Vollkorn-Apostel

Tom aus dem Kirchengeschichtskurs beim IGW letzte Woche in Zürich hat die folgende Mahnung des Clemens von Alexandria († ca. 215) gefunden. Clemens beschwert sich über ungesundes Essen, namentlich „die unnütze Geschicklichkeit der Zuckerbäckerei“ und rät dann im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses von christlicher Lebensführung erstaunlich fortschrittlich (aber in harschem Tonfall) zum gesünderen Vollkornbrot. Im weißmehlsüchtigen Mittelmeerraum hat er sich damit nicht durchsetzen können, aber heute wissen wir seinen Rat wieder zu würdigen:

Ja sogar der einfachsten Speise, dem Brot, nehmen sie die Kraft, indem sie vom Weizen die eigentlich nahrhaften Bestandteile durch Aussieben entfernen, so dass die notwendige Speise in ein Mittel schimpflicher Genusssucht verwandelt wird.

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Der eine und der andere Advent

Der Advent ist eine merkwürdige Einrichtung im Kirchenjahr. Einerseits bezeichnet der Begriff die Vorweihnachtszeit und man bereitet sich auf das Christfest vor, die „erste Ankunft“ vor. Beziehungsweise darauf, sich an Weihnachten daran zu erinnern, denn dieses Kommen liegt ja zurück. Man kann – Lesslie Newbigin hat darüber gespottet – das nun pietistisch so aktualisieren, dass man sagt, der Heiland müsse eben in den Herzen immer neu geboren werden. Aber so spricht das Neue Testament nicht, aus guten Grund.

Früher lief am Heiligabend die Sendung „Wir warten auf das Christkind“. Vermutlich wurden die Kleinen damit kaltgestellt, bis die Eltern den Baum geschmückt und die Geschenke drunter abgelegt hatten. Ich finde diesen Advent als Warten auf Weihnachten ziemlich langweilig. Es ist so schrecklich vorhersagbar. Man weiß genau, was kommt, und wann es geschieht.

Klar, man kann sich einstimmen (nein, nicht -kaufen…) und vorbereiten, im frühen Mittelalter jedoch war der Advent eine Zeit des Fastens und der Buße, also ganz ohne Lebkuchen und Schokolade.

Es gibt aber auch den anderen Advent. Der besteht darin, über die Hoffnung auf das zweite Kommen Christi nachzudenken, zu sprechen und zu meditieren. Auf die Hoffnung also, dass alle Tränen abgewischt werden, alle Wunden geheilt, alle schmerzlichen Konflikte in fruchtbare Spannung verwandelt, alle zerbrochenen Beziehungen wieder hergestellt, alles Unrecht überwunden

Diesen Advent zu feiern, bedeutet nicht nach Glühwein und Früchtebrot, sondern nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten. Und das Seufzen der Kreatur zu teilen, des fiebrigen Planten mit steigender Temperatur. Oder (um ein abgelutschtes Wort doch noch einmal zu verwenden) Solidarität zu üben mit all den Menschen, die unter sehr viel mieseren Bedingungen leben als wir selbst, und sich jeden Tag fragen, wie lange das noch so weitergehen soll. Kerzen und Lichterketten haben dann nicht die Funktion, die jahreszeitliche Dunkelheit behaglicher zu machen, sondern ein Zeichen gegen die düsteren Ausblicke vieler und die finsteren Machenschaften einiger weniger Mächtiger zu setzen.

Es ist aber auch eine Zeit, wo nicht nur passives (Mit-)Leiden, sondern praktisches Handeln eingeübt werden kann. Das wäre das „Fasten, das Gott gefällt“ (vgl. Jes. 58). Es unterbleibt aber oft auch deshalb, weil wir unseren naturgemäß begrenzten Einsatz für unerheblich halten, nur einen Tropfen auf den heißen Stein darin sehen. Ein „Warten in Gerechtigkeit“ tut das Gute unabhängig von Kosten-Nutzen-Erwägungen. Die haben sicher auch ihr Recht, man muss die Folgen seines Tuns wohl bedenken. Aber manchmal irren wir auch nach der Seite, dass wir sie zu gering veranschlagen und apathisch werden.

