Ein paradoxer Auftrag

Gestern las ich in einer Gruppe mit anderen das vierte Kapitel des Markusevangeliums. Neben dem Wikileaks-Vers („Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht an den Tag kommt“) steht dort noch ein anderer verstörender Abschnitt:

Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes anvertraut; denen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen gesagt; denn sehen sollen sie, sehen, aber nicht erkennen; hören sollen sie, hören, aber nicht verstehen, damit sie sich nicht bekehren und ihnen nicht vergeben wird. (Markus 4,11-12)

Mit etwas Nachdenken lässt sich diese sperrige Aussage ein bisschen in den Kontext einordnen. Das erste betrifft die Rede in Gleichnissen.Vielleicht ist der Widerstand im dritten Reich eine gute Analogie. Man kann Fremden gegenüber keinen Klartext reden, sondern muss mehrdeutig sprechen. Genau das tut Jesus in seinen Geschichten. Wenn jemand dann aufrichtiges Interesse zeigt, bleibt er dran und kann eingeweiht werden. Wer aus den falschen Gründen Interesse zeigt (weil er ein Spitzel ist), kann auf Distanz gehalten werden und bekommt nichts Verwertbares geliefert. Dass Jesu revolutionäre Botschaft damals lebensgefährlich war, das betont er immer wieder – der letzte Beweis ist das Kreuz.

Es geht also nicht darum, die anderen um jeden Preis draußen zu halten, sondern klug zu reden. Heute kann das Reden in Gleichnissen und geheimnisvollen Bildern aus anderen, entfernt verwandten Gründen sinnvoll sein: Wenn man ständig mit vollmundiger Werbung überschüttet und Appellen aller Art bombardiert wird, ist es umso schöner, wenn man einer Sache nachspüren kann, statt sie abblocken zu müssen. Das macht Gleichnisse auch bei uns wertvoll, wo man nicht von Spitzeln und römischen Soldaten, sondern nur vom Heer Marketingexperten und Verkäufern beschnüffelt und verfolgt wird.

Aber wir lesen hier ja nicht nur von verhüllter Rede, sondern auch von einer schroffen Zurückweisung – wie ist das zu verstehen? Nun, Jesus hat in dem Gleichnis vom Sämann gerade erklärt, wie er arbeitet: Er streut den Samen seiner Botschaft vom Reich Gottes einfach überall aus. Die Reaktionen sind gemischt: An manchen prallt das ohne Reaktion ab, andere finden es vorübergehend unterhaltsam oder sind kurzzeitig begeistert, und manche bleiben dauerhaft dran – hier geht die Saat dann richtig auf, deshalb ist es auch die Mühe wert.

Und nun zitiert Jesus in den oben wiedergegebenen Versen den Propheten Jesaja (6,9-10), der in Gottes paradoxem Auftrag zu einem verstockten Volk – das bekam er gleich vorab schon erklärt – reden sollte. Durchgängig positive „Ergebnisse“ waren also gar nicht zu erwarten. Und hier setzt die Analogie an: Dass Menschen auf Jesus – und dann auch auf seine Jünger – gleichgültig, amüsiert oder gar feindselig reagieren, liegt nicht daran, dass an der Botschaft etwas verkehrt wäre. Sie haben sich nichts vorzuwerfen (es ist freilich auch keine Aufforderung, möglichst viele Leute durch rüdes Auftreten zu verprellen!). Ebenso wenig ist es einfach nur die Schuld der Leute, dass sie so reagieren. Die Jünger brauchen also auch ihnen keine Vorwürfe zu machen, sie fahren einfach fort mit dem, was ihnen aufgetragen ist. Sie brauchen keine Erklärungen zu suchen, sie müssen Desinteresse nicht einmal als Niederlage verstehen. Denn die Ernte wird kommen und reichlich ausfallen. Alles andere, sagt das anschließende Gleichnis von der selbstwachsenden Saat, können sie ruhig Gott überlassen. Sie müssen es sogar.

(Wie das konkret aussieht, zeigt uns Paulus: Er stieß in den Synagogen mehrheitlich auf Ablehnung, zum Teil fiel sie sehr heftig aus. In Römer 9-11 beschreibt er, wie das Evangelium an Israel abprallt und zu den „Heiden“ kommt. Doch damit ist Gottes Ziel noch nicht erreicht. Denn Israel ist aus dieser Perspektive keineswegs für alle Zeiten „verloren“, sondern nur vorübergehend. Am Ende hebt Gott diese Blockade, die er selbst zugelassen hat, auf. Er wendet alles zum Guten und ebnet den Weg für das ganz große Finale, das Bankett aller Völker und Nationen. Dann wird ganz Israel mit am Tisch sitzen. Und wer weiß, wer noch alles dabei ist…)

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Bald kommt Mr. Wright

Am 18./19. Februar kommt N.T. Wright aus dem schottischen St. Andrews nach Marburg und referiert beim Studientag Gesellschaftstransformation des mbs. Das Programm sieht vier Referate des renommierten Neustestamentlers vor. Es geht ganz unbescheiden darum, zu klären, was Jesus wirklich wollte.

Wrights Beitrag liegt dabei in der kenntnisreichen Einordnung Jesu in das antike Judentum, von der aus er zweitens die Eschatologie Jesu erfrischend neu zeichnet, so dass Jesus nicht mehr so weltfremd und einseitig jenseits-fixiert erscheint wie in vielen bisherigen Darstellungen. Zugleich ist der frühere Bischof von Durham aber auch daran interessiert, wie kirchliches Leben heute in der Nachfolge Jesu zu gestalten ist und wie sich das auf die Gesellschaft auswirkt.

Wohl nicht mehr rechtzeitig zum Studientag sollen im Francke-Verlag zwei Titel von Wright erscheinen: Das Neue Testament und das Volk Gottes und Glaube – und dann? Von der Transformation des Charakters.

