Die Begeisterung für Männergruppen und Männerarbeit hat bei mir nie gezündet. Ich fühle mich unter Männern wohl, aber ich bin da auch nicht mehr ich selbst als sonst. Ich bin recht gut ohne Initiationsriten durchs Leben gekommen (auch wenn mir jetzt vermutlich gleich ein paar Leser beweisen wollen, dass mir Substanzielles für meine Identität entgangen ist und ich das bloß nicht erkenne oder wahrhaben will). Macho-Christen wie Mark Driscoll und klischeeverhaftete Bücher wie die von John Eldredge fand ich immer ausgesprochen peinlich.
Diese Woche habe ich zum ersten Mal begriffen, warum wir uns tatsächlich dringend um Männer kümmern müssen. Ulrich Brand und Markus Wissen beschreiben in ihrem Buch „Imperiale Lebensweise“ sehr zutreffend, dass sich unser aktuelles Krisen-Konglomerat aus Klimawandel, Ressourcenextraktion, Externaliserung der ökologischen und sozialen Kosten, und einer Tendenz zu autoritären und hierarchischen Formen der Machtausübung tief in die Geschlechterverhältnisse eingeschrieben hat. Immer noch verrichten Frauen weit mehr unbezahlte Sorgearbeit oder schlecht bezahlte ungelernte Tätigkeiten. Und Männer haben im Schnitt nicht nur marginal größere Füße, sondern mit ihrer Liebe zu Verbrennungsmotoren oder ihrem deutlich höheren Fleischkonsum einen wesentlich höheren ökologischen Fußabdruck als Frauen: „Der andro- und eurozentrische Lebensentwurf einer hegemonialen Männlichkeit ist integraler Bestandteil der imperialen Lebensweise.“ (S. 54)
Also lasst uns all die Sachen machen, die Männer toll finden…
… Moment, stop, nein:
Lasst uns Sachen finden, die Männer gern tun, ohne dabei gleichzeitig anderen die Folgekosten für den Spaß aufzubürden. Ohne Diesel und Dry Aged Beef. Und währenddessen reden wir dann von Mann zu Mann darüber, wie wir die Verantwortung dafür übernehmen können, dass künftige Generationen auf dieser Erde in Frieden leben. Über den Mut zu anderen Lebensentwürfen als dem androzentrischen und imperialen.
So könnte ein Schuh draus werden. Und wenn Frauen gelegentlich dabei wären, wäre das kein Problem.
In der Grundschule haben wir über das Vaterunser gesprochen. Irgendwann stellt ein Kind die unvermeidliche Frage: „Ist denn Gott nicht nur Vater, sondern auch Mutter?“
Wir diskutieren ein paar Minuten. Die Meinungen gehen auseinander und viele sind sich unsicher. Zwei Jungs, die größten in der Klasse, finden, Gott sei doch ganz eindeutig ein Mann. Und ich spüre in der Art, wie sie es sagen, wie wichtig es für sie ist, dass Gott einer der ihren ist. Klar: das wertet Männer auf, vor allem die kleinen.
Aber ich kann ihnen nicht zustimmen: Männer sind Gott nicht ähnlich, weil sie Männer sind. Geschlechtlichkeit ist eine Kategorie, die sich auf Geschöpfe anwenden lässt, aber eben nicht auf den Schöpfer.
Nachdenklich verlasse ich daraufhin das Schulhaus. Im Grunde wünschen wir uns ja alle, dass Gott uns ähnlich ist: Dass er uns gut findet, dass er auf unserer Seite ist, dass ihm dieselben Sachen wichtig sind wie uns und wir auf ihn zählen können, wenn wir unsere Ziele im Leben verfolgen.
Jesus hat im Vaterunser vorgebaut. „Geheiligt werde dein Name!“, das heißt auch: Niemand darf Gott vor den eigenen Karren spannen oder ihn gegen andere instrumentalisieren. Und „Dein Reich komme!“ schließt aus, dass Menschen über andere herrschen. Egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welche Religion oder welchen Pass jemand hat.
Kürzlich habe ich hier etwas geschrieben über die Notwendigkeit, Kirche nicht primär von den „Vätern“ her zu denken und zu entwickeln, sondern eher als „Haus von morgen“ zu begreifen.
Wenn wir das tun, sind wir in guter Gesellschaft. Zwei aktuelle Beispiele möchte ich hier kurz nennen:
Arnd Bünker hat auf feinschwarz.net über die Bedeutung des Verlernens in kirchlichen Bildungsprozessen geschrieben. Er diagnostiziert eine „Gefangenschaft in alten Kirchenbildern“, die in ihrer unhinterfragten Selbstverständlichkeit der gegenwärtigen Situation nicht mehr entsprechen: Im Personalwesen, in der Orientierung an den Sakramenten, in der Pfarrei als dominierender Sozialform. Um wieder handlungsfähig zu werden, müssen wir manches erst verlernen. Das erfordert Zeit, gezielte Übung, neue Lernformen, Vertrauen in die Prozesse und Hoffnung auf Verbesserung – und eine Spiritualität, die das alles trägt und belebt. „Sonst fliesst immer mehr Energie in das Bemühen um den Erhalt letzter Biotope kirchlicher Vergangenheit“, warnt Bünker. „Dies mag hier und da gelingen, aber es verhindert die Fähigkeit der Kirche zur zeitgenössischen Solidarität mit den Menschen, deren Alltag ja auch in ständigen Veränderungen besteht – mit allen Chancen und Risiken.“
Das ist ja nicht nur in Deutschland so. So stellt Alan Roxburgh aus Vancouver in einem Blogpost fest: Kirchenleitungen und Kirchenreformen der „Euro-Tribal Churches“ (treffende Formulierung…) setzen weithin auf technische Rationalität, Management und Kontrolle, sie neigen zum Ekklesiozentrismus und zur einseitigen Fokussierung auf Hauptamtliche. In dieser Hinsicht sind sie typisch modern. Gott wird dabei unter der Hand zum nützlichen Symbol für die Säulen des modernen Westens – den Nationalstaat, den Konsum-Kapitalismus und das (therapeutische) Selbst. Erneuerung, Reform und Innovation scheitern, weil sie an diesen Selbstverständlichkeiten nicht rütteln.
