„Wenn nur was käme und mich mitnähme…“

In manchen Kreisen, so mein Eindruck, gibt es zwar eifrige Lippenbekenntnisse zur Demokratie, aber insgeheim träumen nicht wenige immer noch von einer Monarchie; freilich mit einem idealen Regenten. Manche finden, auch die Kirche sollte besser möglichst undemokratisch funktionieren. Autoritäre Weltbilder stehen erstaunlich hoch im Kurs – ein schmaler Grat.

Natürlich wäre das Leben einfacher, wenn wir uns um den Staat und die Ordnung keine Gedanken machen müssten, sondern das in kompetente Hände legen könnten und dabei wüssten, dass dieser Monarch alles richtig macht, wenn er „durchregiert“. Flüchtlinge, Terror, Klimawandel, TTIP, Jugendarbeitslosigkeit und Ebola würden uns keine schlaflosen Nächte mehr bereiten. Das ist im Grunde ein romantischer und nostalgischer, vor allem aber ein verzweifelter und letztlich verantwortungsloser Traum. Und die neuen Feudalherren sind nur zu gern bereit, diesen Wunsch zu erfüllen.

Neulich habe ich (wieder einmal, nach längerer Pause) ein eng verwandtes Statement gehört. Unter Bezug auf ein paar Bibelstellen ging es dort um das Verhältnis der Geschlechter und jemand machte sich stark für eine Rückorientierung am Patriarchat. Freilich wurde er nicht müde, die Last der Verantwortung und den Ernst der Aufgabe des Patriarchen herauszustellen, er schien aber durchaus der Überzeugung zu sein, dass die meisten Frauen sich nichts sehnlicher wünschen als einen solchen Gentleman als Retter, Vormund oder Schirmherr.

Wie schon Friedrich Rückert dichtete: „Wenn nur was käme und mich mitnähme!“

Mag sein, dass es solche Träume gibt. Die Motive dürften in diesen Fällen ähnlich gemischt sein wie bei den Royalisten. Vielleicht liegt die Sache aber in Wahrheit ganz anders, als es dem freundlichen Patriarchen schien. Das Zeitmagazin interviewte vor einer Weile den Paartherapeuten Ulrich Clement. Der vermutet, dass weibliche Unterwerfungsphantasien, die vor allem der feministischen Forschung Rätsel aufgaben, in Wirklichkeit verkappte Allmachtsphantasien sind. Kaum eine Frau will also wirklich zurück ins 19. Jahrhundert.

(Frage: Was passiert mit uns Männern, und was mit geistlichen Leiter_innen, wenn wir uns diesen Schuh anziehen und diesen Messiaskomplex aufhalsen?)

Aber Beziehungen auf Augenhöhe sind schwieriger als solche mit Gefälle, und Demokratien sind anspruchsvoller als autoritäre Formen von Regierung. Zum Glück haben Christen ja schon immer den schmalen, herausfordernden und risikoreichen Weg gewählt, nicht den breiten, anspruchslosen…

Share

Gott lässt sich nicht spotten

Am Freitag hat die Heute-Show Teilnehmer am „Marsch für das Leben“ in Berlin ein bisschen auf die Schippe genommen. Ich fand die Interviews von Lutz van der Horst wie immer schlagfertig und witzig, aber eben nicht fies. In der Diskussion im Internet meldeten sich dennoch, wie so oft, empörte Stimmen zu Wort.

Die Standardphrase in solchen Diskussionen lautet: „Gott lässt sich nicht spotten“. Mit dem Bibelzitat verbinden sich meistens Erwartungen, dass Blasphemie wieder sanktioniert werden muss und untrügliche Symptome dafür, dass die Vertreter dieses Standpunktes zwar für sich selbst gern uneingeschränkte Religionsfreiheit in Anspruch nehmen, im Namen derselben jedoch Meinungs- und Pressefreiheit liebend gern einschränken würden. Pluralismus ist für sie ausschließlich negativ konnotiert. Da dürfen Meinungen geäußert werden, die nicht in das eigene dogmatische Raster passen.

Nimmt man die Bibel dagegen wirklich ernst, dann lässt Gott sich sehr wohl verspotten. Nachzulesen in der Passionsgeschichte. Und dann vergibt er denen auch noch, die ihn verspottet haben, lange bevor die überhaupt auf die Idee kommen, um Vergebung nachzusuchen.

Erstaunlich ist, dass Gott nicht nur bei Spott und Frotzeleien ein Auge zudrückt, sondern anscheinend auch bei Humorlosigkeit. Was dies betrifft, teile ich persönlich seinen Standpunkt allerdings noch nicht mit letzter Überzeugung.

Share

Das komplexe Spiel mit den Grenzen

Kürzlich habe ich diesen Vortrag von Antje Schrupp über Meinungsfreiheit und political correctness gelesen. Er stammt vom Jahreskongress des Verbandes der Redenschreiber in deutscher Sprache. Sie analysiert darin vieles in unseren öffentlichen Debatten sehr treffend. Wenn etwa (das Thema hat mich ja auch schon beschäftigt) Sarrazin, Broder oder Hahne (der sich neuerdings um die Zukunft des Zigeunerschnitzels sorgt) und andere die Meinungsfreiheit bedroht sehen, weil andere ihnen nun ebenso öffentlich widersprechen, wie sie selbst sich seit Jahr und Tag äußern, dann hält sie dagegen:

… das Recht auf Meinungsfreiheit umfasst eben nicht das Recht, die eigene Meinung jederzeit und überall ohne jegliche Konsequenz sagen zu dürfen. Das ist es in Wahrheit, was viele Kritiker und Kritikerinnen einer angeblich grassierenden Political Correctness einklagen. Meinungsfreiheit umfasst nicht das Recht, dass alle einem zuhören müssen, sie umfasst nicht das Recht, dass alle einen ernst nehmen müssen, und sie umfasst nicht das Recht, von niemandem kritisiert zu werden.