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Das „Miss You“ Dei

Heute morgen habe ich in einer Projektgruppe mit anderen überlegt, wie Kurse zum Glauben in Bayern möglichst weite Verbreitung finden und das kirchliche Leben befruchten können. Immer wieder stellt sich dabei auch die Frage nach der Motivation. Für mich ist die Missio Dei mit dem „Miss You“ Dei verbunden. Der liebende Vater aus Lukas 15, der auf seinen Sohn wartet. Oder Gott im Garten Eden, der ruft: „Adam, wo bist du?“ Liebe leidet unter dem Abbruch von Beziehungen, und wahre, tiefe Liebe kann sich damit nie endgültig abfinden. Liebe leidet auch mit, wenn ein anderer mutwillig oder fahrlässig sich und anderen Schaden zufügt.

Von daher wundert es mich immer, dass die Liebe doch vielen Christen nicht genug Motivation zu sein scheint, das Evangelium weiterzusagen und anderen Gottes Liebe mitzuteilen. Letzte Woche zitierte etwa ein prominenter Referent bei der Auswertungstagung zum Kongress von Kapstadt zustimmend John Pipers hier schon kritisiertes Votum über „ewiges Leiden“, das es zu verhindern gelte, und dass man sich kein „defizitäres Verständnis der Hölle“ leisten könne. Ein anderer recht bekannter evangelikaler Meinungsführer gab mir das vor einigen Monaten auch schon zu verstehen, dass er diese Folie für unverzichtbar hält.

Ich bin Agnostiker, was die Hölle angeht. Für meinen Geschmack wurde und wird da viel in biblische Texte hineingelesen, die gar nichts mit dem Jenseits und dem Leben nach dem Tod zu tun haben, sondern Warnungen für das Leben hier und jetzt sind (bzw. damals zur Zeit Jesu). Mag sein, dass man das so oder so sehen kann – mir geht es hier ja nur um die Frage nach der Motivation. Offenbar denken ja viele Mitchristen, dass mit dem Wegfall einer drohenden „Hölle“ auch alle Mission in sich zusammenfallen würde.

Funktioniert also nur die Mischung von Liebe und Angst, oder darf man es wagen, ganz auf die Liebe zu setzen? Oder noch anders gefragt: Wenn wir Aufrufe zum Glauben schon kritisch sehen, die Menschen gleichzeitig suggerieren, dass es ihnen dann – in diesem Leben – besser geht, warum sollte das im Blick auf „die Ewigkeit“ anders sein? Muss das nicht sehr gemischte Motive erzeugen, wenn wir (jetzt bin ich wieder bei Piper) parallel zur Liebe auch den ewigen Zorn zum zweiten Brennpunkt der Motivationsellipse machen – also gerade nicht den konkreten Zorn über das Fortbestehen oder gar die Zunahme von Unrecht, Gleichgültigkeit oder Bosheit, sondern den allgemeinen Zorn auf den Sünder, egal wie harmlos der Mensch auch sein mag? (Nebenbei: Piper stellt sich hier übrigens auch gegen John Stott, einen der Gründerväter von Lausanne)

Nun finden wir bei Jesus wie bei den Propheten der Hebräischen Bibel immer wieder Gerichtsdrohungen und -ankündigungen. Aber wie schon gesagt, halte ich diese für die Erwartung konkreter, geschichtlicher Ereignisse (wie etwa die Zerstörung Jerusalems, die in Markus 13 angekündigt wird), die in der Regel auch ziemlich unmittelbare Folgen des Handelns sind, das Jesus und seine prophetischen Vorgänger kritisierten. Ich kann mit dem Gedanken durchaus leben, dass in Grenzfällen Schmerz punktuell als pädagogische Massnahme noch sinnvoll sein kann. Das legitimiert sicher keine Prügelstrafe in Familie oder Schule, aber in anderen Bereichen der Gesellschaft setzten wir ja durchaus auch auf einen gewissen Abschreckungseffekt, in der Hoffnung, damit Schlimmeres zu verhindern.

Mag sein, dass Liebe gelegentlich so weit gehen kann. Aber Drohungen mit ewigem Leid sind ja etwas anderes – sie werfen die Frage auf, ob Gott am Ende vielleicht nur für manche Menschen Liebe ist.

Reicht das „Miss You Dei“ nicht aus, um die Missio Dei zu begründen? Könnte die Sorge, dass beim Wegfall der ultimativen, metaphysischen Drohkulisse die Sünder dreister und die Missionare träger würden, ein Indiz dafür sein, dass wir trotz aller Lippenbekenntnisse der Liebe nicht genug zutrauen, am Ende also selbst im Glauben so schwach, defizitär oder abgestumpft sind, dass wir ihr Fehlen durch andere Antriebe kompensieren müssen? Könnte eine Verkündigung, die in der Person Jesu und im Kreuz Christi den äußersten Liebesbeweis Gottes – der gesamten Dreieinigkeit – herausstellt, nicht die Antwort einer ähnlich freien und selbstlosen (Richard Rohr würde sagen: „nichtdualistischen“) Liebe bewirken? Und könnte es auf Dauer nicht ein großes Handicap für den Glauben sein, wenn dieser seinen Ursprung nicht nur der Liebe, sondern irgendwo eben auch noch der Suche nach dem eigenen Vorteil und der Erwartung von Lohn verdankt? Ist vielleicht genau das die Ursache dafür, dass wir oft so lange zögern, über unseren Glauben zu sprechen, dass wir Gottes Sehnsucht nach geliebten, aber nun entfremdeten Menschen gar nicht richtig mitempfinden können?

Das Votum des Ratsvorsitzenden der EKD zur Initiative Erwachsen Glauben ist angenehm positiv formuliert, ich stelle es ans Ende, damit es nachklingen kann:

Der Glaube ist unser größter Schatz, und es gibt nichts Schöneres, als ihn mit Menschen unterschiedlicher Weltanschauung ins Gespräch zu bringen.