Entsprechend redet Roxburgh nicht mehr von „Reforming“, sondern „Refounding“ – einer Neubegründung von Kirche im säkularen Westen. Die seßhafte Kirche, die sich in ihren alten und modernen Immobilien eingerichtet hat, wird wieder zur Pilgerkirche. Er zitiert den spanischen Dichter Antonio Machado (1875-1939), der schrieb: „Wanderer, es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht beim Gehen.“
Die spirituelle Dimension dieses Kulturwandels liegt darin, beim Gehen gemeinsam auf Gott zu hören und so neue Pfade zu bahnen. Roxburgh schreibt in seinem Post an dieser Stelle von „Trail and Error“ – das könnte ein Tippfehler sein, aber dann wäre es eher ein sinnerhellender statt ein sinnentstellender „Fehler“. Einer jener Fehler, für die im Verlernen des vormals Selbstverständlichen Platz sein muss. Um Bünker noch einmal zu zitieren: „Niemand kann sich auf Neues einlassen, wenn es dazu im Umfeld keine Kultur des Vertrauens gibt. Diese signalisiert den Willen zur Veränderung ebenso wie Offenheit für Experimente und deren mögliches Scheitern.“
Die Chance läge darin, nicht nur Kirche, sondern auch Gott neu zu entdecken.
Jesus hat sich selten gescheut, Leute vor den Kopf zu stoßen. Bei einer dieser Gelegenheiten sagte er zu einem zögerlichen Nachfolger: „Lass die Toten die Toten begraben!“
Das ist kein populärer Predigttext in einer Kirche, deren Selbstbild darunter leidet, dass sie inzwischen auch am Ende des Lebens immer seltener gebraucht wird. Viele finden, wir sollten alles daran setzen, die Toten besser als alle anderen zu begraben. Und hoffen, dass wir dann auch wieder mehr gebraucht werden.
Es war tatsächlich eine Trauerfeier, die mich wieder ins Nachdenken brachte über diesen Bibelvers. Der herben Aufforderung lassen sich nämlich durchaus heilsame Aspekte abgewinnen:
(Erwachsene) Kinder müssen das Leben ihrer Eltern nicht wiederholen (das geschieht ja oft eher unwillkürlich).
Sie müssen es auch nicht vollenden und die Ziele erreichen, die die Generation vor ihnen nicht realisieren konnte.
Sie müssen auch nicht reparieren und wieder gut machen, was die Alten zerstört und beschädigt haben. Zumindest nicht in erster Linie.
Kinder sind frei, sich von den Eltern zu lösen. Khalil Gibran hat das zeitlos schön und tiefsinnig formuliert:
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihrem Leib ein Haus geben, aber nicht ihrer Seele,
Denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Jesus nachzufolgen und Gottes Reich zu entdecken heißt, im Haus von morgen zu wohnen. Sich nicht aus dem heraus zu verstehen, was war, sondern von dem her, der kommt. Daran scheitert auch jede reaktionäre Identitätspolitik.
So, und jetzt nochmal zurück zur Kirche:
Bestattungskultur ist zweitrangig, es geht um viel mehr. Kurt Marti hat einmal die Vermutung geäußert: „Ein Gott, der kirchenförmig gedacht wird, hindert die Kirche daran, gottesförmig zu denken.“ Der kirchenförmige Gott ist nämlich der Gott der Väter (seltener der Mütter…!) und der Vergangenheit. Mich macht es immer fassungslos, wie selbstverständlich unter Lutheranern in ekklesiologischen Debatten CA VII als axiomatischer, umhinterfragter Ausgangspunkt gesetzt und akzeptiert wird, und wie wenig zugleich von Jesus, der Nachfolge Christi und der Herrschaft Gottes die Rede ist. Mal abgesehen davon, dass so eine Traditionsverhaftung völlig unevangelisch ist – sie bringt auch keine neuen Bilder von Kirche hervor.
Wie wäre es stattdessen, jungen Pfarrer*innen bei der Ordination, Konfirmand*innen bei der Konfirmation und Kirchenvorsteher*innen bei der Einführung in ihr Amt (demnächst ja wieder aktuell) ausdrücklich zuzusprechen:
„Ihr müsst das Werk der »Väter« nicht imitieren, ihr müsst es nicht vollenden, ihr müsst euch für diese Kirche weder entschuldigen noch sie rechtfertigen. Sie ist, wie sie ist. Manches davon werdet Ihr in Würde begraben, anderes wird wieder aufblühen. Aber dann [und hier borge ich mir nochmal die Worte von Kurt Marti]
wispert aus trauernder weide fröhlich die stimme folge mir nach.
Also hört den lebendigen Christus. Und folgt ihm, wohin er geht.“
Immer mehr wird Christen hierzulande bewusst, dass wir nach Jahrhunderten der selbstverständlichen kulturellen Symbiose von Staat und Kirche inzwischen in einer Minderheitensituation leben oder direkt darauf zusteuern. Zugleich eskalieren die Konflikte in Bereichen, die uns bisher weitgehend stabil erschienen.
Die Epistel des vergangenen Sonntags aus dem ersten Petrusbrief hat mich (nicht zum ersten Mal) zum Staunen gebracht, wie so ein alter Text in der veränderten Situation des Jahres 2018 (Rechtsruck, Regierungskrise, Rohe Christen) neu zu sprechen anfängt, und wie ermutigend oder tröstlich es sein kann, ihm zuzuhören.