Zweitens fasst dieser Absatz wunderbar zusammen, wie man als Blogger ständig über die Grenzen zwischen dem Diskutablen und dem Indiskutablen entscheiden muss. Darin konnte ich mich sehr gut wiederfinden (gewiss zum Ärger des einen oder anderen, der diesen Blog gern für als Plattform seine – in meinen Augen jedoch indiskutablen – Themen und Positionen benutzt hätte):

Bloggen ist im Übrigen eine ganz hervorragende Übung darin, ein Gespür dafür zu bekommen, wie diese Grenze immer wieder hergestellt wird. Denn mit jedem Kommentar, den ich als „indiskutabel“ weglösche, markiere ich ja diese Grenze. Und mit jedem Kommentar, bei dem ich überlege, weil er eben „grenzwertig“ ist, wird mir bewusst, wie schwierig das ist. Je nachdem, was ich an Beiträgen freischalte und was nicht, ziehe ich nämlich automatisch bestimmte Leserinnen und Leser an und schrecke andere ab. Wenn ich antifeministische Kommentare lösche, dann nicht deshalb, weil ich Zensur ausübe und die Meinungsfreiheit einschränke, wir mir dann manchmal entgegengehalten wird, sondern um eine bestimmte Gesellschaft zu umreißen. Denn würde ich diese Grenze nicht ziehen, würde ich andere Leserinnen und Kommentatorinnen verlieren, nämlich die, die auf „so eine Gesellschaft“ keinen Wert legen. Deren Beiträge sind mir aber wichtiger. Im Übrigen wird ja auch niemand daran gehindert, seinen von mir gelöschten Kommentator gleich nebenan in seinem eigenen Blog doch noch zu veröffentlichen.

Es lohnt sich, den Text ganz zu lesen, schon um der vielen gut gewählten Beispiele willen. Schließlich finde ich auch ihr Fazit sehr hilfreich:

Ich versuche, bei dem, was ich sage, diese Grenze argumentativ so weit zu dehnen, wie es in dieser konkreten Situation und mit den konkreten Menschen, mit denen ich es jeweils zu tun habe, möglich ist, ohne dass die Beziehung abbricht. Weil sonst nämlich keine Debatte mehr möglich ist.

Die meisten Menschen sind durchaus interessiert daran, nicht immer nur die ewig gleichen Wahrheiten serviert zu bekommen. Sie möchten auch in ihren Ansichten herausgefordert werden, sind interessiert an Aspekten und Argumenten, die sie bis dahin noch nicht kannten.

 

Share

Marktkonformes Christentum?

Kürzlich sprach ich mit einem befreundeten Juristen über die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Kirche und Staat/Gesellschaft. Er erinnerte an den Versuch der Gleichschaltung der Kirchen im Dritten Reich, mit dem der Staat die Kirchen instrumentalisierte. Heute ist dieser Kult um die Nation keine akute Gefahr in Deutschland, darin waren wir uns einig.

Beim Weiterdenken (ich erinnerte mich an diese Worte von Jürgen Moltmann) fiel mir auf: In Zeiten der „marktkonformen Demokratie„, die nicht mehr durch äußeren Zwang herrscht, sondern einen inneren Anpassungsdruck erzeugt (um bloß nicht den Anschluss zu verlieren im gnadenlosen und unablässigen globalen Wettbewerb), liegt die größte Versuchung für dir Kirchen darin, vorauseilend die eigene Nützlichkeit und den „Mehrwert“ des Glaubens zu beteuern: Als leistungssteigernde Wellnessoase, als erfolgsrelevante Bildungseinrichtung, als eine Art legales Glücksdoping und metaphysicher Stimmungsaufheller im Zeitalter der allgemeinen Selbstausbeutung.

Ich habe das vor kurzem auf einer christlichen Website im Grunde genau so formuliert gefunden. Glaube fungiert dann als Lösung und Therapie für das Leben im neoliberalen System, als Schmierstoff fürs Räderwerk, aber eben nicht mehr als Störung, als Irritation, als subversiver Akt der Auflehnung gegen die anonymen und angeblich objektiv alternativlosen Zwänge.

Und all das ganz freiwillig – das ist das Verrückte. Aber irgendwie war die Fusion von Glaubenseifer und nationalem Pathos ja vor hundert Jahren auch freiwillig, wie selbstverständlich, ja sogar fröhlich bis euphorisch. Die oben erwähnte Website hat ihren Text inzwischen ausgebessert. Vielleicht ist das ja ein Hoffnungszeichen?

Share

Freiheit lässt sich nicht totalitär schützen

Der Viertelfinaljubel wurde gestern durch die Nachricht unterbrochen, dass die NSA allem Anschein nach den NSA-Untersuchungsausschuss ausspioniert hat, durch einen Doppelagenten des (ohnehin immer sehr kooperativen) BND. Vielleicht sollte man im Verhältnis zu den USA auf den Begriff „Freundschaft“ verzichten – oder ihn eben so verstehen, wie das Wort „Parteifreund“ in der CSU.

