Friede ohne Menschen

Wahrscheinlich könnte man eine komplette Analyse der Gegenwartskultur über die Schlagwörter in Bilderdatenbanken erstellen. Zum Beispiel zum Thema Frieden. Ich war auf der Suche nach einen passenden Foto und bekam fast ausschließlich Bilder angeboten, auf denen entweder niemand zu sehen war, oder eine einzelne Person.

Frieden ist demzufolge nur dann möglich, wenn keine anderen Menschen da sind. So bald sie ins Bild kommen, stören sie den Frieden. Frieden als positives Verhältnis zwischen Menschen, vielleicht sogar zwischen vielen Menschen, so etwas kommt gar nicht recht in den Blick. Also beschränken wir uns auf spiegelglatte Bergseen und andere romantische Motive. Diese abgelegenen Orte finden bestenfalls als Fototapete den Weg in unsere quirlige, unruhige Welt, als dekorativer Kontrast.

Zeit, neue Bilder zu schaffen und an anderen Kontrasten zu arbeiten. Sonst ist Friede irgendwann nicht mehr anders zu denken als in der Isolation.

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Schöpfung – in eigenen, einfachen Worten

Am ersten Oktober ist Erntedank. Ich habe für den Familiengottesdienst eine kleine, freie Nacherzählung zur ersten Schöpfungsgeschichte geschrieben, in der es um die Themen Vielfalt und Schönheit geht. Statt im Imperfekt steht alles im Präsens und Perfekt. Ich fand – finde! – das ganz angemessen. Vielleicht inspiriert sie auch einige von euch…

Am Anfang hat Gott den Himmel und die Erde gemacht. Dazu hat er erst einmal Licht gebraucht. Deswegen gibt es bei uns Tag und Nacht: Mal ist es hell, und mal dunkel. Gott hat der Erde dazu einen kleinen Schubs gegeben. Nun dreht sie sich wie ein großer Kreisel.

Auf der Erde hat Gott dem Meer seinen Platz gegeben und dem Land. Auf dem Land lässt er Kräuter, Blumen und Bäume wachsen. Ganz viele verschiedene: Brennnesseln und Basilikum, Zitronengras und Zuckerrohr, Kartoffeln und Kapuzinerkresse, Mohnblumen und Meerrettich, Weizen und Walnüsse, Hagebutten und Himbeeren, Bananen und Birnen.

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Luke Michael

Damit nicht alle Tage gleich sind, hat Gott die Jahreszeiten geschaffen. Die Tage werden zum Sommer hin länger, zum Winter kürzer. Und den Mond, der ab- und zunimmt, und wieder ab, und wieder zu. Sterne, die man nur im Winter sieht, und manche, die sich erst im Sommer zeigen. Und dann hat er, quer über den Himmel, die Milchstraße gebaut.

Weil die Pflanzen alle still stehen, hat Gott Tiere gemacht. Manche schwimmen im Wasser, andere fliegen am Himmel und nochmal andere krabbeln und laufen über das Land. Viele Arten von Tieren. Tiere in allen möglichen Farben. Ganz winzige Tiere und riesig große Tiere. Mehr Tiere, als der Tiergarten hat. Mehr Tiere, als deine Tierbücher fassen. Sie dürfen von den Pflanzen fressen, sie düngen, dürfen Blüten bestäuben, und Samen für neue Pflanzen vergraben und ausstreuen dürfen sie auch. So helfen sie Gott.

Die Früchte sind die Nahrung für die Menschen: Obst und Gemüse, je nach Jahreszeit mehr vom einen oder mehr vom anderen. Die Menschen hat Gott geschaffen, damit er ein Gegenüber hat: Jemand, der sich mit ihm freut darüber, wie bunt diese Welt ist. Jemand, der gerne Neues entdeckt und die Abwechslung liebt. Jemand, der es genießen kann, wenn die Sonne den Abendhimmel orange färbt und der aus Orangen Saft macht, oder Marmelade, oder Obstsalat. Jemand, der findet, sauer macht lustig. Und jemand, der sich kümmert um all die Tiere, die Pflanzen, die Luft und das Wasser.

Jemand wie dich.

Denn dich hat Gott auch gemacht. Du bist etwas ganz Besonderes. Schau dich mal an. Dich gibts nur ein einziges Mal.

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Mal wieder Kulturkampf

Jesus hat die Familie radikal neu definiert und Geschlechterstereotype aufgeweicht, daran erinnert unter anderem der Predigttext für den kommenden Sonntag, in dem wir lesen: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Mit der Christologie haben die Autoren und Unterzeichner des Nashville Statement wenig am Hut. Sie spielt keine Rolle für ihre eher am Naturrecht und am Begriff der Schöpfungsordnung, und einem fundamentalistischen Bibelverständnis orientierten Einlassungen. Die Sprache der modernen Biologie wird da aufgegriffen, wo sie genehm ist („male and female reproductive structures“), und ihre Erkenntnis abgelehnt, wo es nicht ins Weltbild passt: Adam und Eva sind buchstäblich – offenbar im Sinne von „historisch“ – die ersten Menschen.