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Gefährliche Jesusbilder

Es ist gefährlich, sich zu dem „versöhnenden“ Christus zu bekennen, ohne sich die zentrale Bedeutung Jesu aus Nazareth zu beachten; es ist gefährlich, einen „friedliebenden“ Jesus ohne seine prophetische Anklage dazustellen; es ist gefährlich, einen Jesus der Seligpreisungen der Armen (welche zudem noch nicht einmal als wirklich Arme verstanden wurden) ohne seine Verwünschung der Reichen zu verkünden; es ist gefährlich, einen Jesus zu preisen, der alle liebt, ohne die verschiedenen Formen zu betonen, in denen sich diese Liebe ausgedrückt hat, nämlich in der Verteidigung der Armen und der Umkehrforderung an die Adresse der Unterdrücker.

Jon Sobrino, Christologie der Befreiung, S. 34

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Messiashoffnung – zwei Wirkungen

Die Messiashoffnung kann in beiden Richtungen wirken: Sie kann das Herz der Menschen aus der Gegenwart abziehen und in die Zukunft setzen. Dann entleert die Messiashoffnung das gegenwärtige Leben, das Handeln, aber natürlich auch das Leiden an den gegenwärtigen Unterdrückungen. Sie kann aber auch die Zukunft des Messias vergegenwärtigen und die Gegenwart mit dem Trost und dem Glück des nahenden Gottes erfüllen. Dann erzwingt die messianische Idee gerade kein »Leben im Aufschub«, sondern ein Leben in der Vorwegnahme, in welchem alles schon in endgültiger Weise getan werden muss, weil das Reich Gottes auf die Weise des Messias schon »naheherbeigekommen« ist.

Jürgen Moltmann in: Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen. S. 43

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Emergente Christologie

Vor einer Weile habe ich hier skizziert, wie mein Doktorvater Berndt Hamm den aus der Biologie und Systemtheorie entlehnten Begriff der Emergenz gewinnbringend auf die Kirchengeschichte angewandt hat, und schon vor längerer Zeit darauf verwiesen, dass er auch bei Michael Welker in der Pneumatologie erscheint.

Nun habe ich in den letzten Tagen über der Christologie gebrütet und dazu einen Aufsatz in diesem Sammelband von Hans-Joachim Eckstein gelesen, wo er beschreibt, wie sich innerhalb kürzester Zeit, sprich: schon in den frühen Paulusbriefen, Ansätze einer „hohe Christologie“ herausgebildet haben, die den christlichen Gottesbegriff radikal verändert haben gegenüber dem jüdischen Mono- und dem heidnischen Polytheismus.

Und wieder ist es die innovative Verknüpfung zweier längst vorhandener Traditionen, die die Grundlage dafür bildet: Auf der einen Seite stehen Messias, Menschensohn, Gottesknecht – also die Erwartung, dass Gott durch konkrete Personen geschichtlich handelt und das Schicksal der Welt wendet -, auf der anderen Seite die Weisheit Gottes, die ewigen Ursprungs ist und an der Erschaffung der Welt beteiligt, auch wenn sie im Judentum nicht als richtig eigenständiges Wesen gedacht wird. Nur so war es möglich, die (durchaus später noch auftretenden) falschen Alternativen des Adoptianismus (der wäre so neu nicht gewesen in der Antike) oder des Modalismus (Gott verkleidet sich vorübergehend als Mensch) zu vermeiden.

Freilich geschah dies erst im Rückblick auf das Leben, den Tod und die Auferstehung Christi. Wie das Staunen der Jünger und der Protest der Pharisäer, Priester und Schriftgelehrten zeigt, waren zwar die Puzzleteilchen dafür zwar längst vorhanden, niemand aber hatte sie bis dahin in dieser Form zusammengesetzt und nicht jeder fand die neue Konstellation großartig. Exakt diese spannungsreiche, dynamische Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität ist es, was der Begriff „Emergenz“ bezeichnet. Ein paar Jahrhunderte später erfindet die Kirche dafür dann den Begriff der Dreieinigkeit.

Nach vorn gedacht bedeutet das, dass Theologie durchaus zu neuen Deutungen und Begrifflichkeiten kommen kann, die nicht etwa ein Abfall von der bekannten Wahrheit sind, sondern ein tieferes Verstehen ermöglichen und alte Alternativen überwinden – also auch hier ein „dritter Weg“. Manchmal muss man wohl auch alle vorhandenen Traditionen zusammenbringen und neu kombinieren, um dem gerecht zu werden, was Gott in der Welt tut. Und um noch einmal auf Hamm und die Reformation zurückzukommen: Manchmal ist die Zeit dafür einfach reif.

Ob das auch auf unsere Situation zutrifft, wissen wir dann in fünfzig Jahren…

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Weite Wege und feine Unterschiede

Diese Woche las ich die bekannten Verse aus Matthäus 18:

Jesus sagte zu seinen Jüngern: Was meint ihr? Wenn jemand hundert Schafe hat und eines von ihnen sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurück und sucht das verirrte? Und wenn er es findet – amen, ich sage euch: er freut sich über dieses eine mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben.

Beim Lesen erinnerte ich mich an folgende Aussage in Matthäus 23,15:

Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er gewonnen ist, dann macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, der doppelt so schlimm ist wie ihr selbst.

und fragte mich: Was genau unterscheidet nun das eine vom anderen? Missionseifer und die Bereitschaft, weite Wege zu gehen jedenfalls nicht. Gilt hier also: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es deshalb noch lange nicht das Gleiche…?

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Gut gesagt

Für gestern abend habe ich meine Notizen und Unterlagen zu Kapstadt durchgesehen und dabei auch ein paar Dinge zu Edinburgh 2010 gelesen. Die Abschlusserklärung fand ich gut, sie war kurz, prägnant, ohne das etwas unständliche Pathos, das hier und da im Capetown Commitment erscheint. Kompliment!

Ich nehme mir mal die Freiheit, den „Edinburgh Common Call“ hier in der Deutschen Fassung reinzukopieren. Es ist leider nicht immer gut übersetzt (was bitteschön ist „Gastfreundlichkeit“?). Und wer noch einen guten, nachdenklichen Kommentar zu Kapstadt lesen möchte, der findet ihn hier.

GEMEINSAMER AUFRUF

Wir sind zur Hundertjahrfeier der Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 zusammengekommen und bekennen unseren Glauben, dass die Kirche als Zeichen und Symbol des Reiches Gottes berufen ist, heute Zeugnis von Christus abzulegen, indem sie an Gottes Mission der Liebe durch die verwandelnde Kraft des Heiligen Geistes teilhat.