Während hier noch Aufklärung gefordert und – wie halbherzig oder konsequent auch immer – betrieben wird, lohnt sich ein Blick auf das, was diese Woche zum Thema Überwachung schon gesagt wurde. In eben jenem Ausschuss kamen am Donnerstag zwei ehemalige Angestellte der NSA zu Wort. William Binney, ehemals technischer Direktor bei der NSA, sprach wiederholt von einem totalitären Ansatz der NSA, der Rechtsstaat und Demokratie untergräbt.

Wohin die Massenüberwachung führt, zeigt der Beitrag von Prima Basil in der FAZ. In Großbritannien ist die Überwachung weiter fortgeschritten und stößt auf weniger Widerspruch als irgendwo sonst in Westeuropa. Ihr Fazit fällt vernichtend aus:

Der Preis für den britischen Überwachungswahn ist beispiellos: die psychische, emotionale und intellektuelle Verarmung der eigenen Gesellschaft.

Das ganze wirft auch noch ein düsteres Licht auf die Beziehungen zwischen EU und Großbritannien:

Wenn es nach der Regierung Cameron ginge, sollten der Human Rights Act und die Europäische Menschenrechtskonvention im Fach Staatsbürgerkunde künftig nicht mehr erwähnt werden. Auch den Begriff Menschenrechte würde man am liebsten durch das Wort „kostbare Freiheiten“ ersetzen – so, als würde man durch eine andere Benennung den Anspruch der Bürger auf ihre demokratischen Rechte schmälern können. Zum Glück ist es den Tories nicht gelungen, diese „Reform“ durchzuboxen, aber sie haben freundlicherweise „zugesagt“, den Human Rights Act abzuschaffen, wenn sie bei der nächsten Wahl gewinnen. Dann stünden die Bürger wieder schutzlos da, weil die Europäische Menschenrechtskonvention im Vereinigten Königreich nicht mehr direkt einklagbar wäre.

Während sich Briten und Amerikaner am D-Day als Hüter der Menschenrechte und Verteidiger der Freiheit feiern ließen, waren sie schon längst dabei, dieses Erbe gründlich zu verspielen. Wenn erst einmal ein mächtiges System der Kontrolle und Überwachung geschaffen wurde, wird es alles dafür tun, diese Macht zu behaupten. Der Doppelagent war bestimmt nicht die letzte hässliche Episode.

Share

Apropos Beißattacken

Die Szene sieht man im Profifußball öfter: Beim Foul geht Sekundenbruchteile nach dem Opfer auch der Täter mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und hofft, dass die Unparteiischen so nicht mehr unterscheiden können, wer hier wem in die Knochen getreten hat. Aktuell zu besichtigen in den Videos von Luis Suarez’ Beißattacke. Kein neuer Trick, aber wirkungsvoll – sofern es keine Kameras mit Superzeitlupe gibt.

In der öffentlichen Debatte passiert gelegentlich etwas ganz Ähnliches. Da geht jemand mit einem dramatischen Aufschrei zu Boden, der verdeckt, dass eben diese Person gerade ein Foul begeht. Meistens wird dabei die bedrohte Meinungsfreiheit ins Feld geführt, im Rahmen derer manche meinen, diskriminierende Äußerungen über andere in die Welt setzen zu können. Gelegentlich auch die Religionsfreiheit, so als lasse einem der eigene Glaube gar keine andere Wahl, als andere in irgendeiner Form als defizitär oder gefährlich zu denunzieren und zu kategorisieren.

Zwei Musterbeispiele für diese Verkleidung des Wolfes im Schafspelz aus letzter Zeit sind die Klage von Henryk Broder, inzwischen würden weiße alte Männer diskriminiert, und die Reaktion des (inzwischen ehemaligen) CDU-Lokalpolitikers Sven Heibel, der sich den Paragraphen 175 StGB zurück wünscht (beziehungsweise dessen Streichung einfach ignoriert), und dafür empörte Kritik erntete. Sogar aus der eigenen Partei, aber ich nehme an, der Mann wird schon irgendeine Alternative finden.

Nun werden weder Broder noch Heibel demnächst Klage einreichen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ersterer ist nicht etwa das Opfer skrupelloser Nachwuchspolitikerinnen, sondern seines Seelenverwandten Thilo Sarrazin, der ihm das einträgliche Geschäftsmodell geklaut hat und noch effektiver gegen andere stänkert. Über Political Correctness wird dann geschimpft, über Ideologie und Denkverbote, der Geruch von Verschwörungen herbeigeredet. Andere Opfer vermeintlichen Gesinnungs- und Tugendterrors stimmen bereitwillig ein in den Chor, fertig ist der Protest. Homophobie etwa versteckt sich dann hinter der (freilich absurden) Behauptung, inzwischen „müsse man sich ja schon dafür entschuldigen, dass man heterosexuell sei“.

Eine gute Orientierung darüber, wie die verschiedenen Menschenrechte (in diesem Fall: Religionsfreiheit und LSBTI-Rechte) miteinander verwoben sind, findet sich in diesem Vortrag von Prof. Heiner Bielefeldt, in dem er für eine Deeskalationsstrategie wirbt, etwa im Fall der britischen Standesbeamtin Lillian Ladele – aber auch klar macht, wo Grenzen gezogen werden müssen. Es ist tatsächlich beides nötig: Konfrontation und weise Zurückhaltung.