Man feiert dann Weihnachten auch ganz anders: Jesus erscheint nach diesem Vorlauf als einer der Ausgeschlossenen, Ungewollten, Herumgeschobenen und Vertriebenen, das Magnificat als das „we shall overcome“ des ersten Jahrhunderts. Und das Weihnachtsessen als eine Vorwegnahme des großen Festmahls aus Jesaja 25,6-9.

PS: Wann bringt die Micha-Initiative eigentlich ihren Adventskalender heraus?

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Caution: Bible Hazard :)

Da hatten wir es doch erst vom evangelikalen Linksruck in den USA, schon folgt das nächste Aha-Erlebnis: Christianity Today hat jüngst auf eine Studie der Baylor University hingewiesen, die der Frage nachgeht, was eigentlich mit Leuten passiert, wenn sie in der Bibel lesen. Viele würden nun erwarten, dass vor allem konservative Werte und Einstellungen davon befördert werden, und an einigen Stellen ist das auch der Fall.

Zugleich aber entdeckten die Forscher, dass Christen die rabiaten Sicherheitsgesetze des Patriot Act um so kritischer sahen, je öfter sie zur Bibel griffen. Ähnliches gilt für die Abschaffung der Todesstrafe und einen humanen Strafvollzug oder die Vereinbarkeit (!) von Bibel und moderner Wissenschaft.

Soziale Gerechtigkeit und Konsumverzicht standen bei den Viellesern deutlich höher im Kurs als bei den Weniglesern. Man fragt sich, ob der Bible Belt mit seinem stramm konservativen Wählerpotenzial seinen Namen eigentlich noch verdient, oder ob diese Positionen nicht ein Hinweis darauf sind, dass den Konservativen die Bibel herzlich egal ist oder nur insofern relevant, als sie ihre rechte Agenda vermeintlich legitimiert.

Warum das so ist, erklärt Aaron B. Franzen so:

Frequent Bible readers may have different views of biblical authority, but they tend to read it devotionally, looking for ways in which Scripture is speaking directly to them. They will read until struck by something that sticks out in the text. Even if the reader thinks the Bible has some error or needs a lot of interpretation, this thunderbolt moment can take on tremendous personal significance.

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Weisheit der Woche: Anders sehen

Brian McLaren in seinem wunderbaren Naked Spirituality über das meditative, nichtdualistische Denken, das uns hier schon ab und zu beschäftigt hat:

Nicht, dass alles gut wäre. Weit gefehlt. Niemand […] würde das sagen. Es gib aber in allem etwas Gutes, oder das Potenzial, aus allem etwas Gutes zu machen.

Nicht, dass alles gleich wäre. Weit gefehlt. Aber alles unterscheidet sich und gehört zugleich auch auch zusammen, alles kann erlöst, alles kann vergeben werden.

Nicht, dass alles relativ wäre, ohne feste und festgelegte Identität, aber alles ist verwandt, also ist seine Identität irgendwie verwoben mit der Identität von allem anderen.

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Für müde Krieger

In den letzten Tagen hat mich Van Morrisons „I’m Tired, Joey Boy“ begleitet. Die trüben Herbsttage stehen ja erst noch bevor. Man könnte also eine wunderbare Burnout-Prävention damit bestreiten. Das beginnt schon mit der Ursachenforschung, wenn es dort treffend heißt:

Ambition will take you

And ride you too far and

Conservatism bring you to boredom once more

Zwischen Stillstand und Überforderung liegt der Weg zurück zum Ursprünglichen. Das beschreibt der Belfast Cowboy mit diesen Worten:

Sit down by the river

And watch the stream flow

Recall all the dreams

That you once used to know

Der Gang in die Einsamkeit und zurück zum Einfachen führt dazu, dass die Wogen sich glätten und die Stürme legen:

Love of the simple is all that I need

I’ve no time for schism or lovers of greed

Go up to the mountain, go up to the glen

When silence will touch you and heartbreak will mend

Ich werde mir das Lied noch ein paarmal anhören… 🙂

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Gott ist die Liebe

Neulich habe ich geschrieben, dass ich nicht so der Typ für „Lieschen Müller“ bin. Der folgende Text ist als Taufansprache zu 1. Joh 4,16b entstanden. Ich habe es mal so einfach wie möglich versucht. Vielleicht kann ich bei manchen Müllers mein ramponiertes Image ja etwas verbessern. 🙂

Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.

