist, so weit ich sehe, ja auch unter den Evolutionsbiologen ein heiß diskutiertes Thema.
      – Das Thema Versöhnung finde ich insofern auch unter anderen Prämissen relevant, als es vom offenkundigen Zustand einer Entfremdung und der Erfahrung von Feindschaft (dann christologisch bestimmt im Zusammenkommen der wesentlichen Repräsentanten aller Gruppen des Judentums wie des kaiserlichen Statthalters) her in den Blick rückt.

  3. @ Peter: Ja genau, die Freiheit bewussst denkender Lebewesen ist für viele Kosmologen, Evolutionsbiologen und Physiker, egal aus welchen Lager sie kommen, ein ganz wesentlicher Aspekt (bei manchen sogar im Sinne eines „Ziels“ von immanent angelegten Entwicklungsmöglichkeiten) der evolutiven Entwicklung von unbelebter Materie hin zu Lebewesen wie dem Menschen.
    Wenn diese Entwicklung hinzu Freiheit und Verantwortung Teil der Schöpfung Gottes ist, dann entspricht es aber (-anders als bei einem statischen Weltbild, bei dem Gott einmal alles gut gemacht hat und es nachträglich verdorben wurde-) nicht einem angemessenen Weltbild, zu denken (und zu predigen), dass Menschen einen unfreien Willen haben, und im Kern moralisch schlecht sind. In dieser Hinsicht bestärkt die evolutive Sicht das Unbehagen vieler Christen angesichts eines „Evangeliums“, bei dem Menschen erst schlecht gemacht werden, bevor sie dann hören dass Gott sie dennoch nicht hasst, sondern Liebe anbietet. Der Mensch, so wie er heute ist, kommt unvollkommen aus „Gottes Hand“; kein „Störfall“ ist für unseren Um gang mit Freiheit verantwortlich.
    Für mich stellt sich im gleichen Atemzug die bedrängende Frage, ob ich dann noch zu einer evangelischen Kirche gehören will, die in ihren grundlegenden Dokumenten (CA!) sich auf diese „Verderbtheit des Menschen“ festgelegt hat. Historisch völlig nachvollziehbar, aber dies ist für mich einer der vielen Punkte, wo wir als Christen unser Bekenntnis nicht einnmal ansatzweise neu durchdacht und korrigiert haben. (zumindestens kann ich mich an keine Predigt erinnern, in der ich dies so klar formuliert gehört hätte; selbst in unserer Gemeinde sprechen wir in Predigten hin und wieder noch von „verlorener Unschuld“, und dem „Weg zurück“, den es nicht gibt (anstatt deutlich werden zu lassen, dass beide Begriffe komplett irreführend sind, weil der Blick zurück, je weiter wir ihn schweifen lassen, nur noch weniger von dem erkennen lässt, was uns Menschen ausmacht 😉
    Die Perspektive, dass Jesu Sterben und Auferstehung und die Ausgießung des heiligen Geistes Gottes helfende Hand an uns ist, mit dieser schwer zu gestaltenden Freiheit in seinem Sinn umzugehen, ist für mich ein denkbarer Ansatzpunkt, wo Evangelium und Kosmologie sinnvoll zusammen kommen können.
    Würde aber implizieren, dass die Menschwerdung Jesu nicht (nach dem Ruf Abrahams) die zweite Korrekturmaßnahme Gottes an einem gescheiterten Projekt „Menscheit“ ist, sondern von Anfang an notwendig, damit wir unsere Freiheit gebrauchen können, um Gott wirklich lieben (was wir ohne ihn offensichtlich nur ungenügend können).

  4. @Michael: Es gibt m.E. durchaus eine Ebene auf der die Vorstellung „verlorener Unschuld“ (das kam ja von mir am letzte Sonntag) einen Sinn hat – nämlich dass wir alle nicht völlig unbelastet ins Leben starten. Da hat sich ja auch in der Weisheit der verschiedenen Kulturen immer eine Ahnung erhalten, die ich jetzt nicht einfach nur auf „Unvollkommenheit“ reduzieren würde. Um es mit Sobrino aus dem Post von gestern zu sagen: Das Mysterium Iniquitatis ist – „historischer“ Adam hin oder her – schon auch noch da.