Share

Früher war alles besser…

Mit der Industrialisierung, schreibt Richard Sennett in Autorität, wurde die alte Sozialordnung zerstört zugunsten einer neuen. Aber das Alte lebte als Ideal weiter, das zunehmend verklärt wurde, und es war damit nicht weniger wirksam:

Überall sammelte man im 19. Jahrhundert die Bruchstücke des alten Lebens, das der Kapitalismus zerstörte, und hortete sie – Dinge, die höchst verletzlich und darum um so wertvoller waren, zu zart und empfindlich, um den Ansturm des materiellen Fortschritts zu überstehen. So wie man das Dorf als Muster der Lebensgemeinschaft idealisierte, so idealisierte man auch die stabile Familie, in der die Angehörigen der jüngeren Generationen ihre Plätze in der von Sitte und Brauch vorgeschriebenen Reihenfolge einnahmen, und sah in ihr einen Hort der Tugend. Dass diese Familie, sofern es sie gegeben hatte, für ihre jüngeren Mitglieder oft von einer erstickenden Enge gewesen war, wie es Rousseau und Goethe – jeder auf seine Weise – im Jahrhundert davor dargestellt haben, wollte man nicht wahrhaben.

Ganz ähnlich funktioniert das heute immer noch – nun ist es die Verklärung des Familienbildes der 50er Jahre, der intakten Kirchenstrukturen der Nachkriegszeit oder ganz aktuell der Ära der Nationalstaaten, die im Zuge der Globalisierung ihre Bedeutung allmählich verlieren. Der AfD attestierte ein Kommentator letzte Woche denn auch die „Sehnsucht nach einem besseren Früher, das es nie gab“.

Problematisch sind solche Ideale, sagt Sennett, weil sie oft von Personen und Bewegungen aufgegriffen werden, die ganz andere Ziele verfolgen. Im 19. Jahrhundert entstand ein fürsorglicher, paternalistischer Kapitalismus, dessen Vertreter (z.B. George Pullman) nicht nur die Arbeit, sondern auch das Privatleben ihrer Beschäftigten dann nach ihren – keineswegs uneigennützigen – Vorstellungen beeinflussten.

Vielleicht lässt sich ja doch aus der Vergangenheit lernen…?

Share

Das Dilemma der Autorität

Wenn man den Erfolg populistischer Parteien im Europawahlkampf betrachtet, oder über die Macht autoritärer Politiker wie Erdogan und Putin rätselt, dann ist Richard Sennett eine gute Adresse. Sein Buch „Autorität“ erschien schon 1980, aber es scheint mir aktueller denn je, wie der folgende Ausschnitt zeigt:

Heutzutage besteht das Dilemma der Autorität, die eigentümliche Furcht, die sie uns einflößt, nämlich darin, dass wir uns zu starken Gestalten hingezogen fühlen, die wir nicht für legitim halten. Diese Anziehungskraft ist kein spezifisches Merkmal unserer Zeit. Die mittleren Kreise von Dantes Inferno sind von jenen bevölkert, die Gott liebten und doch dem Satan folgten; aber sie waren Sünder, die zu ihren Lebzeiten gegen die Regeln der Gesellschaft verstießen. Eigentümlich für unsere Zeit ist, dass die formell legitimen Mächte in den dominierenden Institutionen bei denen, die ihnen unterworfen sind, einen nachhaltigen Eindruck von Illegitimität hervorrufen. Und dennoch verwandeln sich diese Mächte in Bilder menschlicher Stärke: in Bilder von Autoritäten, die über Selbstsicherheit und ein überlegenes Urteilsvermögen verfügen, die andere einer moralischen Disziplin unterwerfen und ihnen Furcht einflößen. Diese Autoritäten ziehen andere in ihren Bann, sie wie die Flamme den widerstrebenden Nachtfalter. Eine Autorität ohne Legitimität, die gerade durch das Misstrauen und die Unzufriedenheit zwischen den Menschen zusammengehalten wird – diese merkwürdige Situation können wir nur begreifen, wenn wir verstehen, wie wir verstehen.

Share

Die Tücken des postmodernen Über-Ich

In den letzten Tagen hat mich ein Aufsatz von Slavoj Žižek beschäftigt, der eigentlich schon etwas älter ist (1999), aber viele Anregungen enthält, die auch 15 Jahre später noch aktuell sind. Ich denke, das ist ein Beweis dafür, wie scharfsinnig Zizek die Welt analysiert. Der Titel – „You May“/“Du darfst“ – spielt direkt auf kalorienreduzierte Lebensmittel deutscher Provenienz an. Im Grunde aber geht es um Freiheit, Normierung, Begehren und Zwang in unserer Gesellschaft.

„You May“ beginnt mit dem Phänomen der „Reflexivierung“ von Gebräuchen in der heutigen Risikogesellschaft. Verhalten, das früher einmal selbstverständlich war, ist heute etwas, für das man sich entscheidet und das man lernen muss, es bedarf also der Reflexion. Zizek zeigt das am Beispiel des Rassismus gegenüber seiner Heimatregion, dem „Balkan“: Es gibt den traditionellen Rassismus mit seinen Vorurteilen und Stereotypen (barbarisch, despotisch, korrupt, un“westlich“…), daneben existiert aber ein politisch korrekter, reflexiver Rassismus (die Gräueltaten zeugen von einem irrationalen und ungebildeten Stammesdenken, das den Anschluss an die – unparteiisch und verwundert zusehende – zivilisierte Welt noch nicht gefunden hat, in der Nationalstaaten ein Phänomen der Vergangenheit sind), und schließlich ist da der umgekehrte Rassismus, etwa der Serben, die sich gegenüber dem weichlichen, blutleeren Westen, den sie verachten, als authentisch, ursprünglich und leidenschaftlich inszenieren.