Johannes, der diesen Satz schreibt, ist ein alter Mann irgendwo in Griechenland. Jahrhunderte lang haben sich die Griechen kluge Gedanken gemacht über Gott: Wie man ihn erkennt und wie man mit ihm verbunden sein kann. Sie haben die schönsten Tempel der Welt gebaut und die besten Akademien gegründet. Wenn jemand das wissen konnte, dann dieses Volk der Dichter und Denker.

Sie haben die Natur studiert, die Lebewesen und Himmelskörper. Sie haben versucht, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken: Die Elemente der Welt, ihre Ordnung, und die Vernunft darin. Sie kamen auf viele verschiedene Beschreibungen, aber so einfach wie Johannes hat es niemand gesagt. Wie kommt jemand auf solche Gedanken?

Johannes war kein Grieche. Er wuchs unter Juden auf. Die hatten viel zu erzählen von den großen Dingen, die Gott getan hatte. Aber das war alles lange her. Ihr Gott liebte sein kleines Volk und strafte seine großen Feinde. Er war eifersüchtig und manchmal auch ein bisschen rabiat, würden manche heute vielleicht sagen. Am Ende hatte er die Geduld mit dem bockigen Israel verloren. Es war still um ihn geworden seither. Manche warteten noch auf seine Rückkehr, andere wollten sich lieber selbst helfen.

Dann begegnete Johannes einem Mann, für den Gott weder unberechenbar noch fern war, sondern sehr nahe und vertraut. Meistens war er bei den Armen und Kranken zu finden oder bei den Sündern – den schlechten Juden, die sich nicht richtig an die vielen Gebote hielten. Die Gerechten fanden das empörend und einen Verrat an der Sache Gottes, daher machten sie einen großen Bogen um sie. Denn nicht nur Krankheit war ansteckend, sondern auch Unreinheit und Sünde. So hatte Johannes es gelernt.

Der Mann hieß Jesus. Vom Gesetz, sagte er, muss man eigentlich nur so viel wissen und befolgen: Wir sollen Gott von ganzem Herzen lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Wer das tut, der kann nichts falsch machen. Er muss es nur tun. Denn Liebe ist die Kraft, die die Welt verändert.

Wie sich dann immer deutlicher herausstellte, konnte „Nächster“ dabei auch Feind bedeuten. Gewalt und Vergeltung lehnte Jesus strikt ab und machte sich damit nicht nur Freunde. Er hatte zudem jenen Juden, die sich für Gerechte hielten, immer wieder gezeigt, dass sie kein in ihrem Stolz genauso vom Weg abgekommen und in die Irre gegangen waren wie die anderen. Über seine Kritik und seine Vorliebe für die Sünder waren sie so erbost, dass sie Jesus als falschen Propheten anklagten. Die Römer machten dann kurzen Prozess. Daran erinnert uns das Zeichen des Kreuzes.

Dass Jesus die Sache mit der Liebe ernst meinte, konnte man in den letzten Minuten seines Lebens sehen, als er noch am Kreuz Gott, den er immer „Vater“ nannte, um Vergebung bat für die Menschen, die ihn verlassen hatten, die ihn verspotteten und töteten. Als er so starb, begriff sogar der hartgesottene Hauptmann des Exekutionskommandos, dass ihm hier gerade Gott selbst begegnet war.