Mit anderen Worten: Binäre Heteronormativität wird hier ausdrücklich zum Dogma erhoben. Es wird explizit bestritten, dass es im Blick auf einzelne Menschen unklare Zuordnungen geben kann. Sie liegt bestenfalls in willkürlichen und fehlerhaften Selbstbeschreibungen oder Zuschreibungen begründet.

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Michael Prewett

Dann kommt der Artikel 10, er lautet: „WE AFFIRM that it is sinful to approve of homosexual immorality or transgenderism and that such approval constitutes an essential departure from Christian faithfulness and witness.“ Sünder sind also nicht nur alle, die sich als homosexuell oder Transgender betrachten und bezeichnen, sondern auch alle, die das billigen und unterstützen.

Hier ist unter Christen keine Meinungsverschiedenheit möglich, sagt das Dokument. Und auch wenn die folgenden Artikel von Vergebung und Gnade handeln, so ist doch sonnenklar, dass diese nur den Bußfertigen zuteil wird. Wer auf seiner abweichenden Meinung und Haltung beharrt, der ist verloren.

Ich habe eben als Kontrast die Barmer Theologische Erklärung durchgelesen. Gegen die Ideologie des Dritten Reiches haben die Autoren damals strikt christologisch argumentiert. Nur so konnten die plumpen Biologismen des Rassenwahns und totalitäre Machtansprüche abgewehrt werden. Aber statt sich über die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zu definieren, definierten sie sich über den Bezug zu Christus.

Rechtsevangelikale in den Staaten waren schon immer gern ein bisschen Anti: Gegen kritische Bibelwissenschaft, gegen Evolutionsbiologie, gegen Sozialismus und Kommunismus. Das, was man ablehnte, hatte man oft weder richtig verstanden noch fair dargestellt. Insofern ist auch dieser Schritt noch nichts Neues.

Aber das Nashville-Statement macht eine Art Anti-Genderismus zur Glaubensgrundlage mit totalitärem Geltungsanspruch. Im Gegensatz zur Barmer Erklärung wird nur noch abstrakt auf die Bibel verwiesen, aber nicht mehr ausdrücklich aus ihr zitiert. Und das Statement führt neue Glaubensgegenstände ein, die in den bisherigen Bekenntnissen nie eine Rolle gespielt hatten. Es hat diese Inhalte auch nicht aus der Schrift entwickelt, sondern sie aus der Gegenwartskultur importiert und inhaltlich ins Gegenteil gekehrt. Das wird dann zum nicht verhandelbaren Kernbestand des Glaubens erhoben, so dass der Widerspruch gegen diese dogmatische Neuschöpfung zum Bruch mit Gott selbst führt.

Also, wenn das kein Paradebeispiel für Synkretismus ist…

Die spannende Frage wird nun sein, ob und wie dieser Aufruf zum Kulturkampf in der evangelikalen Welt rezipiert wird. Ein paar progressive Stimmen haben schon Gegenerklärungen veröffentlicht. Das ist keine große Überraschung. Aber in Anbetracht dessen, wie fragwürdig hier aktiv Bekenntnisbildung betrieben wird, müsste der Widerspruch eigentlich noch viel breiter und energischer ausfallen, als es in den ersten Tagen nach dem Erscheinen der Artikel geschehen ist. Einfach nur schweigen ist eigentlich keine akzeptable Option.

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Wie Glaubenstreue zum ethischen Problem werden kann

Auf dem Greenbelt-Festival hat der geschätzte Theologe und Liederdichter John Bell sich letzte Woche öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. Er verband dies mit der Erinnerung an Lizzie Lowe, die sich 2014 aus Angst und Scham das Leben genommen hatte. In den USA dagegen erschien das „Nashville Statement“ mit alten und neuen Verurteilungen.

Die beiden Beispiele zeigen, dass die Ressentiments und Verurteilungen, die Lizzie in die Verzweiflung getrieben haben, auch knapp drei Jahre später noch wirksam sind. Ich hatte kürzlich Kontakt zu einer Person, die ich lange aus den Augen verloren hatte. Ihr Coming Out vor einigen Jahren hatte zur Folge, dass sich viele Freunde und Weggefährten sang- und klanglos zurückzogen – als hätte es nie eine Beziehung gegeben, als wäre rückwirkend alles wertlos, was zuvor noch als verbindend erlebt worden war. Zum Glück reagierten so nicht alle, und zum Glück fand sich auch eine Gemeinde, die Homosexuelle nicht für unberührbar hält.

Aber was für ein schwerer Weg!

Ich habe mich ja über die Jahre auch immer wieder an dieser Diskussion beteiligt. Manches davon ist mir wieder durch den Kopf gegangen, als ich in den letzten Wochen den Grundkurs Ethik von Fischer, Gruden, Imhof und Strub (Zürich/Bern) las. Allzu oft, scheint mir, führt allein schon die formale Herangehensweise an die ethische Urteilsbildung dazu, dass sich nichts bewegen kann.