In der Psychoanalyse ist es inzwischen kaum noch möglich, das Unbewusste eines Menschen durch Interpretation heilsam zu erhellen, weil die Patienten ihre Leidensgeschichte schon im reflexiven Vokabular des Therapeuten schildern und damit bereits über Erklärungen verfügen. Žižek schreibt (und man hört im Geist schon die Ärzte singen):

Es ist so, als würde ein Neonazi-Skinhead, von dem man verlangt, sein Verhalten zu begründen, anfangen, wie ein Sozialarbeiter, Soziologe oder Sozialpsychologe zu reden, als zitiere er die geringe soziale Mobilität, die wachsende Unsicherheit, die Auflösung väterlicher Autorität, den Mangel an Mutterliebe in seiner Kindheit.

Ein postmoderner Neonazi, „der Schwarze verprügelt weiß genau, was er tut, aber er tut es trotzdem“. Die postpolitische, liberal-freizügige Gesellschaft kann den Missbrauch der Menschenrechte nicht verhindern:

Das Recht auf Privatsphäre ist im Endeffekt das Recht, Ehebruch zu begehen, heimlich, ohne dass man bespitzelt oder dass gegen einen ermittelt wird. Das Recht, nach Glück zu streben und Privateigentum zu besitzen, ist im Endeffekt das Recht, zu stehlen (andere auszubeuten). Presse- und Meinungsfreiheit – das Recht zu lügen. Das Recht freier Bürger auf Waffenbesitz – das Recht, zu töten. Das Recht auf Glaubensfreiheit – das Recht, falsche Götter anzubeten. …

Gut, das mit dem Bespitzeln und der Privatsphäre hat sich, wie wir alle wissen, gründlich geändert. Aber nach wie vor gilt Žižeks Beobachtung, dass der Rechtsstaat den Missbrauch der Freiheitsrechte kaum einschränken kann, ohne die Freiheit selbst einzuschränken. Das geschieht inzwischen zwar punktuell, das grundsätzliche Dilemma bleibt jedoch, das es keine absolut gültigen Regeln mehr gibt – und dass diejenigen, die wir noch haben (Menschenrechte), von manchen mutwillig pervertiert werden, während ihre wahren Anhänger keinen Gegendruck erzeugen können, ohne sie zu verraten.

Wenn die öffentliche Ordnung nicht mehr durch „Hierarchie, Repression und strikte Regelungen“ aufrechterhalten wird, kann sie auch nicht mehr durch befreiende Regelbrüche (etwa dem Lachen hinter dem Rücken des Lehrers) verletzt werden. In einer freizügigen Gesellschaft wird dafür die selbstgewählte Unterwerfung zum Tabubruch, was für Žižek auch die Erotisierung von Repression und Sklavenverhältnissen erklärt (was das für theologische Fundamentalismen bedeutet, etwa im Blick auf den sogenannten Komplementarismus und dessen Motivation, eine Hierarchie der Geschlechter zu repristinieren, oder auch autoritäres Führungsverständnis bzw. eine antiquierte, grob gerasterte Dogmatik, wäre noch zu klären: Es könnte vormodern und unreflektiert sein – man kann sich die Welt gar nicht anders denken als so –, oder postmodern und reflexiv – dann wird dieser Glaube zum Vehikel der antiliberalen Grenzüberschreitung).

An dieser Stelle bringt Žižek den Begriff des „Über-Ich“ ins Spiel. Wo Eltern ihr Kind früher dazu verdonnerten, die Großmutter zum Geburtstag zu besuchen, da sagen sie heute: „Du weißt ja, wie gern Deine Großmutter dich sehen möchte. Aber Du solltest natürlich nur hingehen, wenn Du es wirklich möchtest, sonst bleib lieber zuhause.“ Das Kind weiß natürlich, dass es im Grunde keine Wahl hat, nur kann es jetzt nicht mehr gegen den Zwang aufbegehren, der vordergründig keiner mehr ist. In Wirklichkeit lautet die Forderung aber nun: „Du musst die Großmutter besuchen, und Du musst es auch noch gern tun.“ Das Über-Ich befiehlt uns, die Dinge, die wir tun, gefälligst zu genießen. Aus Kants kategorischem Imperativ, der davon ausging, dass ich das Gute tun kann, weil es meine Pflicht ist, wird somit die Pflicht, alles zu tun, was ich kann: Die Verfügbarkeit von Viagra schlägt um in die Erwartung, so viel Sex wie nur möglich zu haben. Unter Esoterikern wird Selbstverwirklichung und das Lebensglück eben deshalb zur Pflicht, der man mit Freuden nachzukommen hat, weil sie machbar ist. In der totalitären Demokratie muss man dem Führer nicht nur gehorchen, mann muss ihn lieben. Es ist nicht genug, seine Arbeit ordentlich zu machen, es muss jetzt auch noch mit totaler Leidenschaft und Begeisterung geschehen. Damit bilden sich neue „Fundamentalismen“, während die alten, autoritären auch noch irgendwie lustvoll und reflexiv gebrochen fortbestehen. Und jetzt kommt der Slogan fettfreier Produkte ins Spiel, denn man kann plötzlich Salami essen, ohne sein Fett abzubekommen:

Nationalistischer Fundamentalismus fungiert als ein kaum noch verschleiertes „Du Darfst“. Unsere postmoderne reflexive Gesellschaft, die so hedonistisch und freizügig scheint, ist in Wirklichkeit gesättigt mit Regeln und Vorschriften, die unserem Wohlergehen dienen sollen (Einschränkung des Rauchens und Essens, Regeln gegen sexuelle Belästigung). Eine leidenschaftliche ethnische Identifikation ist keineswegs eine weitere Einschränkung, sondern ein befreiender Zuruf „Du darfst!“: du darfst (nicht den Dekalog, aber) die starren Vorschriften friedlicher Koexistenz in einer liberalen, toleranten Demokratie verletzen; du darfst essen und trinken, was auch immer du willst, Sachen sagen, die politische Korrektheit verbietet, sogar hassen, [andere] bekämpfen, töten und vergewaltigen.