Gestern habe ich versucht, das einmal zu umreißen. Wer ca 25 Minuten Zeit hat, kann es hier nachhören: Präsenz (1.Petr 3,8-15a)
Kleiner Tipp: Die Vorbemerkungen bis 2:35 könnt Ihr am besten überspringen.
Gestern ging ich zum Metzger meines Vertrauens, um Sachen zu Grillen einzukaufen. Zwischen Steaks und Würsten in der Auslage fielen mir Spieße auf, die aus schwarzen Auberginenscheiben, rotem Fleisch und gelben Paprikasteifen bestanden. Zweifellos ein findiger und wohlschmeckender Beitrag zur Fußballweltmeisterschaft-WM.
Erst als ich wieder draußen war, dämmerte mir, was das Problem bei der Schwarz-rot-goldigen Herrlichkeit ist: Packt man die Spieße auf den Grill oder in die Pfanne, ist am Ende alles mehr oder weniger braun. Geschmacklich sicher ein Gewinn, symbolisch (und das sollte ja der Clou sein) leider eine Katastrophe.
Vielleicht lässt sich das ja auch auf die Politik übertragen: Wenn man das Nationale derart aufheizt, wie das prominente Akteure gerade hier in Bayern tun, dann darf man sich nicht wundern, wenn am Ende alles braun wird.
Wir stehen auf den berühmten Klippen von Moher. Die Sonne geht unter und malt vor uns aufs Wasser eine goldene Straße. Sie führt direkt zu mir. Ich sage zu meinem Sohn: „Hast Du ein Glück, dass du neben mir stehst. Die Sonnenstrahlen zeigen nämlich genau auf mich. Unter all dem Leuten, die hier gerade aufs Meer schauen, finden sie immer mich!“
Er schaut mich an und wir grinsen beide. Natürlich sehen alle, die hier stehen, dass die Straße aus Licht ganz allein auf sie zu zeigen scheint. Das Besondere ist nur der Sonnenuntergang – nicht ich und meine Leistung (oder mein Versagen).
Ich merke, dass mir das nicht immer so klar ist. Zum Beispiel wenn ich mir – ganz im Stillen freilich nur – denke, das schöne Urlaubswetter hätte ich ja irgendwie verdient. Etwa weil ich die letzten Monate so hart gearbeitet habe.
So funktioniert nur die Tourismuswerbung.
„Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“, sagt Jesus in der Bergpredigt. Ich bin nicht der Nabel der Welt. Wenn Gott mir schöne Augenblicke schenkt, darf ich das genießen, ohne mir etwas drauf einzubilden. In stürmischen Zeiten, ist Geduld angesagt, aber ich muss mich auch nicht fertig machen, wenn es mal nicht so läuft.
Und weil das Schöne und das Schlimme manchmal so ungleich verteilt sind, dürfen die Fröhlichen und die Fertigen einander trösten und erden. Auch das ist echtes Glück.
Ein sonniger Maitag im Burren-Nationalpark. Nur wenige Menschen sind unterwegs auf dem Weg zum Mullaghmore, der sich mit seinen konzentrischen Ringen über die Karstlandschaft erhebt. Der Weg wendet sich zurück zum Ausgangspunkt. Auf dem zerklüfteten Untergrund balanciere ich von Stein zu Stein. Ich staune, wie gut das klappt, auch wenn der Boden nur im sekundären Gesichtsfeld ist.
Mein Blick geht nach vorne. Ein Mann im blauen T-Shirt sitzt in einiger Entfernung und schaut in die Weite. Ich betrachte die friedliche Szene und plötzlich schießen Gedanken durch meinen Kopf – Szenen aus einem Mini-Katastrophenfilm. Was, wenn das ein Messerattentäter ist, der auf mich losgeht, wenn ich mich ihm nähere? Wie würde ich mich verteidigen? Könnte ich noch einen Notruf absetzen? Was würde mit den anderen aus unserer kleinen Gruppe passieren, die ein paar hundert Meter hinter mir sind? Hätten sie Zeit, mir zu helfen? Sollten sie lieber sich selbst in Sicherheit bringen?
Ich erschrecke – über mich selbst: Wie um Himmels Willen ist das möglich, sich mitten in der Schönheit, Stille und Einsamkeit dieser außergewöhnlichen Landschaft einen derartigen Horror auszumalen? Mein Filmkonsum ist tendenziell eher unblutig; aber vielleicht ist es eine kurze Nachrichtenmeldung vom Vortag, die hier noch einmal „aufploppt“?
Ich habe den Mann im blauen T-Shirt inzwischen erreicht. Wir unterhalten uns über das Wetter und über die Aussicht. Er erzählt, dass er oft hierher kommt, und einfach nur da sitzt und schaut. Wenn man das eine Weile macht, sagt er, dann versteht man gar nicht, warum es in der Welt so viel Aufregung und Streit gibt. Ich fühle mich ein bisschen ertappt, aber noch viel mehr erleichtert, einem Seelenverwandten zu begegnen. Wir reden noch ein paar Minuten weiter, dann verabschiede ich mich.
Ein warmer Wind umweht mich beim Abstieg. Angst und Schreckensvisionen – das kann passieren angesichts der heutigen Nachrichtenlage. Aber Panik ist kein unentrinnbares Schicksal. Solche stillen Orte und weise, sensible Mitmenschen helfen mir, mich nicht verrückt machen zu lassen und einen klaren Kopf zu bewahren. Im Alltag sieht das vielleicht anders aus, aber auch hier gibt es solche Orte, die mich erden. Ich muss einfach nur hingehen, wie der Mann im blauen T-Shirt.