In dieser Herangehensweise hat sich für mein Empfinden oft sehr klar widergespiegelt, dass die eigentliche Fragestellung gar nicht die eines guten und verantwortlichen Umgangs mit Mitmenschen war, die eine andere sexuelle Orientierung haben, sondern die nach der eigenen Bibel- und Glaubenstreue. Deswegen treffen die Verurteilungen ja nicht nur eine bestimmte Praxis, die in den Kirchen bisher unüblich oder unterdrückt war, sondern auch alle, die eine andere Haltung dazu einnehmen.

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Wenn man sich der eigenen Glaubenstreue vergewissern möchte, dann wird man in der Regel defensiv verfahren und den konservativen oder traditionalistischen Lösungsweg beschreiten: Da stellt sich zuerst die Frage nach der Norm, an der Glaubenstreue bemessen wird, nämlich Schrift und Bekenntnis bzw. in der römischen Kirche das kirchliche Lehramt und die Traditionen. In beiden Fällen geht es um normative Aussagen in Form von Texten. Texte, die möglicherweise als historisch entstanden gelten dürfen, deren zeitlose, allgemeine Verbindlichkeit aber zugleich auch immer schon vorausgesetzt wird. Was damals wahr und richtig war, kann heute nicht falsch sein (im Gegensatz dazu lässt sich durchaus sagen, was damals angemessen war, ist es heute nicht automatisch auch).

Nun sind dieselben Christen, die so defensiv argumentieren, durchaus in der Lage, an anderer Stelle situativ oder konsequentialistisch zu entscheiden und mit Normen flexibel umzugehen (oder nicht jede deskriptive Aussage der Schrift/Tradition gleich als deont(olog)ische Norm zu interpretieren). Auch wenn das Stichwort „Situationsethik“ meist verpönt ist, weil man irrtümlich unterstellt, damit ließe sich alles Mögliche zurechtbiegen. Diese Entscheidungsspielräume tun sich just in dem Moment auf, wo man sich nicht gleichzeitig auch noch der eigenen Glaubenstreue vergewissern muss. Beim Thema „Reichtum“ ist das zum Beispiel oft der Fall. Das gilt im konservativen Christentum tendenziell als Adiaphoron.

Also liefern die Exegeten einen biblischen „Befund“. Der fällt unweigerlich so aus, dass „Homosexualität“ (ein neuzeitlicher Begriff, der in der Bibel so nicht vorkommt) negativ konnotiert ist: Da, wo etwas erwähnt wird, was sexueller Aktivität unter Personen gleichen Geschlechts zugeordnet werden kann, sind ablehnende moralische Urteile anzutreffen. Diesen historischen Befund reicht man weiter an die systematischen Theologen, die im Grunde nur noch darüber diskutieren dürfen, wie freundlich oder schroff, mit wieviel verständnisvollem Bedauern und wieviel „prophetischer“ Schärfe man diese Norm nach außen und innen kommuniziert. Der Rest bleibt dann den Seelsorger*innen überlassen. Die sind nicht zu beneiden um diese Aufgabe.

Mir scheint, hier trifft zu, was Fischer & Co so formulieren: „Diese Debatte ist ein Beispiel dafür, dass die eigentliche Problematik vieler moralischer Fragen in der adäquaten Beschreibung steckt und nicht so sehr in der Begründung.“

Fast in jedem mir bekannten Fall, wo Christen ein solches Urteil zu revidieren in der Lage waren, kam eine persönliche Betroffenheit dazu, die die Frage nach der Glaubenstreue in den Schatten gestellt hat: Ein Familienmitglied, eine gute Freundin oder jemand, dessen Ernsthaftigkeit im Glauben ich nicht anzweifeln kann, ist von einem Ausschluss aus der Gemeinschaft betroffen. Der Schmerz darüber wiegt schwerer als die Sorge um den eigenen Status. Oder anders formuliert: Das ablehnende Urteil gegen jemanden, mit dem ich mich identifiziere, trifft auch mich. Ich denke jetzt mit ihm von einem anderen Ort her, von „draußen“. Das bisherige, konventionelle Urteil wird ausgesetzt und alles noch einmal neu beschrieben, durchdacht und abgewogen. Moralische Intuitionen kommen ins Spiel. Dreh- und Angelpunkt der Überlegung ist nicht mehr die kodifizierte Glaubensüberlieferung und die Frage nach der Richtigkeit, sondern die geliebte und geschätzte Person und deren Wohlergehen. Neue Sichtweisen auf biblische und kirchliche Aussagen werden möglich. Meistens erwachsen sie aus einer neuen Praxis, die sich in dieser Zwischenphase herausbildet, in der das Urteil ausgesetzt ist.

Fischer & Co nehmen in ihrem Grundkurs auf Luthers Freiheitstraktat Bezug. Dort ist es der Glaube, das Sich-Bestimmenlassen durch Christus, der den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott von allem Rechtfertigungsdruck befreit. Der so befreite Christenmensch kann nun eben diese Freiheit nutzen, um selbstvergessen zu fragen, was für die/den Nächste(n) gut ist und wie man ihm/ihr gerecht wird.