Diese Fundamentalismen verdanken also ihren Sexappeal ausgerechnet der toleranten Gesellschaft, die sie verachten und auf deren Kosten sie sich als „authentische“, „ungezähmte“ Freiheitskrieger inszenieren. Leute, die sich „den Mund nicht verbieten lassen“, „Klartext reden“ oder wie auch immer das dann heißt.

In seinem jüngsten Beitrag für die Zeit vom 16. April nimmt Žižek viele dieser Motive übrigens wieder auf und wendet sie auf den Rechtspopulismus in Europa an, sein Interesse gilt nun aber den Folgen rechter Tabubrüche. Die richtige Antwort auf derartige Umtriebe wäre aus seiner Sicht, mit Freiheit und Gleichheit in Europa noch viel konsequenter und radikaler Ernst zu machen (sich also, um auf das „du darfst“ zurückzukommen, die subtilen Zwänge des Über-Ich bewusst zu machen), statt dem rechten Druck zur Abschottung und der Rückkehr zu autoritären Ordnungsstrukturen nachzugeben, mit der man den Feinden der Freiheit (die Orbans, Le Pens und wie sie alle heißen) den Grund zur Klage nehmen möchte, in Wahrheit aber ihre Ziele und Methoden legitimiert. Denn wenn die emanzipatorischen Bemühungen aus Angst oder Trägheit eingefroren werden, erhalten die Reaktionäre die Chance, sich als die bessere Revolution auszugeben.

DSC04085.jpg

Share

Das Ende der „Veranstaltungsevangelisation“?

Gestern fragte eine Teilnehmerin an einem Gespräch über Jugendevangelisation, ob das Ende der „Veranstaltungsevangelisation“ gekommen sei. Die Frage wird hin und wieder gestellt, und ich kann das Unbehagen hinsichtlich vieler Formen von Veranstaltungsevangelisation gut verstehen.

Auf der anderen Seite ist das Evangelium seinem Selbstverständnis nach öffentliche Wahrheit. Wenn man die Unterscheidung sozialer Räume in intim, persönlich, sozial und öffentlich zugrunde legt, dann lässt sich das christliche Zeugnis nicht auf die ersten drei reduzieren. Oft steckt hinter der Frage nach dem Sinn von „Veranstaltungsevangelisation“ auch die Frage nach dem Rückzug aus dem öffentlichen Raum.

Denn der öffentliche Raum hat seine Tücken. Man kann die Wirkung einer Botschaft viel weniger abschätzen und noch schlechter kontrollieren. Die Frage nach dem „wie“ bleibt also die entscheidende Frage: Wie melden sich Christen öffentlich zu Wort? Was sind passende Gelegenheiten, Anlässe, Themen und Aussagen, wie stimmig ist das Ganze im Blick auf das Bild, das Christen und Kirchen abgeben, welche Absichten und Haltungen stecken dahinter, wie offen oder wie monologisch ist das angelegt – da gibt es viel zu klären. Um dieser Klärung willen kann man auch auf zeitweise (oder auch endgültig) auf bestimmte Formen verzichten.

Beim „wie“ kann man also vieles richtig machen und vermutlich noch mehr falsch. Nicht verzichten kann man jedoch darauf, am öffentlichen Diskurs der pluralistischen Gesellschaft engagiert und bescheiden teilzunehmen. Leslie Newbigin hat es treffend ausgedrückt:

Der Test für die Ernsthaftigkeit meiner Überzeugung wird sein, dass ich bereit bin, sie zu veröffentlichen, sie anderen mitzuteilen, ihr Urteil und wenn nötig ihre Korrektur anzunehmen. Wenn ich mir diese Übung erspare, wenn ich meinen Glauben als Privatangelegenheit behandle, ist es kein Glaube an die Wahrheit.

Share

Kleine Regenbogen-Presseschau

Der Streit um die Petition gegen den neuen Bildungsplan in Baden-Württemberg hat erfreulicherweise dazu geführt, dass neben manchen eher unbefriedigenden Äußerungen auch eine ganze Reihe kluger Dinge gedacht und geschrieben wurden. Bei allem verständlichen Überdruss, den die Polemik dem einen oder der anderen bereitet haben mag, haben sich doch auch viele um überfällige Klärungen bemüht. Mit Erfolg:

Stefan Niggemeier befasst sich in der eher konservativen FAZ mit dem Thema Toleranz und der Frage, warum diese sich nicht gegen eine „Akzeptanz“ ausspielen lässt. Er zitiert Goethe mit den treffenden Worten: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Genau so empfand ich manche Stimmen in dieser Diskussion auch: Eine Toleranz, die den anderen mitleidig an den gesellschaftlichen Katzentisch verbannt, ist nur die Fortführung der Diskriminierung mit anderen Mitteln.