Die Liebesgeschichte hat noch ein weiteres Kapitel. „Liebe ist stark wie der Tod“, hatte König Salomo einmal gedichtet. Tatsächlich ist sie viel stärker, aber das wusste noch niemand. Die Liebe zwischen Jesus und seinem himmlischen Vater war nicht totzukriegen. Zwei Tage später tauchte Jesus wieder auf. Ganz derselbe und gleichzeitig ganz anders. Es dauerte eine Weile, bis seine Jünger, darunter auch Johannes, verstanden hatten: Gott hatte Jesus so verwandelt wie er am Ende der Zeit die ganze kaputte Welt und uns – mal mehr und mal weniger kaputte – Menschen verwandeln will. Wie eine Raupe, aus der ein Schmetterling geworden ist: schöner und mit ganz neuen Möglichkeiten.

Und Jesus brachte noch etwas ins Spiel: Den Heiligen Geist, der allen Menschen geschenkt wird, die zu Jesus gehören. Er lässt den Funken der Liebe Gottes überspringen in menschliche Herzen und er hält das Feuer dort am Brennen, so lange wir noch unterwegs sind zu dieser neuen Welt, in der aller Hass gestorben, alle Krankheit geheilt und jede Träne getrocknet ist. Gott hat ein menschliches Gesicht – Jesus. Auf diesem Gesicht können wir wie nirgendwo sonst in der Welt ablesen, dass Gott Liebe ist.

Weil die Liebe stärker ist als der Tod, diese scheinbar unüberwindliche Naturgewalt, deswegen ist sie jetzt schon die Kraft, aus der wir leben und nach der wir uns richten können, wenn wir – und hier kommt die Taufe ins Spiel – „in Christus“ sind. Mag sein, dass uns das einiges kostet: Macht, Anerkennung, manche Vorteile. Ein bisschen Mut ist schon gefragt. Aber wir müssen auch nicht befürchten, immer nur die Dummen zu sein. Was wir aus Liebe tun, wird auch dann noch bestehen, wenn das Chaos und die Dunkelheit endgültig überwunden sind. Jedes Wort, jede Geste, jeder Umweg, alles Teilen und Vergeben ist nicht vergeblich.

Wir lernen das „Bleiben in Gott“ und das „in der Liebe bleiben“ im Laufe unseres Lebens. Wir lernen es nicht allein, sondern von anderen und mit ihnen zusammen. Ab und zu scheitern wir und fangen dann wieder neu an. Denn Gottes Verlangen, in uns zu bleiben, ist zum Glück noch größer als unser Verlangen, in ihm zu bleiben.

Dass Gott die Liebe ist, ist nicht einfach nur eine Idee oder eine abstrakte Theorie. Es ist eine wahre Geschichte mit echten Menschen in einer Welt, die alles andere als ideal ist. Und genau deshalb können wir uns darauf verlassen.

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Die große Geschmacks-Ver(w)irrung

„Esst, was man Euch vorsetzt“, trägt Jesus seinen Nachfolgern in Lukas 10 auf. Wenn sie das nur mal beherzigt hätten! Vielleicht sähe die Welt heute völlig anders aus. Aber da hat das Essen ein seltsames Aroma, die Leute und ihr Haus einen ungewohnten (Stall-)Geruch, sie sprechen den „falschen“ Dialekt, haben die falsche Frisur und Kleidung, hören die falsche Musik, reden zu derb oder zu intellektuell, zu schnell oder zu stockend, haben zu viele Kinder oder zu wenige, lachen über die falschen Witze und über die richtigen nicht, sind nicht nüchtern oder nicht warmherzig genug – und schon denkt der Freudenbote nach, ob er lieber das Quartier wechselt.

Eben deshalb ist das Evangelium oft an Geschmacksfragen gescheitert. Ein guter Teil kirchlich-gemeindlicher Streitereien hat mit Fragen des Geschmacks zu tun: Stifragen in Musik, Architektur und Mode sind ebenso wie politische Präferenzen (neben den bekannten liturgischen wie Händeheben und -falten, Kreuzschlagen, lateinisch oder englisch singen etc.) zu schier unüberwindlichen Blockaden geworden. Dabei könnten Gegensätze sich doch auch hier mal anziehen…?