Was die anderen, die sich mit Richtigkeiten beschäftigen, dazu sagen, ist dann egal.

Deswegen sind Menschen wie John Bell und die Zeichen, die sie setzen, so wichtig. Wir brauchen sie in den Kirchen und Gemeinden. Sie machen es auf die Dauer unmöglich, die Fragen unterschiedlicher sexueller Orientierung als etwas zu behandeln, das es nur irgendwo da draußen gibt, und es als Thema für interne Rechtgläubigkeitsdiskurse zu missbrauchen. Ich wünsche und hoffe, dass junge Christen bald genug solche Freunde und Bekannte haben, dass sie das alte Spiel nicht mehr mitspielen.

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Rechtspopulismus als »rebellierende Selbstunterwerfung«

Auf Empfehlung von Walter Faerber lese ich gerade „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ von Ulrich Brand und Markus Wissen. Die beiden Autoren zeichnen ein detail- und kenntnisreiches Bild dessen, was sie Imperiale Lebensweise nennen. Sie beruht darauf, dass in den Zentren unserer kapitalistisch-neokolonialistischen Welt möglichst ungehindert konsumiert wird, während die Kosten (Umweltschäden, soziale Folgen) weitgehend ausgelagert und unsichtbar gemacht werden. Allein dazu gäbe es schon eine Menge zu sagen.

Die imperiale Lebensweise funktioniert als Hegemonie. Sie schreibt sich in alltägliche Prozesse und Gewohnheiten ein und lässt sie als „normal“ erscheinen: „Sie ist den einzelnen nicht länger äußerlich, sondern bedient sich ebenjener Mechanismen, mit denen sie auf sich selbst einwirken, entfaltet also ihre Wirkung gerade dadurch, dass sie nicht als Herrschaft empfunden wird.“ (S. 58).

Mit anderen Worten: Sie ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Buchstäblich.

Inzwischen ist ein Stadium erreicht, wo diese Lebensweise multiple Krisen erzeugt hat, die sich nicht isoliert voneinander lösen lassen.  Das liegt daran, dass in einer globalisierten Welt das „Außen“, in das die Kosten verlagert werden können, immer schwerer zu finden ist.

Also bleibt nur die Abschottung. Sie ist das Leitmotiv der gegenwärtigen Flüchtlings- und Wirtschaftspolitik von Angela Merkel. Und sie macht die Rechten stark, wie Brand und Wissen betonen, führt also bei uns immer mehr zu einer Krise der liberalen Demokratie:

Damit bringen die diese Politik exekutierenden Kräfte, die sich in der Regel als »bürgerliche Mitte« etikettieren, genau das hervor, was sie als ihren Widerpart begreifen: autoritäre, rassistische und nationalistische Bestrebungen. Dass diese derzeit überall erstarken, liebt auch daran, dass sie sich in der Krise als die eigentlichen, weil konsequenteren Garanten jener Exklusivität inszenieren können, die im Normalbetrieb der imperialen Lebensweise immer schon angelegt ist. (S. 15)

Hier liegt die Attraktivität der neuen Rechten von Trump über Farage bis Gaulandt. In dem Moment, wo die hässliche Seite der imperialen Lebensweise nicht mehr vertuscht und geschönt werden kann, werfen sie alle sprachlichen und moralischen Skrupel über Bord und erklären offen den Verteidigungsfall.

Andre Hunter

… im Unterschied zu ihren »bürgerlichen« Konkurrenten sind sie in der Lage, ihrer Wählerschaft ein Angebot zu machen, das diese auf eine subalterne Position festlegt, und sie gleichzeitig aus ihrer postdemokratischen Passivierung befreit. […] Den Akteuren wird es dabei ermöglicht, »sich als Handelnde in Verhältnissen zu konstituieren, denen sie ausgeliefert sind.«

Das erklärt, warum rechte „Kapitalismuskritik“ ausschließlich da einsetzt, wo unerwünschte Folgen der imperialen Lebensweise im Inneren anfallen und  spürbar werden: Wenn der unrentable Kohlebergbau eingestellt wird, wenn der Staat Geld für Geflüchtete ausgibt, wenn das imperial normierte, androzentrische Verständnis der Geschlechterrollen in Frage gestellt wird.

Die Kritik an den Eliten ist lediglich die, dass sie die Interessen „des Volkes“ nicht rücksichtslos genug durchsetzen im globalen Wettlauf um Ressourcen und Wohlstand. Konsequent ausgeblendet wird dabei alles, was sich auf das „draußen“ bezieht: Klimawandel, Fragen der Gerechtigkeit, Krieg, Flucht und Vertreibung in anderen Teilen der Welt.

Die Rechten sind alles andere als eine Alternative. Sie sind die Hohenpriester der Alternativlosigkeit. Aber wer die imperiale Lebensweise (ob ausgesprochen oder nicht) für alternativlos hält, der macht die Rechten stark.