Auf seinem Blog hatte Niggemeier ein paar Tage zuvor dem bei Maischberger entstandenen Eindruck widersprochen, dass in der Diskussion um Homosexualität auf beiden Seiten gleichermaßen diskriminiert werde. Es ist für ihn nicht dasselbe, ob Menschen dafür angegangen werden, was sie tun (andere diskriminieren) oder dafür, was sie sind (ihre Sexualität).

Der katholische Traditionalist Matthias Matussek, jüngst vom Spiegel zur Springer-Presse gewechselt, sieht sich nach der Maischberger-Sendung (an der er gar nicht teilgenommen hatte) als Opfer einer gesinnungsterroristischen Homophobie-Kampagne. Sein Kollege Lucas Wiegelmann von der Welt antwortet ihm in bemerkenswert umpolemischer Klarheit.

Das evangelikale Medienmagazin Pro überrascht mit einem gelungenen Interview mit Volker Beck und die taz bemüht sich um eine differenzierte Wahrnehmung evangelikaler Christen.

Florian Maier, Jugendreferent beim EJW in Württemberg, nimmt die Auseinandersetzung zum Anlass, seine Homosexualität öffentlich zu machen und wird vomn seinem Arbeitgeber dabei wohlwollend begleitet. In seinem ausführlichen „Fazit“ eine Woche später geht er einigen theologischen Fragen nach und verlinkt einen längeren und gründlichen Beitrag von Jörg Barthel von der Theologischen Hochschule der methodistischen Kirche in Reutlingen.

Und auf Zeit Online beleuchtet der Psychologe Ulrich Klocke den Begriff und das Phänomen „Homophobie“ nüchtern und differenziert.

Highland-Highlight.jpg

Share

Neuland betreten

„Immer vorwärts“ stand im Familienwappen meines Großvaters. Aber sollte man nicht irgendwann man angekommen sein? Im Blick auf die zweite Lebenshälfte beschreibt James Hollis die innere Wegstrecke, die es zurückzulegen gilt, mit den folgenden Worten:

Die Tagesordnung des Ego aus Befestigung, Bequemlichkeit, Ordnung, Kontrolle und Sicherheit gilt es nicht zu verurteilen, sondern vielmehr anzuerkennen, dass sie unser Menschsein einschränken könnte. Wir haben alle diese Phantasievorstellung, dass wir auf ein konfliktfreies Plateau oder ein sonnenbeschienenes Hochtal ohne Mühen gelangen, ohne dass uns ein vertieftes Bewusstsein abverlangt wird, ohne dass wir tiefer und weiter gezogen werden, als wir eigentlich gehen wollten. Interessanterweise gibt es diesen Ort – man nennt ihn „Tod“. Ohne dass wir uns aufmachen, ohne Risiko und Konflikt sind wir spirituell schon tot und warten nur noch darauf, dass der Körper auch noch wegfällt. Dann haben wir den eigentlichen Sinn unseres Daseins verfehlt.

Wehrgang.jpgInteressant daran ist, wie hier das psychische Muster der ersten Lebenshälfte charakterisiert wird, also die Entwicklung des „Ego“, das wirzunächst einmal für unser wahres Selbst halten, dass sich im Laufe der Zeit jedoch als Spiegel der Erwartungen unserer Umwelt erweist, denen wir uns meist unbewusst und reflexartig entweder unterwerfen oder verschließen.

Unübersehbar sind dabei die Parallelen zum Projekt der Aufklärung und der Moderne, die sich ja selbst auch als Emanzipations- und Reifeprozess begriffen hat, möglicherweise aber demselben Irrtum erliegt wie der Mensch der ersten Lebenshälfte:

Die Moderne wurde unter dem Zeichen der ‚Gewissheit‘ geboren, und unter diesem Zeichen errang sie ihre ihre spektakulärsten Siege. In ihrer anfänglich ‚festen‘ Phase wurde die Moderne als ein langer Marsch zur Ordnung durchlebt – jene Ordnung, die man als einen Bereich der Gewissheit und Kontrolle begriff, und vor allem der Gewissheit, dass die bis dahin irritierend launenhaften Ereignisse unter Kontrolle gebracht und gehalten werden könnten, mithin absehbar und empfänglich für Planungen.

Für Bauman ist dieser Plan, in einer chaotischen Welt durch Vernunft und Fortschritt dauerhaft Ordnung zu schaffen, ein illusionäres Ziel, ebenso wie Hollis das Streben des Ego nach absoluter Kontrolle für wahnhaft hält. Beiden liegt, um kurz auf Gedanken von Parker Palmer zurückzugreifen, ein objektivierendes Verständnis von Wahrheit und Welt zugrunde:

Indem der Objektivismus die Welt auf eine Ansammlung von Gegenständen reduziert, stellt er den Erkennenden in ein Feld stummer und lebloser Objekte, die passiv seinen Definitionen ihrer selbst unterliegen. In dieser Hinsicht erschafft der Objektivismus die subjektivste aller Welten, eine Welt von Dingen, die sich nicht wehren und ihre Selbstheit behaupten können.

Die Post-, Spät oder „flüchtige“ Moderne zeichnet sich durch den Verlust eben dieser Gewissheiten aus. Insofern kann man sie mit einem gewissen Recht als einen kollektiven Reifeprozess beschreiben, der nicht ohne Risiken ist. In der fest gefügten, ordentlichen und eindeutigen Welt des Modernismus (und ebenso im modern „formatierten“ Christentum) findet man leider recht wenig Unterstützung, wenn man sich mit den Fragen der zweiten Lebenshälfte beschäftigt. Richard Rohr hat das in „Reifes Leben“ einmal sehr treffend angemerkt.