Anderen von erhörten Gebeten zu erzählen kann leicht kitschig oder schräg rüberkommen. Barbara Brown-Taylor hat die damit verbundene Schwierigkeit für mein Empfinden sehr gut auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt:
Wenn mir jemand erzählen will, wie Gott Gebet erhört hat, sind meine ersten Gedanken folgende: 1) Diese Person möchte mir etwas verkaufen, oder 2) Diese Person ist nicht ganz nüchtern.
Das Problem ist, denke ich, dass göttliche Antwort auf ein Gebet eine jener Schönheiten ist, die im Auge des Betrachters liegen. Was sich für die eine wie eine Erhörung anhört, klingt für den anderen wie Schweigen. Was dem einen wie ein großer Fisch der Vorsehung erscheint, verbucht eine andere als blinden Zufall. Die Bedeutung, die wir dem zuschreiben, was in unserem Leben geschieht, ist unsere letztendliche, unverbrüchliche Freiheit. Nur du kannst sagen, ob Gott dich erhört hat.
Es gibt so viele Stellen in der Bibel, in denen auf den ersten Blick nur Männer angesprochen oder genannt werden. Historisch lässt sich darüber viel sagen, aber die meisten Christen, die ich kenne – auch sehr konservative – haben inzwischen keine Mühe mehr, sich hier ein „und“ dazu zu denken: Frauen sind natürlich mitgemeint, wenn etwa Petrus in seiner Pfingstpredigt „Ihr Männer, liebe Brüder“ sagt. Dass das der Wortsinn des Textes streng genommen nicht hergibt, spielt dabei glücklicherweise keine Rolle mehr: Wir verstehen das inklusiv. Bei Amtsträgerinnen hat das mit dem „und“ etwas länger gedauert, aber inzwischen ist es – unter Evangelischen – weithin selbstverständlich.
Und nun steht derselbe Schritt noch einmal an: Gelten die Verheißungen Gottes für die Ehe nur, wenn die Partner verschiedenen Geschlechts sind (das wäre die „oder“-Variante), oder können wir auch hier ein „und“ setzen, das in den biblischen Texten noch nicht dasteht?
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Er braucht ein Gegenüber. Und sollte das Gegenüber, das ein Mensch findet, dasselbe Geschlecht haben, dann liegt die Lösung nicht darin, dass er deswegen doch lieber allein bleiben soll, auch wenn es ihm erkennbar nicht gut tut.
Die Schöpfungstexte selbst formulieren kein solches „Oder“, sie nennen als unerwünschte Alternative nur das Alleinsein, und sie beschreiben ohne zu normieren. Sie lassen uns den Raum, hier kein einschränkendes „oder“, sondern ein einschließendes „und“ zu setzen.
Klar: Beides ist verantwortete Interpretation. Aber hier das „und“ zu setzen ist nicht einfach willkürlich und beliebig, wie konservative Polemik immer wieder unterstellt. Hetero- und Homosexuelle Partnerschaften haben viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das eine ist nicht das Gegenteil des anderen, so wie Xenophobie etwa das Gegenteil der Liebe zum Fremden ist.
Die Diskussion wird uns noch eine Weile begleiten. Es sind ja auch noch längst nicht alle Reste des Patriarchats verschwunden, wie ein Blick in die Ökumene zeigt. Es wird immer wieder Versuche geben, die alte Ordnung zu restaurieren, wie etwa in Lettland. Nur das Scheinargument, dass die eine Position bibeltreu und die andere zeitgeistbedingt ist, das lässt sich nicht halten. Zumal nicht in Zeiten, wo der Zeitgeist sich so reaktionär gibt wie im Augenblick.
Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der von Gott kommt, damit wir verstehen, was uns von Gott geschenkt worden ist.
Und davon reden wir, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern mit Worten, wie der Geist sie lehrt, indem wir für Geistliches geistliche Bilder brauchen.
Der natürliche Mensch aber erfasst nicht, was aus dem Geist Gottes kommt, denn für ihn ist es Torheit; und er kann es nicht erkennen, weil es nur geistlich zu beurteilen ist.
Wer aber aus dem Geist lebt, beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt.
Denn wer hätte die Gedanken des Herrn erkannt, dass er ihn unterwiese? Wir aber haben die Gedanken Christi. (1.Kor 2,12-16)
I.
Wie erklärst du etwas in dieser Welt, das sich gar nicht aus ihr heraus verstehen und herleiten lässt? Wie sprichst du über eine Erfahrung, die so neu und einzigartig ist, ohne dass du sie schon durch die Worte und Begriffe, die du verwendest, zu etwas Gewöhnlichem machst?
Liebende stehen vor diesem Problem, dass alles schon tausendfach gesagt wurde. Weil der Fall „x liebt y“ jeden Tag hunderttausendmal eintritt auf diesem Planeten, so dass er für den unbeteiligten Beobachter nun wirklich nichts Besonderes mehr ist. Zigfach wird er jede Woche auf Leinwänden und Bildschirmen zur Schau gestellt. Und wenn mich selbst einmal der Blitz trifft und plötzlich alles in mir brennt, stellt sich scheinbar nur noch die Frage, welche dieser Szenen ich imitiere, welche Gesten und welche Phrasen ich herausgreife aus dem Repertoire, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, und daraus mein eigenes Geständnis zu recyceln.
Umberto Eco („Der Name der Rose“) hat sich darüber Gedanken gemacht: Ein Mann, der eine gebildete Frau liebt, kann nicht einfach zu ihr sagen: Ich liebe dich wahnsinnig. Denn er weiß, dass sie weiß, (und sie weiß, dass er weiß), das hat Barbara Cartland [oder irgendeine andere Autorin von Liebesromanen] so geschrieben. Aber er hat einen Ausweg, er kann sagen: „Barbara Cartland würde es so sagen: Ich liebe dich wahnsinnig.“ Damit hat er zu erkennen gegeben, dass er so einen Satz nicht naiv sagt, sondern dass er weiß, dass es kein unschuldiges, unverbrauchtes Reden mehr gibt. Sie aber kann sich auf dieses Geständnis einlassen und es als Liebeserklärung in einer Zeit verlorener Unschuld annehmen. Sie kommt mit einem ironischen Augenzwinkern daher, aber gerade darin ist sie aufrichtig.
