Gott und die Sinnlichkeit, oder: die Polyphonie des Lebens

Immer wieder gibt es Stimmen, die die Liebe zu Gott und die irdische Liebe als Konkurrenten darstellen. Dahinter steckt wohl die Unfähigkeit, mit Spannungen, Ambivalenzen und Polaritäten umzugehen. Stattdessen denkt und fühlt dann jemand primär in sich ausschließenden Gegensätzen und einem starr hierarchischen Oben und Unten der Prioritäten. Mit einer Metapher aus der Musik zeigt Dietrich Bonhoeffer, wie unnötig und problematisch diese binäre Logik ist:

„Es ist nun aber die Gefahr in aller starken Liebe, dass man über ihr – ich möchte sagen: die Polyphonie des Lebens verliert. Ich meine dies: Gott und seine Ewigkeit will von ganzem Herzen geliebt sein, nicht so, dass darunter irdische Liebe beeinträchtigt und geschwächt würde, aber gewissermaßen als Cantus firmus, zu dem die anderen Stimmen des Lebens als Kontrapunkte erklingen; eines dieser kontrapunktischen Themen, die ihre volle Selbständigkeit haben, aber doch auf den Cantus firmus bezogen sind, ist die irdische Liebe und auch in der Bibel steht ja das Hohe Lied und es ist wirklich keine heißere, sinnlichere, glühendere Liebe denkbar, als die, von der dort gesprochen wird (cf. 7,6!); es ist wirklich gut, dass es in der Bibel steht, all denen gegenüber, die das Christliche in der Temperierung der Leidenschaften sehen (wo gibt es eine solche Temperierung überhaupt im Alten Testament?). Wo der Cantus firmus klar und deutlich ist, kann der Kontrapunkt sich so gewaltig entfalten wie nur möglich.“ (DBW Bd. 8, 440f.)

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