Jesus wusste nur zu genau, was die große Gefahr war: Unser Geschmack kann wie der Geruchssinn reflexartig tiefe Bauchgefühle auslösen. Man findet etwas ganz unwillkürlich appetitlich oder eklig, und erst im zweiten Schritt wird dann der Verstand zugeschaltet, dessen Aufgabe es nun ist, dem Gegenüber die Schuld am eigenen Widerwillen zu geben und die Bauchentscheidung zum Rückzug und zur Distanzierung zu rationalisieren, indem man ein Haar in der vorgesetzten Suppe entdeckt (statt die eigenen Gewohnheiten und Vorlieben kritisch zu betrachten). Ich meine, wo kämen wir denn hin, wenn einfach jeder…?

Nx Besonderes, werden jetzt viele sagen. In der Partnerwahl und beim Autokauf spielen spontane und reflexartige Sympathie und Antipathie ja auch die Schlüsselrolle bei weitreichenden und kostspieligen Entschlüssen. Da ist der Deutsche halt einfach spießig und in all seiner vermeintlichen „Vernunft“ (die er den Südeuropäern abspricht) dennoch selber komplett und zutiefst irrational. Neulich stand in der Zeit ein Interview zum Thema Autodesign, und der Experte sagte:

Eine Schweizer Studie hat mal untersucht, wie schnell Männer Frauengesichter beurteilen. Die Probanden bekamen Fotos gezeigt und mussten zwei Knöpfe drücken: »gefällt mir/gefällt mir nicht«. Sie brauchten nicht mal eine Sekunde. Ich behaupte: Bei Autos ist es dasselbe. Der Mann trifft seine Entscheidung emotional – leugnet das aber, weil er ja Deutscher ist! Wenn er sich insgeheim längst in einen Wagen verguckt hat, kauft er sich zig Fachzeitschriften, liest Tests, studiert Tabellen. Er sucht so lange den richtigen Autotest, bis es total rational erscheint, sich seinen Traumwagen zu kaufen.

Das Auto als Herzensangelegenheit – geschenkt!. Wenn es aber darum geht, niemanden aus der Einladung Gottes auszuschließen, dann können wir uns diese Spießer-Mentalität (die nicht nur kleinbürgerlich sein kann, sondern auch in tausend anderen Geschmacksrichtungen existiert) schlicht nicht leisten, ohne unseren Auftrag und damit auch den Auftraggeber zu verraten, dem solche Reflexe völlig fern lagen und der genau deswegen auch die Autorität hatte, Leuten wie den Pharisäern und den Reichen mal kräftig die Meinung zu sagen, ohne alle Brücken zu ihnen deshalb abzubrechen. Gott also – wie verkappt und heimlich auch immer – dafür zu danken (und uns selbst dazu zu gratulieren), dass „ich nicht so bin wie der da“ (Lukas 18,11) macht mich auch dann zum „Pharisäer“, wenn ich mich selber als „Zöllner“ einsortiert hätte.

Meine unwillkürlichen Reflexe werden sich, wenn überhaupt, nur langsam ändern. Ich spüre sie jeden Tag. Was ich tun kann, ist, sie nicht mehr hinter einem Wall von Pseudo-Argumenten zu verstecken, sondern sie als das zu sehen, was sie sind: irrational und potenziell schädlich. Christliche Freiheit bedeutet dann: Ich muss ihnen nicht nachgeben.

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Weisheit der Woche: Dankbarkeit

Brian McLaren hat mit Naked Spirituality ein wunderbares Buch geschrieben. Gleichermaßen tiefgründig, zugänglich und motivierend stellt er dort zwölf Grundbewegungen des geistlichen Lebens vor. Im Unterschied zu manch anderem Werk dieses Genres kommt er auch ohne gesetzliche Forderungen, moralisierende Schuldgefühle und abtönende Gewissensbisse aus.