1. Im Vertrauen auf den dreieinigen Gott und im erneuten Bewusstsein der Dringlichkeit sind wir aufgerufen, die frohe Botschaft vom Heil, von der Vergebung der Sünde, vom Leben in seiner ganzen Fülle und von der Befreiung der Armen und Unterdrückten zu verkörpern und zu verkündigen. Wir sind zu solchem Zeugnis und solcher Evangelisation aufgefordert, die uns zu lebendigen Zeichen der Liebe und Gerechtigkeit werden lassen, die dem Willen Gottes für die ganze Welt entsprechen.

2. Im Gedenken an Christi Opfertod am Kreuz und seiner Auferstehung für das Heil der Welt und in der Kraft des Heiligen Geistes sind wir zu aufrichtigem Dialog, respektvollem Engagement und demütigen Zeugnis von der Einzigartigkeit Christi unter Menschen anderen – und keinen – Glaubens aufgerufen. Unser Handeln ist von kühnem Vertrauen auf die Botschaft des Evangeliums geprägt; es baut Freundschaft auf, strebt nach Versöhnung und übt Gastfreundlichkeit.

3. In der Gewissheit des Heiligen Geistes, der über die Erde bläst, wie er will, der die Schöpfung wieder verbindet und unverfälschtes Leben bringt, sind wir aufgerufen, Gemeinschaften der Mitmenschlichkeit und Heilung zu werden, in denen junge Menschen aktiv an der Mission teilhaben und Frauen und Männer gleichberechtigt Macht und Verantwortung miteinander teilen, in denen ein neuer Eifer für Gerechtigkeit, Frieden und Umweltschutz spürbar ist und eine erneuerte Liturgie gefeiert wird, die die Schönheit des Schöpfers und seiner Schöpfung widerspiegelt.

4. Beunruhigt über Unausgewogenheit und Ungleichgewicht von Macht, die uns in der Kirche wie in der Welt spalten und Sorge bereiten, sind wir zur Buße aufgerufen, zum kritischen Nachdenken über Machtsysteme und zu einem verantwortlichen Umgang mit Machtstrukturen. Wir sind aufgerufen, konkrete Wege zu finden, um als Glieder des einen Leibes in vollem Bewusstsein dessen zu leben, dass Gott die Hochmütigen abweist, dass Christus die Armen und Niedergeschlagenen annimmt und bevollmächtigt und dass sich die Kraft des Heiligen Geistes in unserer Verletzlichkeit manifestiert.

5. Im Bekenntnis zur Bedeutung der biblischen Grundlagen für unser missionarisches Engagement und unter Wertschätzung des Zeugnisses der Apostel und Märtyrer sind wir aufgerufen, uns der Ausdrucksformen des Evangeliums in vielen Ländern auf der ganzen Welt zu erfreuen. Wir feiern die Erneuerung, die wir durch Migrationsbewegungen und durch Missionstätigkeit in alle Richtungen erfahren, die Weise, wie alle durch die Gaben des Heiligen Geistes für die Mission ausgerüstet werden, und Gottes fortwährenden Aufruf an Kinder und junge Menschen, das Evangelium zu fördern.

6. In Anerkennung der Notwendigkeit, eine neue Generation von Führungskräften zu prägen, die in einer Welt der Vielfalt im 21. Jahrhundert glaubwürdige Missionsarbeit leisten, sind wir aufgerufen, in neuen Formen der theologischen Ausbildung zusammenzuarbeiten. Weil wir alle nach dem Bild Gottes erschaffen sind, werden sich diese neuen Formen auf die einmaligen Charismen stützen, die jedem und jeder von uns eigen sind, uns einander auffordern lassen, im Glauben und Verständnis zu wachsen, Ressourcen weltweit gerecht miteinander zu teilen, den ganzen Menschen und die ganze Familie Gottes einzubinden und die Weisheit unserer Ältesten zu respektieren und gleichzeitig die Beteiligung von Kindern zu fördern.

7. Im Vernehmen des Aufrufs Jesu, alle Völker zu Jüngern und Jüngerinnen zu machen – arme, reiche, marginalisierte, unbeachtete, mächtige, behinderte, junge und alte Menschen -, sind wir als Glaubensgemeinschaften zur Mission von überall nach überall aufgerufen. Freudig vernehmen wir den Ruf , einer vom anderen zu empfangen, während wir in Wort und Tat Zeugnis ablegen – auf den Straßen, den Feldern, in Büros, zu Hause und in Schulen – und Versöhnung anbieten, Liebe zeigen, Gnade verkündigen und die Wahrheit aussprechen.

8. Im Gedenken an Christus, den Gastgeber beim Festmahl, und der Einheit verpflichtet, für die er gelebt und gebetet hat, sind wir zur fortwährenden Zusammenarbeit aufgerufen, dazu, uns kontroverser Themen anzunehmen, und auf eine gemeinsame Vision hinzuarbeiten. Wir sind aufgefordert, einander in unserer Verschiedenheit anzunehmen, unsere Mitgliedschaft durch die Taufe in dem einen Leib Christi zu bekennen und anzuerkennen, dass wir der Gegenseitigkeit, Partnerschaft, Zusammenarbeit und Vernetzung in der Mission bedürfen, damit die Welt glaube,

9. Im Gedenken an Jesu Weg des Zeugnisses und Dienstes glauben wir, dass Gott uns aufruft, in Christi Nachfolge diesen Weg zu gehen – freudig, inspiriert, gesalbt, ausgesandt und ermächtigt durch den Heiligen Geist, gespeist von den christlichen Disziplinen in unseren Gemeinschaften. In Erwartung der Ankunft Christi in Herrlichkeit und zum Gericht, erfahren wir seine Gegenwart im Heiligen Geist und wir laden alle ein, sich uns anzuschließen, wenn wir an Gottes verwandelnder und versöhnender Mission der Liebe für die ganze Schöpfung teilhaben.