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Schottisches Tagebuch (4): Fetisch auf vier Rädern

Seit unserem letzten Besuch ist die Zahl der Touristen in den Highlands drastisch angewachsen. Quälend langsam dahinzuckelnde Wohnmobile mit desorientierten Fahrer*innen verstopfen die Single Track Roads, und wie das mit den Ausweichbuchten funktioniert, das hat sich auch noch nicht jede(r) genau angeschaut.

Der Postbote von Duirinish hat es irgendwann satt. Hupend überholt er drei italienische Campervans, die mit müden 20 km/h über den Asphalt kriechen, dann bremst er, steigt aus und liest dem Lenker des ersten Fahrzeugs energisch die Leviten. Er steigt wieder in sein rotes Auto und zischt davon, die eingeschüchterten Camper lassen die lange Schlange, die sich hinter ihnen angestaut hat, endlich passieren. Hoffentlich hält die Zerknirschung noch eine Weile.

Und dann brettern da ja noch die vielen SUVs herum. Schwerer, breiter und vor allem lauter durstiger als die Kleinwagen, die sonst hier immer anzutreffen waren. Gut wegen der dicken Schlaglöcher vielleicht, aber man sieht es den winzigen Sträßchen deutlich an, dass sie für die Lieblingsspielzeuge der oberen Mittelschicht nicht gebaut wurden.

Was macht die Dinger so populär?

Ich glaube, es handelt sich hier um einen klassischen Fetisch: Ein Symbol für etwas, das verloren gegangen ist, und dessen Vorhandensein diesen Verlust zugleich anzeigt und verdeckt: Den Verlust unseres Verhältnisses zur Schöpfung. Wir isolieren uns gegen alle Umwelteinflüsse, wir halten uns die Möglichkeit offen, an jeden Punkt im Gelände ohne körperliche Anstrengung zu gelangen, ohne den unberechenbaren und womöglich widrigen Elementen ausgesetzt zu sein. Der wuchtige Panzer macht uns quasi unverwundbar im Straßenverkehr. So lange man hinter dem Steuer sitzt, kann man sich ein bisschen übermenschlich fühlen.

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In Wirklichkeit sind wir ebenso verwundbar wie die Natur, über die die großen, breiten Räder hinwegrollen. Aber zu beidem haben wir ein gebrochenes Verhältnis: Zur eigenen Schwäche, weil sie uns Angst macht, und zur Natur, die wir zum Erlebnis- und Freizeitpark umfunktioniert haben – einer Kunstlandschaft, die unseren Bedürfnissen entspricht ohne je eigene Ansprüche anzumelden. Sie wird zur beliebig austauschbaren Selfie-Kulisse.

Genauso gilt freilich: Dass Sneakers, Sportklamotten und Jogginganzüge so populär sind, offenbart gerade den Bewegungsmangel, nicht etwa die Sportlichkeit unserer Gesellschaft.

Was man nicht alles lernt, da draußen.

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Schottisches Tagebuch (3): Urwald und unerwünschte Einwanderer

Wir wundern uns über großflächige Abholzungen im Cairngorm-Nationalpark. Im Besucherzentrum erklärt uns eine Mitarbeiterin von den Park Rangers, dass man dort Bäume entfernt, die in dieser Region ursprünglich nicht heimisch waren. Dann kann sich der kaledonische Urwald aus dem Rothiemurchus Forest allmählich wieder ausbreiten, der hier früher einmal alles bedeckte.

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Mich beschäftigt beim Weitergehen, dass derzeit einige politische Bewegungen ihre Ideen offenbar aus der Forstwirtschaft borgen. Deutschland (oder Brexit-England) wollen sie unter so etwas wie Artenschutz stellen. Alle Fremdgewächse gilt es fern zu halten oder wieder zu entfernen. Und wer die Grenzen offen halten möchte, wird beschuldigt, damit das fragile Biotop zu gefährden. Meistens wird als Motiv für eine Öffnung Profitgier vermutet – schließlich mussten auch unsere heimischen Laubwälder schneller wachsenden Nadelhölzern weichen, aus denen wir Möbel und Papier machen.

Aus drei Gründen sind diese Bewegungen schief gewickelt:

Erstens sind Menschen sind keine Bäume. Sie können sich frei bewegen und haben das immer getan. Staatsgrenzen sind ein verhältnismäßig junges Phänomen und wer weiß, wie lange sie noch funktionieren. Vor allem aber haben Menschen nicht das Recht, andere Menschen zu verpflanzen.

Wir sind – zweitens – alle Hybride, genetisch wie kulturell. Und wie armselig wäre es um uns bestellt, wenn es anders wäre. Schön ausgeführt hat das Miroslav Volf – ich habe es hier schon einmal zitiert. Wer Deutschland abschotten will, der darf sich nicht wundern, wenn sich in ein paar Jahren Bayern, Sachsen, Saarländer oder Ostfriesen von den anderen teutonischen Stämmen separieren. Mit denselben Argumenten, die jetzt gegen alles Fremdländische vorgebracht werden.