Es gibt auch im Blick auf Gott kein unschuldiges, unverbrauchtes Reden mehr. Aber deswegen nicht mehr über Gott zu reden, weil mich das vor die schwierige Aufgabe stellt, so von ihm zu reden, dass es nicht so klingt, als wüsste ich nichts davon, wie Gottes Name schon missbraucht worden ist – welche plumpen und gedankenlosen Bilder und Begriffe ihm schon angehängt wurden, in welche verheerenden Verwicklungen wir ihn damit gebracht haben: mit den Mächtigen und Maßlosen, den Selbstherrlichen und Selbstgerechten, den Engstirnigen und Missgünstigen – deswegen zu resignieren und zu verstummen, ist keine Lösung. Der Liebende kann seine Liebe nicht verschweigen, er muss einen Weg finden, sie zu bezeugen. Aber es wird ihm alles abverlangen. Hundertmal wird er seine Liebeserklärung im Geist durchspielen, um im entscheidenden Moment alles zu vergessen und wie ein blutiger Anfänger dazustehen. Denn genau das ist es ja in dem Moment: Absolut neu und mit nichts anderem zu vergleichen.
Die Macher von Vier Hochzeiten und ein Todesfall hatten ihren Eco offenbar gelesen:
Das Gute ist, dass im Idealfall der erwiderten Liebe die andere Person genau denselben Ausnahmezustand erlebt. Dann wird sie mein Stammeln und Schweigen, Reden und Rudern, Ansetzen und Abbrechen, um wieder neu zu beginnen, richtig verstehen: als den fast – aber nicht völlig – aussichtslosen Versuch, das Außerordentliche zu sagen und mein Innerstes zu offenbaren. Sie wird geneigt sein, den austauschbaren Worten ihre unverwechselbare Bedeutung abzulauschen.
Dasselbe gibt es auch im Blick auf Gott: Menschen, die empfänglich sind für die Andeutungen, die wir machen. Für jene Sätze, die wir aussprechen, nur um sie gleich wieder halb zurückzunehmen und dann diesen Versuch noch mit anderen Worten, Metaphern, Symbolen zu wiederholen. Die all das nicht als ein Herumreden um den heißen Brei verstehen, sondern spüren, dass wir das Eigentliche nur umkreisen können, ohne den Finger drauf zu legen. Und während wir es umkreisen, warten wir darauf, dass es sich selbst mitteilt und zu erkennen gibt.
So war es bei den Aposteln, scheint mir: Petrus musste an Pfingsten, als Gottes Geist ausbrach, erklären, warum Menschen, die sogar für fremdsprachige Gäste verstehbar redeten, nicht besoffen waren, sondern bei klarem Verstand. Und Paulus schreibt vom Seufzen und Stöhnen derer, die im Geist beten, so „wie ein Wolf heult“. Da sprengt die Sehnsucht alle Begriffe.
All dieses Reden unter Einwirkung des Geistes, all dieses unbeholfene Hantieren mit Gesten, Bildern und Begriffen ist zugleich das krasse Gegenstück zu der selbstgenügsamen Insidersprache, die nichts mehr riskieren muss, weil sie zur starren Konvention geronnen ist und sich gar nicht mehr davon irritieren lässt, dass sie außerhalb der eigenen Blase niemanden mehr aufhorchen lässt. Jener Sprache, an der die Kirche „verreckt“.
II.
Nicht nicht von Gott reden zu können, auch das haben Petrus und Paulus erlebt, katapultiert uns mitten hinein in all die Missverständnisse und den Streit um Religion und Wahrheit, und in die Leidensgeschichten, die dieser Streit über Generationen hinweg hervorgebracht hat. Immer wieder wurde und wird „die Religion“ an sich dabei zum Problem erklärt. Aus der Perspektive des „natürlichen Menschen“, der die Welt um sich herum betrachtet und deutet, kann das sehr plausibel erscheinen. Diese Woche schreibt Mateja Meded, die aus Ex-Jugoslawien flüchtete und in Erlangen aufwuchs, in der Zeit, dass Religionen unsere Welt spalten, Gewalt verursachen und Frauen unterdrücken. Und sie kann das mit Erfahrungen belegen, die sich nicht wegdiskutieren lassen. So lautet ihr Lösungsvorschlag:
„Ich würde gern die Heilige Schrift umschreiben: Am Anfang schuf Gott den Mann, und dann, aus seiner Rippe, die Frau. Und da erschien Nebel, und heraus kam noch eine Frau und sie erschuf sich eigenhändig ein Schwert und rammte es Gott in den Bauch und sprach: „Mich hat eine Frau erschaffen und nicht du. Und nun mach Platz und nimm deine Stockholmsyndrom-Frauen mit, denn jetzt kommen wir. Und wir bauen eine neue Welt, die auf Selbstliebe, Empathie und Sensibilität beruht und in der die Natur und die Tiere verehrt werden.“
Die monströse Gewalt der Welt wird ihrerseits durch einen Akt der Gewalt beseitigt: Der böse, herrschsüchtige und blutrünstige Gott der Religionen wird ermordet. Das liegt irgendwo zwischen Nietzsches Ausruf „Wir haben Gott getötet“, der Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer nimmt und es den Menschen gibt (heute können wir, als Spätfolge davon, Atombomben bauen), und den antiken Mythen von der Entstehung der Welt aus Chaoskampf und Göttermord mit ihrer Botschaft von der erlösenden Gewalt. Es zeigt die ganze Ratlosigkeit und ohnmächtige Wut über eine Welt, in der Gottes Name immer wieder dafür herhalten muss, menschliche Grausamkeit zu verklären.