Edinburgh, 6. Juni 2010

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Neue Reformierte, alte Dualismen

Von all meinen Posts zum Lausanne III Kongress in Kapstadt hat meine Kritik an John Piper die meisten und heftigsten Reaktionen ausgelöst. Rolf Zwick hat mir einen Text von René Padilla zugeschickt, der ein durchwachsenes Fazit zieht. Padilla lobt die bunte Zusammensetzung der Delegierten und die globale Ausstrahlung des Kongresses, er würdigt die Bibelarbeiten und die bewegenden persönlichen Geschichten in den Plenumsveranstaltungen, die Themenvielfalt der Multiplexe und Dialogue-Sessions.

Zugleich kritisiert er jedoch einen Rückfall in den alten Dualismus von Evangelisation und sozialem Engagement als groben Schnitzer – einen von mehreren. Die Bibelarbeit des zweiten Tages hatte diesen aufgehoben, denn in Eph. 2,15 erscheint Christus als „Schalom“ – ein Begriff, der die Versöhnung mit Gott und die sozialen Verhältnisse untrennbar in sich vereint, Gottes- und Nächstenliebe nicht gegeneinander ausspielt.

Dagegen ging die Ganzheitlichkeit der Sendung Christi (oder der missio dei) am Folgetag wieder verloren, und da hat Padilla Piper offenbar genauso gehört wie ich. Er sieht dringenden theologischen Klärungsbedarf im Sinne ganzheitlich-integraler Mission. Hier sein Kommentar in der englischen Übersetzung:

The Bible reading based on Ephesians 3 on the following day threw into relief the urgent need that there is in the Lausanne Movement to clarify theologically the content of the mission of God’s people. In contrast with what had been said on the previous day, the Bible expositor assigned for that day stated that, although the church is concerned about every form of human suffering, she is especially concerned about eternal suffering and consequently is called to give priority to the evangelization of the lost.

Die nötige Diskussion über solche theologischen Fragen – sie wäre mit Sicherheit kontrovers geführt worden – hat auf dem Kongress leider nicht stattgefunden. Das unter Leitung von Chris Rice erarbeitete Capetown Commitment ist, wie Padilla moniert, auch nur verteilt worden, aber nicht besprochen. Als letzten Minuspunkt zählt er dann die Dominanz des westlichen Geldes auf – die Sponsoren haben bei der Programmgestaltung und den Inhalten kräftig mitgeredet.

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Richtige Lösung – falsches Problem?

Ich bin immer noch am Nachdenken über unseren FairZweifeln-Abend gestern. Unter sachkundiger Anleitung eines Juristen haben wir den Zusammenhang zwischen Schuld, Rechtfertigung, Gesetz, Strafe und Vergebung betrachtet – und kamen dann zu dem einhelligen Ergebnis, dass es kaum plausibel zu erklären ist, warum der Tod Christi am Kreuz zur Lösung des Problems persönlicher, individueller Schuld irgendwie „nötig“ gewesen sein sollte. Denn vergeben kann Gott vom rechtlichen Standpunkt aus auch ohne Opfer oder Ausgleichsleistung. Und er tat eben dies ja auch immer wieder – die hebräische Bibel ist voller Aussagen über Gottes Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft. Die Evangelien auch – Jesus vergibt so gern und so oft, dass es die Frommen empört.

Allerdings haben wir alle immer wieder – vor allem in „evangelistischen“ Predigten – zu hören bekommen, dass Jesus stirbt, um mein persönliches Schuldproblem zu lösen und – der Gedanke schwang meistens implizit mit – irgendwie dabei auch Gottes Zorn zu besänftigen. Die Vorstellung beißt sich aber massiv mit vielen Beschreibungen, die wir bei Jesus finden, zum Beispiel im Gleichnis vom verlorenen Sohn (und wenn wir schon dabei sind, im ganzen Kapitel Lukas 15). Und anders als im Mittelalter kann sich heute kaum ein Mensch noch so einen Gott vorstellen.

Man muss also weiter denken als viele das tun. Ein Gedanke unseres Juristen war: Wenn wir in Kategorien des Rechts denken, müssen neben den Tätern auch die Opfer menschlicher Vergehen in die Überlegung einbezogen werden. Indem Gott – selbst Opfer exzessiver Gewalt – vergibt, bricht er seine Solidarität mit den menschlichen Opfern von Unrecht und Bosheit nicht. Wäre Gott nicht unmittelbar selbst betroffen, käme Vergebung für einen Täter der Verharmlosung seiner Tat gleich, einem Deal mit dem Täter hinter dem Rücken des Opfers. Insofern legt das Kreuzesgeschehen immer auch sofort die Grundlage für Versöhnung zwischen Menschen: Es befreit Täter und Opfer zugleich aus ihrem Aneinander-Gekettetsein. Es eröffnet neue Möglichkeiten für die Überwindung von Konflikten und die Beseitigung von Hass.

Das ganze Thema hat aber noch andere Dimensionen, die in der Sprache des Rechts gar nicht zu fassen sind. Ein paar davon haben wir auch kurz gestreift, mehr Zeit hatten wir leider nicht. Ich packe sie, wenn ich dazu komme, in einen späteren Post. Wer mag, kann ja einstweilen das dazugehörige Kapitel in Kaum zu fassen lesen. 🙂

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Kirchengeschichte im Zeitraffer

Zu Beginn des Kongresses in Kapstadt lief das folgende Video. Sicher kein einfaches Unterfangen, die Geschichte des Christentums in ein paar Minuten darzustellen. Vieles kann man nur andeuten, und natürlich gibt es zu den meisten Punkten auch konträre Positionen – insofern bin ich gespannt auf Eure Kommentare. Gelungen fand ich zumindest den Refrain „some thought, it was the end of the world…“

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Den Eifer nicht erkalten lassen?