Wir haben mit einer Predigtreihe zu den zwölf Worten begonnen, nächsten Sonntag folgt der zweite Teil, und da geht es um Dankbarkeit. Nicht unbedingt neu, aber immer aktuell ist dabei dieser Anstoß für uns Bürger der Wohlstandsgesellschaft, zumal wenn Krisengewölk am Wirtschaftshorizont erscheint:

Je mehr wir haben, desto mehr müssen wir uns in Dankbarkeit üben; sonst halten wir immer mehr von dem, was wir haben für selbstverständlich. Wenn wir aus Gewohnheit immer mehr für selbstverständlich halten, macht uns unser Undank schließlich … unglücklich. Und natürlich müssen wir Dankbarkeit auch üben, wenn wir wenig haben, so dass das wenige, das wir sehr schätzen, zu mehr Glück führt als Vieles, was wir wenig schätzen.

Man kann das als einen Kommentar zu Philipper 4,13 lesen, dem die sachte Erinnerung daran folgt, dass wir um diese Haltung der Dankbarkeit kämpfen müssen:

A lot of people spend a lot of money to keep you from being grateful.

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Berge, Ozeane und ein paar dringende Fragen

Vor einer Weile war ich auf einem Kongress in der Schweiz. Unter anderem spielte dort eine Band aktuelle Lobpreislieder. Gleich mehrfach sangen wir einen Song (auf Englisch), der sich mit dem gewaltigen Ozean, dem Wind und den Wellen befasste. Die meisten Menschen sprechen auf diese Sprachbilder im Stil von Fotos aus National Geographic ja ganz gut an.

Was mich trotzdem wunderte, war die Präferenz für das Ozeanische mitten im alpinen Binnenland. Ich würde im Zweifelsfall lieber von Berge singen als vom Meer. Oder idealerweise gleich über die Berge und die See? Das Lied, mit dem die Aufmerksamkeit der Gruppe auf Gott gelenkt werden sollte, zeichnet ein exotisches Bild. Und zwar im präzisen Wortsinn – „exo-“ steht für „draußen“.

„Geistliche“ Ästhetik in ihrer Orientierung am Fremden und Exotischen greift natürlich auf parallele Phänomene der Gegenwartskultur (die Fototapete mit Tropenmotiv oder den Bildschirmhintergrund) zurück. Darin aber schlummert ein eskapistisches Moment: Wir lokalisieren Gott so nämlich in der Ferne. Das mag nun positiv verstanden ein Symbol für Sehnsucht und Weite sein. Gleichzeitig suggeriert die Symbolik aber, dass Gott nicht im Nahen und Gewöhnlichen, sondern im Fremden und Besonderen, Exotischen anzutreffen ist.

Und das lesen wir dann wieder hinein in biblische Texte. Dabei begegnen die großen Gestalten des Glaubens Gott nicht an exotischen Plätzen (der Sinai mag das für heutige Touristen sein Mose war in Exodus 3,1ff dort bei der Arbeit!). Paul Gerhard hatte in „Geh aus mein Herz“ ähnlich wie die Psalmisten auf einheimische Motive gesetzt. Klar, kann man jetzt einwenden, die Leute kannten auch nichts anderes. Mag sein. Zugleich lieferten die Psalmen und Gerhards Choräle denen, die sie singen, aber auch eine Sprache und Symbolik, mit der man das Alltägliche aus dem Glauben heraus erschließt.

Ich erinnere mich, dass wir einmal einen Gottesdienst hatten, wo wir im Hintergrund des Präsentationsprogramms für die Liedertexte Motive aus Erlangen einblendeten: Gebäude, Straßenzüge, Menschen. Hinterher gab es gleich mehrere Beschwerden, das würde ablenken und die erwünschte Andacht stören. Was hat ein Siemens-Bürohaus schon mit Gott zu tun?

Anders gesagt: Wer es ernst meint mit Glaube am Montag, der sollte sich nach Liedern, Symbolen und Metaphern umsehen, die Gott nicht nur im „jetzt“, sondern eben auch ganz ausdrücklich im „hier“ lokalisieren. Man kann sich zum Thema „Inkarnation“ buchstäblich totpredigen, wenn das aber durch das Liedgut und die Dekoration so nachhaltig konterkariert wird, wird nichts davon hängenbleiben.