Als Menschen, die von Gott nicht schweigen können, stehen wir mitten in diesem Gemetzel an der Menschheit und Natur im Namen der Religion oder zur Vernichtung aller Religion im Namen der Superreligion aus Sensibilität, Geschlechtergerechtigkeit und Naturverehrung. Auf diesem Schlachtfeld ist das Missverstehen der Normalfall und jede gelingende Verständigung ein glattes Wunder.
III.
An Pfingsten erinnern wir uns an die Geschichte dieses Wunders und wir feiern, dass es immer noch passiert, bis heute.
Denn es gibt diese Momente wo – wie an Pfingsten – Gott sich unserer menschlichen Worte bedient und bei Menschen Gehör findet. Momente, in denen die üblichen Missverständnisse ausbleiben und jemand ergriffen und elektrisiert ist, weil sie oder er merkt: Hier geht gerade eine Tür auf in eine andere Welt, oder besser: Ich finde einen neuen, tieferen und heilsamen Zugang zu Gott, zu mir selbst und zu dieser Welt, die – wie ich jetzt sehe – Gottes Welt ist.
Vielleicht sind es nicht dreitausend an einem Tag, aber das ist ja auch für biblische Verhältnisse eine einmalige Sache. Das Wunder liegt ja nicht in der stattlichen Zahl, sondern im Verstehen. Vielleicht ist es aber doch mehr als alle dreitausend Tage einer. Vor allem dann, wenn wir das Wunder fröhlich erwarten und uns nicht aus Furcht vor Zurückweisung hinter die Kirchenmauern oder ins Private zurückziehen – in all jene Bereiche, wo wir damit rechnen können, unangefochten zu sein.
Pfingsten bedeutet nicht, anderen etwas aufzudrängen; aber es bedeutet, um der anderen und um Gottes willen den eigenen Mund auf zu kriegen, unbefangen das Minenfeld der Missverstehens zu betreten, ja uns dahin vom Geist Gottes buchstäblich treiben zu lassen. Und dort mit dieser doppelten Resonanz von Zustimmung und Zurückweisung zu leben. Selbst wenn die Zustimmung nicht der Regelfall ist, so wiegt ein einziges Paar leuchtende Augen all die gleichgültigen oder feindseligen Blicke auf.
IV.
Gott schickt uns an Pfingsten auf die Straßen der Welt als „Arme im Geist“, die sein Geheimnis nicht in allgemeingültige Formeln und absolute Begriffe packen können – als Leute, die im Verstehen und Beschreiben Gottes ständig stolpern und stottern, die dabei schmerzhaft missverstanden werden (oft nicht nur von jenen, denen Religion fremd ist, sondern mehr und erbitterter noch von denen, die sie wieder groß machen wollen).
Wir leben mit dem Missverständnis und dem Spott derer, die schnelle und simple Erklärungen – besoffen, irrational, idealistische Gutmenschen – für große und komplexe Sachverhalte vorziehen, oder die vor lauter Eile im Vorbeigehen nicht genau hinsehen und -hören. Gott gibt uns keine Garantie, dass wir verstanden und bestätigt werden. Jesus wurde es auch nicht.
Daher tut es gut, dass wir uns von Paulus daran erinnern lassen: Wenn uns jemand abschreibt oder abkanzelt, ist das nicht Gottes Urteil – weder wichtig noch endgültig. Am besten nehmen wir es uns nicht allzu sehr zu Herzen oder wir schütteln wie die Jünger, die Jesus in die Dörfer Galiläas schickt, den Staub der Ablehnung von unseren Füßen, um unbelastet weiter gehen zu können.
Der Satz „Wer aber aus dem Geist lebt, beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt“ könnte freilich auch so missverstanden werden: „Christen bekritteln alles und jeden und wollen alles bestimmen – und zugleich lassen sich nichts sagen, verbitten sich jede Kritik und unterstellen ihren Andersdenkenden böse Absichten.“
Christen, die Gottes Geist vertrauen, wissen, dass sie keinen Anspruch darauf haben, verstanden zu werden, wenn sie von Gott reden. Sie freuen sich, wenn es geschieht, und bleiben gelassen und geduldig, wenn es misslingt. Sie machen sich überhaupt nicht so viele Gedanken über sich selbst, weil sie Gottes Urteil kennen: „Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe.“
Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sagt Paulus, sondern den Geist, der von Gott kommt, damit wir verstehen, was uns von Gott geschenkt worden ist:
Das Wunder, dass wir Gott in einer Welt reden hören, die ihre Unschuld verloren hat.
Die Verblüffung, dass er es riskiert, Menschen für sich sprechen zu lassen.
Der ausgelassene Mut, ihm fortan meine Stimme zu geben.
Zeiten des Abschieds sind auch Zeiten der Rückschau. Hin und wieder entdecke ich dabei nicht nur einzelne Highlights, sondern Zusammenhänge – große Linien, Lebensthemen.
Ein Gespräch letzte Woche brachte mich auf eine Spur, die wirklich weit zurück reicht: Irgendwann Anfang der Neunziger pilgerte ich zum ersten Willow Creek Kongress überhaupt in Europa. Der fand im englischen Birmingham statt, in Deutschland kannte das damals praktisch niemand. Britische und amerikanische Gemeindekultur prallten dort zusammen, ich saß irgendwie dazwischen und spürte die Spannung. Aber dass es der Kirche um die Menschen gehen muss, die ihr fremd und distanziert gegenüberstehen, das war auf allen Seiten zu spüren. Mir hat es sich – eher als Frage denn als Konzept – ganz tief eingeprägt. Und Martin Robinsons „Planting Tomorrow’s Churches Today“ steht aus dieser Zeit noch in meinem Regal.