Hin und wieder lese ich momentan in Hubert Schleicherts Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Um exemplarisch zu zeigen, was aus einem Prinzip wie „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ oder dem Einsatz für die Wahrheit (bzw. die Ehre Gottes, die Partei, das Proletariat) folgen kann, zitiert Schleichert den Genfer Reformator Calvin:

Jeder, der die Ansicht unterstützt, man tue Häretikern und Gotteslästerern durch eine Bestrafung Unrecht, macht sich bewusst mitschuldig und zum Komplizen desselben Verbrechens. Man komme mir nicht mit irdischen Autoritäten – es ist Gott, der hier spricht, und man sieht klar, was Er in seiner Kirche bis ans Ende der Welt bewahrt haben will.

Nicht ohne Grund schlägt Er alle menschlichen Gefühle nieder, von denen gewöhnlich das Herz erweicht wird; nicht ohne Grund verjagt Er die Liebe des Vaters zu seinen Kindern und alle Freundschaft zwischen Brüdern und unseren Nächsten; (nicht ohne Grund) entzieht Er die Ehemänner den vielleicht milde stimmenden Schmeicheleien ihrer Frauen; mit einem Wort: (nicht ohne Grund) beraubt Er die Menschen quasi ihrer Natur.

(Nämlich:) Damit nichts ihren Eifer erkalten lasse. Warum fordert Er diese extreme Härte und Unnachgiebigkeit, wenn nicht, um zu zeigen, dass man Ihm nicht die schuldige Ehre erweist, wenn man nicht Seinen Dienst wichtiger nimmt als jede menschliche Rücksicht, und weder Verwandtschaft noch Blut noch sonst irgend etwas schont; und dass man jegliche Menschlichkeit zu vergessen hat, wenn es darum geht, für Seinen Ruhm zu kämpfen?

Schleichert denkt nun nicht, dass Christen im 21. Jahrhundert noch so denken und argumentieren, aber er hält die Geisteshaltung, die sich hier ausspricht, für beispielhaft, wenn es um ideologischen und religiösen Fanatismus geht. Zum Glück ist das 500 Jahre her. Calvin stand damals auch keineswegs allein mit dieser Ansicht. Und trotzdem läuft es mir zumindest noch etwas kalt den Rücken hinunter.

Falls jemand beim Lesen auf diesem Blog bisher der Meinung war, das ich auf manche Argumentationsmuster recht empfindlich reagiere – vielleicht versteht man es vor diesem Hintergrund besser. Zum Beispiel dann, wenn jemand sagt, der höchste Ausdruck von Liebe sei es, einen anderen Menschen mit der vollen Wahrheit zu konfrontieren. Ich verstehe, was da auch gemeint sein könnte, aber es riecht mir zu sehr nach Fanatismus, wenn da die Wahrheit am Ende doch die Liebe absorbiert. In der Frage der Wahrheit kann ich irren, in der Liebe kaum. Es heißt eben nicht von ungefähr: Glaube, Liebe, Hoffnung – und die Liebe ist die größte unter ihnen.

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Mission und Qualität – geht das?

Vorgestern war ich zu einem Treffen eingeladen, wo wir versucht haben, diese beiden Begriffe zusammenzubringen. Vielleicht war die Runde ein bisschen zu groß, die das Zentrum Mission in der Region da zusammengebracht hatte. Während die offizielle Ergebnissicherung noch aussteht, habe ich beschlossen, hier mal mein persönliches Fazit in ein paar unausgegorenen Thesen festzuhalten:

1. Wesen und Ziel von Mission

Zum Missionsbegriff ist viel geschrieben worden. Ich bevorzuge ein weites, ganzheitliches Verständnis. Mission ist mehr als nur die Predigt des Evangeliums, sondern auch der Dienst am Nächsten und das Eintreten für soziale und ökologische Gerechtigkeit.

Aber selbst in der weitesten Fassung muss man gleichzeitig festhalten: Mission ist nur das, wo sich Kirche und Christen nicht mit sich selbst beschäftigen. Das ist im großkirchlichen Kontext schwer zu definieren, wo Kirchenmitgliedschaft und Getauftsein sich mit sehr unterschiedlicher Nähe und Distanz zum Glauben verbinden.

Mission hat ihr Ziel erst dann wirklich erreicht, wenn Menschen aktiv an dieser Bewegung teilnehmen, die Gottes liebendes und rettendes Handeln an der Welt beschreibt (richtig verstanden führen Taufe und/oder die Erfahrung von „Bekehrung“ zu diesem Ziel). Wollte man über Erfolgskriterien oder Ergebnisqualität nachdenken, so müsste man ansetzen bei Fragen wie:

  • hilft sie Menschen, zum Glauben zu finden und diesen auch selbst wieder weiterzugeben?
  • nehmen die nach außen gerichteten Aktivitäten in einer Gemeinde zu?
  • finden wir Partner in anderen Gruppen (und Glaubensgemeinschaften), mit denen wir soziale und ökologische Anliegen gemeinsam verfolgen?
  • wird unsere Stimme in der Gesellschaft wahrgenommen?

2. Charakter von Mission

Hier geht es, das habe ich gestern gelernt, um die Prozessqualität. Ich hatte vorgeschlagen, sich am biblischen Ethos der Gastfreundschaft zu orientieren. Ganz knapp formuliert hat „gute Mission“ für mich fünf Aspekte; ich versuche, weitgehend positiv zu formulieren:

  1. Die Bereitschaft, selbst zum Fremden zu werden – sich durch die Identifikation mit Christus in eine Distanz zur eigenen (auch und gerade kirchlichen) Kultur führen zu lassen, starre Identitäten erschüttern zu lassen und deren Grenzen zu überschreiten um des Nächsten willen.
  2. Auf den Nächsten, der mir als Fremder begegnet, zuzugehen und ihn mit seinen Bedürfnissen wie mit seinem Reichtum sehen zu lernen
  3. Einen Freiraum (Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit) zu schaffen, der frei ist von Erwartungs- und Anpassungsdruck (bzw. von allen Versuchen, andere zu beeindrucken, zu manipulieren oder zu übertrumpfen)
  4. Eine „freundliche Leere“ (H. Nouwen) zu pflegen, indem ich mich selbst zurücknehme und ein echter, ergebnisoffener Dialog und gegenseitiges Lernen möglich wird
  5. das freimütige, fröhliche und unapologetische Bekenntnis des eigenen Glaubens an den dreieinigen Gott bzw. der eigenen Glaubensgeschichte mit Gott im Rahmen der großen Geschichte Gottes mit der Welt.