Drittens sind Monokulturen einfach ungesund. Sie sind ja auch ein Problem für nachhaltige Forstwirtschaft. In unseren Breiten wird der seit dem frühen 19. Jahrhundert angelegte Bestand an Fichten und Kiefern kräftig reduziert, weil er vom Klimawandel akut bedroht ist. Der Wald (er ist ja durchweg Nutzwald) muss sich verändern, wenn er überleben will. Wenn wir schon aus der Forstwirtschaft etwas für unsere Gesellschaft lernen, dann vielleicht das: bunter ist besser.

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Schottisches Tagebuch (2): Etwas zurückgeben

Wir begegnen Tom (in Wirklichkeit heißt er anders) und seinem Freund Bill. Sie waren bis spät in der Nacht fischen – ohne Erfolg. Die Müdigkeit sieht man ihnen noch an. Dennoch ist es für beide ein willkommener Ausgleich zum stressigen Beruf. Tom sagt das immer wieder, wie gut die relative Ruhe der Highlands ihm tut und wie verrückt unser Lebensstil doch ist.

Wir erzählen von unseren jeweiligen Lieblingsorten, dann von unseren Berufen. Tom arbeitet in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb in Osteuropa. Investoren haben dort vor Jahren riesige Flächen billig aufgekauft und wirtschaften nun mit Hightech-Methoden. Die einheimischen Arbeitskräfte verdienen gut. Trotzdem denkt Tom darüber nach, aufzuhören. Er träumt davon, in seiner Heimatregion einen Hof zu kaufen und ihn ökologisch zu führen. Die beiden haben beim Angeln lange darüber geredet. „Wir haben so lange so viel von dem Land genommen“, meint Tom. „Jetzt möchte ich etwas zurückgeben.“

Seine Geschäftspartner haben wenig Verständnis dafür. Aber mir geht sein Satz nicht mehr aus dem Kopf. Egal, was wir für Berufe haben: Unsere Gesellschaft hat der Erde (und allen, die auf ihr leben) mehr genommen, als uns fairerweise zusteht. Es geht darum, etwas zurückzugeben. Oder vielleicht auch weiter- und „vorauszugeben“ (im Englischen gibt es ja den Ausdruck „giving forward“).

Ökobauer werde ich wohl nicht mehr. Aber ich halte die Augen offen nach anderen Wegen.

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Schottisches Tagebuch (1): Superman fährt Rad

Kürzlich traf ich Superman. Er stand mit seinem rot-gelben Emblem auf blauer Brust an einer Weggabelung. Das Cape hatte er wohl zuhause gelassen, dafür hatte er ein Fahrrad dabei – und seine Familie. Der eine unebene Weg führte auf eine nahe Passhöhe, der andere weiter hinein in ein sachte ansteigendes Tal. Superman schien noch unentschlossen, die Familie sah eher genervt aus. Die Räder waren allesamt nicht recht geländetauglich. Die Gruppe wirkte auch nicht so, als würden sie viel mit dem Rad fahren. Klar, Superman bewegt sich anders fort, wenn er im Dienst ist.

Ich lief weiter Richtung Passhöhe, die Superfamilie stand noch eine Weile herum und nahm dann den anderen Weg. So richtig kamen sie nicht vom Fleck. Nach etwa 200 Metern begann das Mädchen mit lauten Unmutsbekundungen. Die Karawane geriet wieder ins Stocken. Lief nicht so super bei Superman & Co. Ich hätte nicht mit ihm tauschen mögen.

Mein Weg führte dann steil bergauf und ich musste schauen, wohin ich trete. Irgendwann verlor ich sie aus den Augen.

Schon klar, dachte ich, dass „echte“ Superhelden keine Familie haben. Man schaut einfach nicht so souverän aus, wenn man mit denen unterwegs ist. Sie haben ihren eigenen Kopf, ihre Launen und Wehwehchen. Sie denken nicht daran, dich anzuhimmeln.

Später am Nachmittag traf ich Superman wieder, diesmal im Supermarkt. Offenbar waren alle heil zurück von dem anstrengenden Ausflug. Die Superkinder bedienten sich aus den Regalen und auch unser Held sah wieder ganz entspannt aus.

Ich dachte mir: Radfahren und sich um die Familie kümmern ist doch eine super Sache. Aber vielleicht sollte man dabei ein anderes T-Shirt tragen.

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Wahrheit, Freiheit und der Zwang zur Wahl

Ich habe wieder mal „Das hier ist Wasser“ von David Foster Wallace herausgekramt. Am Ende seiner Ansprache an die Absolventen des Kenyon College heißt es da, aktuell wie eh und je:

In den Niederungen des Erwachsenenalltags gibt es keinen Atheismus. Man kann nicht nichts anbeten – jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Und ein höchst einleuchtender Grund, sich dafür an einen Gott oder etwas Spirituelles zu halten […], ist der, dass euch so ziemlich alles andere bei lebendigem Leib auffrisst.