Dann wurde ELIA gegründet und wir entdeckten im Jahr darauf den Alphakurs, der mit seinem Ethos der Gastfreundschaft neue Maßstäbe setzte. Ich habe mich insgesamt 16 Jahre dafür engagiert, diese Idee zu verbreiten. Im letzten Drittel dieser Zeit spürte ich, dass die Richtung stimmt, man aber dringend noch einige Schritte weiter gehen müsste: Noch weniger konservatives Dogma, klassische Apologetik und Insider-Jargon, noch ernsthaftere Auseinandersetzung mit den Anfragen und Zweifeln der Leute, noch weniger „Komm-Struktur“, bei der wir die Bedingungen für die Begegnung mit anderen abstecken können. Und noch viel weniger Marketing-Mentalität. Dafür hat meine Überzeugungskraft damals im Vorstand nicht ausgereicht.
Manches davon hatten wir hier seit 2001 schon erkundet durch das Projekt „LebensArt – die Kirche in der Kneipe“. Acht Jahre lang (fast) immer am ersten Sonntagabend im Monat, mit einem phantastischen Team und vielen großartigen Ideen haben wir den Beweis angetreten, dass man unterhaltsam und reflektiert, „unfromm“ und geistlich zugleich sein kann. Dafür hat uns die EKD sogar mal einen Preis gegeben, Hier sieht man die Entwicklung ein bisschen:
Als wir LebensArt 2009 aufhörten (das Team war geschrumpft, der Umzug aus dem Kneipensaal in ein kirchliches Gebäude hatte zwar mehr Platz geschaffen und uns die Arbeit erleichtert, aber allmählich kamen immer mehr Kirchenaffine und immer weniger Kirchenfremde), gelang es nicht mehr, eine Nachfolgeveranstaltung zu etablieren oder diese Erfahrungen auf das übrige Gemeindeleben (etwa die Gottesdienste) zu übertragen.
Wobei – ganz stimmt das nicht: Mit Gott im Berg haben wir über die letzten zehn Jahre diese Spur weiter verfolgt: Das Evangelium unaufdringlich, ästhetisch ansprechend, theologisch reflektiert, in verständlicher Sprache und immer mit Bezug auf unsere Welt – bis hinein in die Politik – Menschen nahe zu bringen. Das ist harte Arbeit, aber es wird in Erlangen auch begeistert angenommen.
Klar ist: Gott im Berg wird weitergehen, auch wenn ich ELIA im Herbst verlasse. Und ich werde im Weitergehen an einen neuen Ort die Frage mitnehmen, wie Kirche hier und heute aussehen muss, wie wir denken und reden und auf Menschen zugehen müssen, und auf was wir dafür alles auch verzichten müssen, wenn wir nicht isoliert und unter uns bleiben wollen.
Das bleibt eine Lebensaufgabe. Doch ich denke, es wird Früchte tragen, die der Mühen wert sind.
Als ich heute einen Blick auf die Pfingstgeschichte warf, fiel mir auf, wie oft die Begriffe „alle“ und „jeder“ darin vorkommen. Und zwar immer schön im Wechsel:
Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.
In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören:
Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden. Alle gerieten außer sich und waren ratlos.
Das schon sehr bemerkenswert in einer Zeit, in der Religion als Mittel verwendet wird, um eine ähnlich bunte, vielfältige Gesellschaft wie damals in Jerusalem zu spalten, um Mehrheiten zu gewinnen, indem man Minderheiten auf das Fremdartige reduziert und mit düsteren Stereotypen und Schablonen möglichst viel Angst schürt. In einer Gesellschaft, in der es immer öfter nicht mehr darum geht, jeder und jedem gerecht zu werden, sondern wo manche meinen, ihr unbehelligtes Erbrechen von Vorurteilen und Ressentiments gegen alles Missliebige als Gipfel der Menschenrechte feier zu müssen, da erinnert uns Pfingsten daran, dass Gottes Geist alle und jede(n) ansprechen will – auch wenn nicht alle und jede(r) gleich zustimmend darauf reagieren.
Die eine Sache, die sich geistbewegte Menschen auf keinen Fall leisten sollten, ist: Andere aufgrund von Sprache, Kultur, Herkunft, Religion und Hautfarbe als solche Leute abzuschreiben, die man vernachlässigen kann oder gar meiden muss. Wo solche Mauern hochgezogen werden, da ist auch der Geist ausgesperrt.
Lassen wir ihn sein Werk tun – so lange und so oft es ihm gefällt! Die Türen bleiben offen. Pfingsten ist einfach ein krasses Fest.
Ian Bradley war einer der ersten Autoren, der sich mit dem keltischen Christentum befasste. Viele sind ihm gefolgt (mich eingeschlossen), einige seiner Texte wurden auch ins Deutsche übersetzt. Nun zieht er eine kritische Bilanz dieser literarischen Beschäftigung, für die er selbst im Laufe der Jahre auch immer wieder Kritik abbekommen hat.
Bradley, der in St. Andrews Kulturgeschichte lehrte, fragt sich und uns: Diente das goldene Zeitalter des Christentums in Irland und später auch im Westen Britanniens vor allem als Projektionsfläche für Wünsche und Phantasien, die Christen im Schnittfeld von Kirche, Ökologie, Feminismus und Esoterik entwickelt hatten? Verklären heutige Aktualisierungen diese Zeit, so wie die Celtic Revival im Kulturbetrieb ja auch eine stark romantisierende Tendenz an den Tag legte?
Ja, sagt Bradley, all das gab und gibt es. Auch in seinen eigenen Büchern. Aber schon seit etlichen Jahren ist er um eine nüchterne und differenzierte Darstellung bemüht, und sein eben erschienenes Buch „Following the Celtic Way. A New Assessment of Celtic Christianity“ ist das Produkt dieser gründlichen Überprüfung. Wer in das Thema einsteigen will, findet hier eine Mischung aus Forschungsbericht und Materialsammlung. Nicht immer ganz flüssig zu lesen, aber akribisch und umsichtig zusammengestellt.