Hier wird „Qualitätssicherung“ vor allem darin bestehen, auf die Rückmeldungen des jeweiligen Gegenübers zu hören. Darüber hinaus kann man sich selbst fragen (und das am besten von Jahr zu Jahr und dann die Antworten vergleichen):

  • Wo bewegen wir uns als einzelne und gemeinsam über das gewohnte und vertraute Terrain hinaus?
  • Wo gelingt es uns, Distanz zu überwinden und Vorbehalte bei uns selbst und anderen abzubauen?
  • Wie klar ist unsere Vorstellung von unserem Beitrag zum Wohl des Gemeinwesens?
  • Wo lassen wir die Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen und dem eigenen Erfolg bleiben um des anderen willen und pflegen Kontakte?
  • Welche Spannungen nehmen wir dafür in Kauf?
  • Wie kultivieren wir Achtsamkeit und Gelassenheit?
  • Wie ist es um unsere Sprachfähigkeit im Blick auf den Glauben bestellt und welche Formen (Belehrung, Appell, Apologie, Bekenntnis/Zeugnis) bevorzugen wir dabei?

Oft sind hier nur relative Bewertungen möglich: Mehr/weniger (bzw. besser/schlechter) als vor einem Jahr, vor drei Jahren, vor zehn. Die jedoch können enorm sinnvoll und hilfreich sein. Man könnte schließlich auch noch die Frage der Strukturqualität aufwerfen: Aus- und Weiterbildung des Personals, Ausstattung mit Mitteln, angewandte Methoden.

Ich gestehe, dass ich das immer noch mit einem mulmigen Gefühl niederschreibe. Die Ökonomisierung so vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens droht auch in den Kirchen großen Schaden anzurichten, wenn man nicht sehr umsichtig mit den Begriffen und Methoden des Managements verfährt. Ich rede zum Beispiel viel lieber von „Identität“ als „Marke“ zu sagen. In dieser Hinsicht musste ich mir beim Gespräch öfters auf die Zunge beißen. Die meisten Leute, die ich kenne, sind heilfroh, wenn in ihrer Gemeinde nicht auch noch die ganze Zeit von Effizienzsteigerungen und ähnlichen Dingen die Rede ist.

Kleiner Nachtrag: Mission ist eine Art Liebesaffäre. Kein Wunder, wenn man Hemmungen verspürt, in Herzensangelegenheiten Qualitätskriterien anzulegen.

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Homosexualität: Leiser streiten

Vor einer Weile habe ich mich in ein paar Posts mit den Positionen des Aufatmen-Dossiers Homosexualität beschäftigt. Inzwischen habe ich angefangen, im Sammelband Homosexuality and Christian Faith zu lesen. Ein Beitrag stammt vom Herausgeber selbst – Walter Wink, definitiv kein theologisches Leichtgewicht – und da geht es um Homosexualität und die Bibel. Ich referiere das hier einfach kurz und kommentarlos:

Die Frage nach einem Standpunkt zu Homosexualität führt uns immer wieder zurück auf die Frage, wie wir die Bibel heute verstehen und auslegen. Wink beginnt damit, dass er sagt, bei manchen Texten ist nicht klar, ob sie sich überhaupt auf Homosexualität beziehen. Bei anderen ist der Bezug unmissverständlich, etwa in Levitikus 18 und 20. Allerdings strikt auf Männer bezogen. Im Hintergrund steht das vorwissenschaftliche Weltbild der Hebräer, die davon ausgingen, das männliche Sperma enthält das Ganze des werdenden Lebens, weshalb es Tötung ungeborenen Lebens wäre, es nicht ausschließlich zur Zeugung einzusetzen. Daher die Todesstrafe. Fruchtbarkeit hatte in der alten Welt einen ganz anderen Stellenwert, es ging um das Überleben des Stammes und der Sippe, um Altersversorgung und – da es keinen Auferstehungsglauben gab – eine gewisse Form des Weiterlebens nach dem Tod. All das hat sich für uns verändert.

Manche dieser Vorstellungen stehen auch im Hintergrund, wenn Paulus in Römer 1,26f mit dem Gegensatz natürlich/unnatürlich arbeitet. Paulus hatte allem Anschein nach keine Vorstellung von einer homosexuellen Neigung, die sich entweder sehr früh im Leben entwickelt oder möglicherweise auch angeboren ist, sondern er geht davon aus, dass jemand willentlich gegen eine gegebene heterosexuelle Natur handelt. Paulus und seine Zeitgenossen hatten vermutlich auch kein Konzept gleichberechtigter homosexueller Partnerschaften die auf Dauer und Treue angelegt sind.

Aus der Bibel eine widerspruchsfreie, stimmige Sexualethik abzuleiten, ist deswegen ein schwieriges Unterfangen, weil dort ganz verschiedene Gebräuche oft unkommentiert nebeneinander stehen.