  5. @Peter: Ich denke auch, dass wir daran nicht vorbei kommen, dass es zu viel Bosheit, Grausamkeit und Aggression gegen Unschuldige in der Menschheit gibt etz.. Allerdings, und da gibt es mittlerweile sehr viel valides Datenmaterial, ist dies kein spezifisch menschliches Phänomen sondern wird bei anderen Säugetieren (insbesondere Primaten) genauso beobachtet; darüber hatten wir uns ja schon unterhalten. Wir haben dieses Verhalten als Rohmaterial mitbekommen, deswegen empfinde ich das Attribut „verloren“ als wenig hilfreich (auch wenn ich verstehe, was damit ausgedrückt werden soll).
    Wir mögen Schmerz darüber empfinden, dass die Dinge nicht so sind, wie wir sie gerne anders hätten und dieses Empfinden ist tatsächlich weltweit verbreitet, aber die Weisheit der verschiedenen Kulturen drückt dieses Empfinden (genau wie der Großteil der Theologie) in Bildern und Begrifflichkeiten aus, die mit der konkreten Wirklichkeit m.E. nichts zu tun haben. Denn in den geistesgeschichtlichen Wurzeln vieler dieser Kulturen gibt es analoge Vorstellungen von einem anfangs heilen Zustand; insofern ist es für mich verständlich, dass sich auch die Deutung des täglich erlebten Unrechts in diesem interpretativen Rahmen bewegt.
    Auch die Predigtformulierung, dass „Gott es eigentlich anders haben möchte“ finde ich aus dieser evolutiven Sicht problematisch, weil man sie schuldbewusst als Einforderung eines Sachverhalts verstehen kann, der ohne die Hilfe des heiligen Geistes ohnehin nicht möglich ist. Es erinnert mich oft an Situationen hier in der Klinik, wo man Leute erst dafür schimpft, dass sie etwas falsch machen, um ihnen dann zum ersten Mal überhaupt zu erklären, wie das Ganze eigentlich gehen soll.

    Macht das für dich Sinn?

    1. Zwei Sachen ganz kurz: „Verloren“ ist die Unschuld in dem Moment, wo es uns bewusst wird und das Gewissen (es sei denn, man betrachtet das als komplett fremdbestimmt), die Scham (und das Vertuschen) einsetzt, insofern entpricht es einer sehr realen Erfahrung. Ob Menschen das mit Tieren gemeinsam haben, scheint mir zweitrangig, es ändert ja nichts an der Wirklichkeit.
      Wenn wir schon darüber reden können, dass wir es gern (freilich meistens von den anderen Menschen) “ gerne anders hätten“, warum sollte man das von Gott nicht auch sagen können? Evolutiv gesagt: Wenn es ein konkretes Ziel gibt, dann kann man das ja auch verfehlen und in eine ganz andere Richtung unterwegs sein.

  6. Spannende Konversation. Danke, ihr beiden. Ich denke mir manchmal, dass es vielleicht sinnvoll ist, von diesem individualisierten Schuldgedanken wegzukommen. Ist es nicht eher so, dass unsere Wünsche und Triebe und die Bedürfnisse einer Gesellschaft und Gemeinschaft immer wieder aufeinander prallen? Natürlich kann es hier auch sinnvoll sein, von persönlicher Schuld zu sprechen, denn wir nutzen ja alle die Vorzüge der Gemeinschaft und boykottieren sie gleichzeitig oft. Da kann ich dann durchaus den Bedarf von Erlösung erkennen. Aber ähnlich wie Michael fällt es mir irgendwie schwer, daran zu glauben, dass Gott kosmologisch gesehen zornig oder enttäuscht ist. Dass er mit der Welt woanders hin will, kann ich dagegen sofort nachvollziehen.

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