Wenn ihr Geld und Güter anbetet – wenn ihr daraus den wahren Sinn des Lebens bezieht –, dann werdet ihr davon nie genug haben, nie das Gefühl haben, dass es reicht. Das ist die Wahrheit.

 

Foster Wallace spielt diesen Gedanken jeweils noch einmal mit Schönheit, Macht und Intellekt durch, dann fährt er fort:

Wisst ihr, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind. Sie sind Standardeinstellungen. Sie sind Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert, jeden Tag ein bisschen mehr; […]

Und die sogenannte »wirkliche Welt« hält einen auch nicht davon ab, gemäß diesen Standardeinstellungen zu operieren, denn die sogenannte »wirkliche Welt« der Männer, des Geldes und der Macht läuft wie geschmiert dank dem Öl aus Angst, Verachtung, Frustration, Gier und Selbstverherrlichung. Unsere heutige Kultur hat sich diese Kräfte auf eine Art und Weise nutzbar gemacht, die außerordentlichen Reichtum, Komfort und individuelle Freiheit hervorgebracht hat. Nämlich die Freiheit für jeden von uns, Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreichs zu sein, allein im Mittelpunkt der Schöpfung.

Dieser Schein-Freiheit des Konsums und des neoliberalen Systems stellt er nun eine andere Definition von Freiheit gegenüber:

Aber es gibt natürlich verschiedene Formen der Freiheit, und die kostbarste wird in der großen weiten Welt des Siegens, Leistens und Blendens nie erwähnt. Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit, und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.

Das ist wirkliche Freiheit.

Dass diese Freiheit erst noch entdeckt werden will, zeigt nebenbei die Suche in einer Bilderdatenbank: Zum Stichwort Freiheit finden sich da fast ausschließlich Bilder, in denen einzelne Personen vor der Kulisse großartiger Naturpanoramen abgebildet sind. Die Freiheit, auf den bedürftigen Anderen zuzugehen, ist da noch nicht angekommen.

PS: Martin Horstmann hat mich auf dieses Video aufmerksam gemacht, in dem Forster Wallaces Rede visualisiert ist. Die oben zitierten Teile scheinen allerdings nicht alle enthalten zu sein.

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Platzanweisungen

Vielleicht war es der Titel, vielleicht auch nur eine Intuition, jedenfalls lese ich seit ein paar Tagen in „Grenzgänger“, der Biografie von Klaus Mertes. Immer wieder lese ich den eigentlich flüssigen Text ganz langsam, weil er mir Wichtiges sagt.

Vielleicht hat es mit den vielen Buchungen und Platzreservierungen zu tun, die die Urlaubszeit mit sich bringt, gestern jedenfalls war es diese Passage, an der ich hängen blieb:

Der Wunsch, Erster sein zu wollen, wird im Evangelium erfüllt, allerdings durch Zuweisung des letzten Platzes. Da, wo es keine Positionen, keine öffentliche Anerkennung und keine Macht gibt, da hält sich die Elite des Evangeliums auf. Der letzte Platz ist wirklich ein erster Platz. Das Paradox lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man Letzter werden will, um Erster zu sein. […] Wer aus eigenem Willen zur Elite des Evangeliums gehören will, gehört nicht dazu. Der letzte Platz wird zugewiesen – der Platz bei den Armen, bei den Kranken, den Ausgeschlossenen, der Platz am Kreuz.

Wer sich auf den letzten Platz einlässt, ist gefährlich – ohne es zu wollen. Von dieser Erfahrung spricht das Evangelium an vielen Stellen…

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Paul Bergmeir

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Gefährliche Linientreue

In den letzten Tagen ist es mir mehrfach passiert, dass ich auf dem Rad von Autos überholt wurde, die dabei weniger als einen halben Meter Abstand hielten. Das erschreckt mich jedes Mal, denn ein kleiner Schlenker wegen eines Hindernisses auf der Fahrbahn (Schlagloch, Bierflasche, Tannenzapfen etc.) hätte genügt, einen lebensgefährlichen Unfall zu verursachen.

Abgesehen davon, dass manche einfach nicht richtig Auto fahren können, liegt das an zwei Problemen:

Dieses ebenso linientreue wie Gedanken- und verantwortungslose Verhalten scheint mir auch ein Problem bei den schmalen Fahrradstreifen, die derzeit auf vielen Fahrbahnen angebracht werden – mal mit gestrichelten, mal mit durchgezogenen Linien, mal mit rotem, mal mit normalem Asphalt. Denn statt auf den Abstand zu dem verletzlichen Radler zu achten, begnügen sich viele damit, die Linie zu halten. Im Endeffekt ist dann wieder nur ein halber Meter Platz (oder weniger), aber der Autofahrer hat subjektiv das Gefühl, im Recht zu sein.

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Warren Wong

(Und dann gibt es noch die Wahnsinnigen unter den Radfahrern, die auf solchen Streifen gegen die Fahrtrichtung unterwegs sind. Auch das liegt an dem Fehlschluss, die Linie schütze sie schon irgendwie. Das einzige, was wirklich schützt, ist Umsicht und Rücksichtnahme. Sonst hilft nur noch genug Blech und Airbags um mich herum.)