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wahrhaft nahrhaft

In den letzten Tagen haben mich die Gemeinsamkeiten von Glauben und Essen beschäftigt. Neben den zahlreichen biblischen Verknüpfungen (wie z.B. Jesu Selbstbezeichnung als „das Brot des Lebens“, der Mahlgemeinschaft oder dem Manna-Wunder) gibt es da auch in unserer eigenen Erfahrung ein paar nette Parallelen:

  • Es ist in beiden Fällen ein grundlegendes, essen:zielles menschliches Bedürfnis,
  • man sollte jedoch nicht alles schlucken, was einem vorgesetzt wird;
  • mit den richtigen Zutaten kann es ein Genuss sein;
  • Hausmannskost und Haute Cuisine – beides ist möglich und hat seinen Platz;
  • es macht mehr Spaß in Gesellschaft und
  • man tut gut daran, sich bewusst Zeit dafür zu nehmen.
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Gewinnen und verlieren

Bei Richard Rohr bin ich noch auf einen interessanten Gedanken gestoßen, der das Thema Helden/Antihelden von letzter Woche etwas weiter führt:

In der ersten Lebenshälfte bekämpfen wir den Teufel und haben die Illusion oder den schmeichelhaften Eindruck, dass wir ab und zu „gewinnen“; in der zweiten Lebenshälfte verlieren wir immer, weil wir unweigerlich mit Gott kämpfen. Die ersten Schlachten festigen das Ego und schaffen einen standhaften Soldaten; die zweiten Schlachten bringen dem Ego Niederlagen bei, weil Gott immer gewinnt. Kein Wunder, dass viele den standhaften Soldaten so schwer loslassen können; kein Wunder, dass so wenige den Glauben haben, um erwachsen zu werden. Das Ego hasst es, zu verlieren, selbst gegen Gott.

Hier erscheint die Fähigkeit, mit Niederlagen umzugehen und sich Siege nicht zu Kopf steigen zu lassen, als ein entscheidendes Merkmal für den Übergang zur spirituellen Reife. Die Projektion eines plumpen Heldenideals auf Jesus führt dagegen zu solchem Quatsch, wie ihn die Süddeutsche gerade aufgespießt hat. Da sagt der Künstler Stephen Sawyer zum Beispiel:

Männer brauchen Helden. Einen, der das verkörpert, was sie gern wären. Der Jesus, der vor über 2000 Jahren auf die Erde kam, war für mich ein echter Held. Er war klüger, stärker und sah meiner Meinung nach auch besser aus als ich.

Wenn man das liest und sieht, dann bekommt man wieder ein Gespür dafür, warum es im Judentum und im Islam ein Bilderverbot gibt. Eigentlich auch im Calvinismus, aber Neocalvinisten wie Mark Driscoll gehören auch zu denen, die (dann eben verbal) die krassesten Macho-Projektionen abliefern. Vom Calvi- zum Chauvinismus ist es offenbar nur ein kleiner Schritt, jedenfalls verrät Sawyer im Interview, dass Nationalstolz und Religion für ihn eng verwandt sind: Mein Gott ist der coolste und stärkste. Das entspricht in etwa dem Reflexionsniveau eines Achtjährigen.

Ob man überhaupt sagen kann, die Christenheit sei verweiblicht, ist eine interessante Frage. Ich habe vor einer Weile ein paar Gedanken dazu hier gepostet.

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Weisheit der Woche: gefährliche Unschuld

Die erste Naivität ist die ernsthafte und gefährliche Unschuld, die wir manchmal an jungen Eiferern bewundern, aber sie ist auch der Grund, warum wir ihnen nicht folgen, wenn wir schlau sind, und warum wir sie nicht zu Leitern wählen und ihrer Leitung folgen sollten. Wahrscheinlich ist es nötig, viele Zweifel auszublenden, wenn wir jung sind: das ist eine gute Überlebenstechnik. Aber solche Weltbilder sind nicht wahr, und sie sind auch keine Weisheit.

Richard Rohr, in: Falling Upward

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