Große Mühe gibt Bradley sich im Mittelteil damit, alle Schlagwörter über Spiritualität und Gottesbild der Iroschotten mit meinem „P“ anfangen zu lassen. Das ist gut gemeint, aber manchmal sind mir die Begriffe darüber nicht – Achtung: „p“! – präzise oder prägnant genug ausgefallen. Große Mühe gibt er sich, zu jedem Charakteristikum, das er nennt, alte Quellentexte anzuführen und auch die Grenzen dessen zu markieren, was die Texte hergeben und was nicht. Er kritisiert andere Autoren und deren Spekulationen dabei nicht direkt, sondern stellt lediglich dezent fest, dass sich hier und da keine historischen Belege finden ließen.
Am Ende sammelt Bradley die vielen Puzzleteile des keltisch-christlichen Vermächtnisses noch einmal zusammen und klopft sie auf ihre Bedeutung für heute ab. Ich bin erleichtert: Es ist doch einiges übrig geblieben. Das hätte mich auch gewundert, denn solch originelle Errungenschaften wie der Anam Chara (Seelenfreund und geistlicher Begleiter) oder die peregrinatio – jene Pilgerschaft, die nicht dem Besuch heiliger Stätten dient, sondern sich selbst in der Fremde verlieren und Gott finden möchte – und natürlich die starke Rolle, die der Schöpfung in den alten irischen Texten und ihren großartigen Buchmalereien zukommt. Andere Leser würden vielleicht andere Punkte hervorheben – die Auswahl ist breit.
Ein schöner Aspekt sind die Gegensätze und Polaritäten, die hier vielleicht deutlicher als an vielen anderen Stellen der Kirchengeschichte gemeinsam auftreten. Der Abt Colman soll ein heiliges Leben so beschrieben haben (S. 65):
Glaube zusammen mit Handeln, Sehnsucht mit Beständigkeit, Ruhe mit Hingabe, Keuschheit mit Demut, Fasten mit Mäßigung, Armut mit Großzügigkeit, Schweigen mit Gespräch, Austeilen mit Gleichheit, Ausdauer ohne Klage, Enthaltsamkeit mit Ausgesetztsein, Eifer ohne Strenge, Sanftheit mit Gerechtigkeit, Zuversicht ohne Nachlässigkeit, Furcht ohne Verzweiflung, Armut ohne Stolz, Bekenntnis ohne Ausrede, Lehren mit Üben, Fortschritt ohne Ausrutscher, Bescheidenheit gegenüber den Hochnäsigen, Ebenmaß gegenüber den Groben, Arbeit ohne Groll, Schlichtheit mit Weisheit; Demut ohne Parteilichkeit.
Man kann sich das nur dynamisch vorstellen, als Rhyhtmus, nicht als statisches Gleichgewicht und permanente Balance. Ich hatte das Spannungsmodell vor ein paar Jahren schon einmal in ein nicht ganz so komplexes Bild gepackt. Hier ist es noch einmal:
Wirft man einen Blick auf die vier Projekte, die im Vorjahr unter der Überschrift „Veränderung auf Schritt und Tritt“ ausgezeichnet wurden, dann fällt eine Gemeinsamkeit auf: Sie finden allesamt in kirchlichen Gebäuden statt, in einem Fall wurde sogar eines eigens errichtet. Und drei der vier – die Wuselkirche, die Frühstückskirche, die Vesperkirche – haben in der einen oder anderen Form mit gemeinsamem Essen zu tun. Natürlich gibt es auch viele Unterschiede, aber ich fand das schon bemerkenswert: Veränderung zeigt sich anno 2017 darin, dass Tischgemeinschaft in den Kirchen wieder eine Sättigungskomponente und damit verbunden ein Gemeinschaftselement erhält.
Nicht die anderen sind verlorene Söhne, sondern die Aktiven in den Gemeinden sind es. Die haben das Erbe genommen und es verprasst. Verprasst für Orgeln und Kirchenbauten, Küchen im Gemeindehaus und Fachstellen. Langsam wird das Leben in den Gemeinden knapp. Immer weniger ist los, und das frustriert. Das Gemeindeleben fühlt sich hohl an ohne die Familie, die wir irgendwo zurückgelassen haben. Der letzte Rest Gemeindeleben ist viel zu oft so frustrierend wie das Schweinehüten. Die Aktiven in der Kirche sind der verlorene Sohn, der in der Ferne wehmütig an den eigenen Vater denkt. Sie sind diejenigen, die aufbrechen und zurückkommen in der Hoffnung, dass sie fröhlich empfangen werden.
Ein Aufbruch zu Gott, der sich nicht im vertrauten Rahmen kirchlicher Gebäude und Rituale offenbart, sondern im Fremden und Befremdlichen, beim Rest der Familie, der am kirchlichen Leben nicht mehr oder kaum noch teilnimmt. Auf der Frühjahrssynode hat Hans-Hermann Pompe vom ZMiR diese Bewegung unter der Überschrift „Vom Erwarten zum Hingehen“ beschrieben. Dass er dann gleich auf den „Back to church Sunday“ zu sprechen kommt, verrät die Sorge, die Aktiven in Haupt- und Ehrenamt mit Kritik an der üblichen „Komm-Struktur“ und ihren Begrenzungen zu überfordern. Irgendwem geht alles konkrete „weiter gehen“ ja meistens schon wieder viel zu weit…
Aber vielleicht zeigen ja die Ehrenamtlichen von der Basis, wie das mit dem „weiter gehen“ funktionieren kann; und vielleicht honoriert die Jury in diesem Jahr solche Projekte, die sich vom sicheren eigenen Turf herunter wagen. Räumlich, aber auch kulturell und mental.
Und gern wieder mit Essen!
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