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Sehen, was da ist

Im Evangelium heute ging es um die Speisung der Fünftausend. Nicht schon wieder, dachte ich, um mich gleich darauf in der Predigt auffordern zu lassen, in der bekannten Geschichte doch wieder Neues zu entdecken. Und was soll ich sagen – es hat funktioniert.

Irgendwann fiel mir auf, dass der entscheidende Beitrag für das Wunder nicht von den Jüngern kam. Der arme Philippus wird sogar ein bisschen vorgeführt – Johannes lässt Jesu Begleiter ja gern unbedarfte Fragen stellen, damit Jesus schöne Reden halten kann.

Es waren in diesem Fall aber die Leute, die das „Rohmaterial“ lieferten, genauer: ein Kind aus der Menge.

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Kate Remmer

Die Frage, die sich für mich daraus ergibt, ist die nach den Ressourcen im Handeln der Kirche. So lange wir von uns aus denken und von dem, was wir haben und leisten können, rückt jede Art von Wunder in weite Ferne. Mit Bordmitteln war das nicht zu bewältigen. Wenn wir uns aber fragen, was zwischen Jesus und den Leuten passieren könnte, zu denen er uns schickt (oder die sich bei uns einfinden), dann geht noch was.

Der eine Jünger sieht nur, was den Leuten fehlt. Der andere sieht auch, was sie mitbringen. Mehr braucht Jesus nicht.

Was wäre alles möglich, wenn wir so an unseren Auftrag herangingen? Darüber muss ich noch ein bisschen nachdenken heute Nachmittag.

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Schön gerechnet

Letzte Woche schlug für die beiden großen Kirchen die statistische Stunde der Wahrheit. Es wurden Zahlen über Ein- und Austritte, Taufen und Todesfälle veröffentlicht und vielstimmig kommentiert. Für die katholische Kirche sah es etwas besser aus, für die EKD etwas schlechter.

Verblüffend fand ich allerdings, wie der Sachverhalt im Twitter-Account der EKD dargestellt wurde. Der handelte nämlich von einer „erfreulichen Entwicklung in der kirchlichen Statistik“. Das sah dann so aus:

Die Zahlen stimmen und die Tendenz zum Vorjahr ist günstig – 20.000 Austritte weniger. Wer das Bild anschaut, könnte zur Annahme verleitet werden, die EKD wachse wieder moderat. Freilich fehlt der größte Faktor: 340.000 Sterbefälle. Mag ja sein, dass es schon mal schlimmer war, aber gut ist es noch lange nicht, das zeigt auch der merkwürdig verdruckste Umgang mit den Zahlen.

Wenigstens im Lutherjahr hätte man mit dem Glaubenssatz von der Rechtfertigung des Sünders (und damit auch des Gescheiterten, des Verlierers, des Irrelevanten oder Abgehängten) an die eigene Statistik herangehen können. Anerkennen und aussprechen, was der Fall ist: Fast doppelt so viele Sterbefälle wie Taufen, gut siebenmal so viele Austritte wie Eintritte.

Statt sich am statistisch geschönten Schopf aus dem demografischen und areligiösen Sumpf ziehen zu wollen, könnte man in aller Ratlosigkeit und Enttäuschung ehrlich klagen und trauern. Um sich dann mit einem Kyrie Eleison der Gnade des barmherzigen Gottes anvertrauen. Und dann fröhlich und mutig überlegen, was nun zu tun ist.

Das könnte uns auch vor einem anderen Missverständnis der Rechtfertigung bewahren: Wenn wir bei der Gnade beginnen, befreit uns das von der Versuchung, Sündenböcke zu finden. Also die Misere exklusiv all denen in der Kirche anzulasten, die anders denken als wir selbst.

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Alltagsgebete (2): Ampelgebet

Ob als Radfahrer, Autofahrer oder Fußgänger: In Nürnberg verbringt man viel kostbare Lebenszeit an roten Ampeln. Grüne Welle ist Glückssache und die Rotphasen scheinen mir deutlich länger auszufallen als in Erlangen.

 

Tim Gouw

Warum also nicht beten? Hier kommt ein weiteres Alltagsgebet, rote Ampeln und Staus gibt es ja überall:

Ewiger Gott,
Ursprung der Zeit,
Erfinder der Gelassenheit,
Ziel aller Wege.

In mir und um mich her
staut sich die Ungeduld,
rumort der Zeitdruck,
zappelt die Eile.

Du aber lässt dich aufhalten,
lässt uns selbst dann die Vorfahrt,
wenn wir deine Wege durchkreuzen,
statt deinen Spuren zu folgen.

Hier stehe ich –
lass mich erkennen, was mich treibt;
lass mich ablegen, was mich bremst,
und gib mir den Schwung deiner Liebe,
für den Weg,
der heute noch vor mir liegt.

Amen.

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