  • Geschlechtsverkehr während der Woche nach dem Einsetzen der Menstruation wird mit dem Tod bestraft (Lev. 18,19; 15,19-24)
  • Ehebrecher wurden gesteinigt (Dtn 22,22), allerdings konnte eine Frau nur die eigene, der Mann nur die Ehe eines anderen „brechen“. Eine Braut, die vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, wurde auch gesteinigt.
  • Nacktheit war ein strenges Tabu (Gen 9,20ff, 2.Sam 6,20; 10,4; Jes 20,2-4; 47,3)
  • Polygamie und Konkubinat dagegen kommen wiederholt vor und werden nicht kritisiert, im Judentum noch in nachneutestamentlicher Zeit
  • Die Leviratsehe ist Brauch im AT wird auch von Jesus ohne negative Wertung erwähnt
  • Wie das Hohelied andeutet, sind im Judentum einvernehmliche sexuelle Beziehungen unter Unverheiratetenin Einzelfällen möglich, so lange sie den Brautpreis nicht schmälern (s.o.).
  • In manchen ländlichen Gegenden erfolgte auch unter Christen die Eheschließung erst dann, wenn die Braut schwanger war. Kinderlosigkeit konnte man sich nicht leisten.
  • Sperma und Menstruationsblut verunreinigten nach dem jüdischen Gesetz einen Menschen für einen Tag bzw. eine Woche – Christen kümmert das heute in der Regel gar nicht mehr.
  • Regelungen zu Ehebruch, Inzest, Vergewaltigung, Prostitution drehen sich meistens um die Frage, wie hier männliche Besitzverhältnisse in einer patriarchalischen Gesellschaft berührt werden. In manchen jüdischen Texten ist zwar die Prostituierte eine Sünderin, nicht aber der Mann, der zu ihr geht. Heute verstehen wir das anders, weil wir von einer gleichberechtigten Partnerschaft mit Liebe, Treue und gegenseitiger Achtung ausgehen.
  • Die Mischehe mit Angehörigen anderer Völker ist im Alten Testament in der Regel verboten
  • Das mosaische Gesetz erlaubt die Scheidung, Jesus verbietet sie, die meisten Christen haben sich mit der Realität von Scheidungen inzwischen irgendwie arrangiert.
  • Ehelosigkeit wird im Alten Testament als abnormal empfunden, ihre generelle Forderung in 1Tim 4,1ff als Häresie bezeichnet, Paulus empfiehlt sie als Charisma und Jesus lebt sie vor.
  • Sklaverei wird in Teilen der Bibel akzeptiert und der „Gebrauch“ von Sklavinnen als Konkubinen gehörte da auch dazu.

Angesichts dieser Vielfalt, sagt Wink nun, sind Christen schon immer dabei, biblische Aussagen zu gewichten, zwischen unterschiedlichen Positionen auszuwählen und es ist gar nicht möglich, alles wörtlich zu erfüllen. Es gibt für Wink keine isolierte biblische Sexualethik. Stattdessen gilt:

Sexualität kann vom Rest des Lebens nicht getrennt werden. Kein geschlechtlicher Akt ist an sich „ethisch“, ohne Bezug zum übrigen Leben eines Menschen, den Mustern seiner Kultur, den besonderen Umständen, mit denen er zu tun hat, und dem Willen Gottes. Wir haben hier einfach sexuelle Gepflogenheiten, die sich manchmal mit erstaunlicher Geschwindigkeit wandeln und in befremdliche Dilemmata führen.

Diese Verhaltensweisen und Gepflogenheiten gilt es nun, sagt Wink, vom biblischen Liebesgebot her zu bewerten. Homosexualität als Orientierung ist für ihn so wenig eine Frage der Moral wie Linkshändigkeit, daher wirft er die Frage auf, ob man sie nicht (analog zu Ehelosigkeit) als Gabe neu begreifen sollte. Jesus fordert in Lukas 12,57 von seinen Zuhörern ein eigenverantwortliches ethisches Urteil, und Wink fragt, ob angesichts eines verändertes Wissensstands wie angesichts veränderter sozialer Verhältnisse nicht eine Neubewertung an der Zeit ist, die frühere Urteile revidiert. So wie Christen inzwischen Sklaverei, Gewalt und Sexismus hinter sich lassen und die biblischen Texte, in denen sich dies noch als unbestrittene Realität widerspiegelt, anders werten, könnte auch hier eine begründete Öffnung stattfinden. Den Ermessensspielraum hält er für gegeben.

Von daher kritisiert und beklagt Wink die aggressiven Auseinandersetzungen um das Thema Homosexualität in den Kirchen. Es wäre angesichts der Vielschichtigkeit der Auslegungsfragen besser, die Lautstärke um 95% zu reduzieren und auf gegenseitige Ausschlüsse und Verurteilungen zu verzichten, so lange kein Konsens erreicht ist. Als Beispiel führt er das Ehepaar Campolo an, die auch zum Autorenkreis des Sammelbands gehören. Meinungsunterschiede sind schmerzhaft, aber es ist eben manchmal nötig, sie auszuhalten.

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Ehe ohne Trauschein?

Ich schreibe gerade an einem Artikel über das Abendmahl und habe dabei neben der Frage der Symbole unter anderem auch die Position der Heilsarmee studiert. Wegen der konfessionellen Grabenkriege verzichtet die Heilsarmee ganz auf Sakramente. Auf der Website heißt es dazu:

Nach Auffassung der Heilsarmee haben rituelle Handlungen nur dann einen Sinn, wenn auch ihr geistlicher Sinn erfasst und verwirklicht wird. Daher verzichtet sie auf die Sakramente als symbolische und äußerliche Handlung. Die geistliche Bedeutung jedoch, die hinter dem symbolischen Akt (Wassertaufe und Abendmahl) steht, wird von der Heilsarmee ausdrücklich vertreten.

Die Argumentation – wir wollen den Inhalt, aber verzichten auf die Form – hat mich an die Debatte um die Ehe erinnert. Da wird völlig analog beklagt, dass in der Ehe und um die Ehe gestritten wird, dass es Pro-Forma-Ehen gibt, die den Namen nicht verdienen, und dass ein Trauschein keine Liebe erzwingt. Folglich lässt sich die „geistliche“ (oder eigentliche) Sache vielleicht ohne solche Äußerlichkeiten besser und einfacher haben. Sie liegt ja sowieso „hinter dem symbolischen Akt“ – auf einer ganz anderen Ebene.

Damit bürdet man natürlich dem einzelnen noch viel größere Lasten auf, weil man die Erwartung an Authentizität erhöht. Nun muss man sich zumindest theoretisch in jedem Augenblick neu entscheiden und ständig kritisch beäugen. Ein Tief oder eine Durststrecke werden schnell zum existenziellen Fragezeichen, wenn jede äußere Klammer fehlt.

Man kann diese Logik pflegen und diese Position vertreten. Wenn man das aber beim Abendmahl tut, müsste man das bei der Ehe dann nicht auch machen? Oder es umgekehrt bleiben lassen? Dass diese Symbolkritik von der einzigen protestantischen Kirche stammt, die Uniform trägt und „Blut und Feuer“ im Wappen führt, entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie…

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