Wenn sich in der zweiten Lebenshälfte das „wahre Selbst“ meldet, dann erleben das die meisten Menschen erst einmal als eine verstörende Dekonstruktion des Ego. Der Weg führt durch unbekanntes Neuland. Noch einmal Hollis:

Bleibt nun also die Frage, wie wir in einer Zeit des sterilen Materialismus, gescheiterter Institutionen und der Hausierer mit schäbiger spiritueller Ware in Esoterik-Buchläden eine tragfähige Spiritualität rekonstruieren. Jedes Bemühen um Wiederbelebung durch Rückschritt ist zum Scheitern verurteilt. Neuer Wein kommt nicht aus alten Weinflaschen. Und doch gibt es manche Pfade durch die Vergangenheit, die zu erkunden sich lohnt.

Nicht jeder lässt sich auf diese existenzielle Verunsicherung ein, und nicht jeder, der es wagt, findet weise Wegbegleiter und gute Gesprächspartner. Daher zum Schluss dieses Posts ein ganz persönlicher Dank an alle, die das für mich und andere waren und geblieben sind. Ich weiß nicht, wie meine Reise verlaufen wäre ohne Euer Beispiel, die Gespräche und den Gedankenaustausch,die klugen Fragen, Euren Zuspruch und Eure Ermutigung!

Share

Wer bin ich schon?

Der moderne Mensch hat eine ganz neue Form der Scham entwickelt, stellte der aus Breslau stammende Philosoph Günther Anders (1902-1992) im März 1942 in Kalifornien fest. Er nannte sie „prometheische Scham“ in Anspielung auf die griechische Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer klaute und es den Menschen gab, die seither feste zündeln. Der erste Technologietransfer der Weltgeschichte, wenn man so will.

Prometheus wird zum Urbild des modernen Menschen, der sich aus religiöser Bevormundung (der Furcht vor und der Abhängigkeit von den Göttern) befreit und die Elemente der Welt wie die Risiken des Lebens durch technischen und zivilisatorischen Fortschritt bändigt. Den Antrieb dazu nennt Anders prometheischen Trotz und Stolz:

Prometheischer Trotz besteht in der Weigerung, irgend etwas, sogar sich selbst, Anderen zu schulden; prometheischer Stolz darin, alles, sogar sich selbst, ausschließlich sich selbst zu verdanken.

Aber im Augenblick des Sieges verwandelt sich dieser in eine Niederlage:

Prometheus hat gewissermaßen zu triumphal gesiegt, so triumphal, daß er nun, konfrontiert mit seinem eigenen Werke, den Stolz, der ihm noch im vorigen Jahrhundert so selbstverständlich gewesen war, abzutun beginnt, um ihn durch das Gefühl eigener Minderwertigkeitund Jämmerlichkeit zu ersetzen. „Wer bin ich schon?’ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks, „wer bin ich schon?“

Angesichts einer unübersehbaren Flut von Konsumgütern sind wir ständig damit konfrontiert, was wir alles nicht haben, und angesichts immer perfekterer und leistungsfähiger Geräte steht uns permanent vor Augen, was wir alles nicht so gut können. Schöpfer und Geschöpf tauschen die Rollen, nun wird das Geschöpf (die Maschine) zum Maß ihres Schöpfers (des Menschen). Die Überlegenheit seiner Fabrikate (und die ist im digitalen Zeitalter sicher nicht geringer geworden) erlebt der Mensch als beschämend. Die Scham aber verbirgt er vor sich und anderen.

Etwas Folgenschweres passiert: „Der Mensch desertiert ins Lager seiner Geräte“. Während wir Menschen uns, was die „Hardware“ angeht, in den letzten Jahrhunderten nicht grundlegend verändert haben und unsere Leistungsfähigkeit mit dem Alter wieder abnimmt, werden unsere Geräte immer noch mächtiger.

Die Reaktion des Menschen besteht im „human engineering“, sagt Anders, also in der ständigen Selbstoptimierung. Und die Entwicklung der letzten 70 Jahre hat ihm Recht gegeben. Sah anders noch den Gebrauch von Make-up als Schritt in diese Richtung, so sind heute den Manipulationen unseres körperlichen Erscheinungsbildes kaum noch Grenzen gesetzt und Schönheitsideale haben sich ins Aberwitzige gesteigert. Täglich werden wir bombardiert mit den geschönten Bildern und Geschichten über die (Erfolg-)Reichen und Schönen dieser Welt. Der Vergleich kann nur zu unseren Ungunsten ausfallen, die Frage „wer bin ich schon“ unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nur in die Scham führen. Wir schämen uns unserer Leiblichkeit und Kreatürlichkeit, unseres Gewordenseins, weil die gemachten Dinge so viel vollkommener erscheinen, wie Anders nun mit theologischen Verweisen ausführt:

So wenig je von einer Religion die Tatsache, daß der Mensch kein Gott ist, sondern eben nur eine Kreatur, als Freibrief moralischer Indolenz anerkannt worden wäre, so wenig würde heute von der Industriereligion und von deren Anhängern die Tatsache, daß er kein Produkt ist, sondern eben — wiederum — nur eine Kreatur, als Ausrede für faules Beharren in seiner geschöpflichen Unzulänglichkeit akzeptiert werden. Den Versuch, seine Ding-Frömmigkeit zu beweisen, den Versuch einer „imitatio instrumentorum“, den Versuch einer Selbstreform muß er schon unternehmen; mindestens den Minimumversuch, sich so weit zu „bessern“, daß er die versuchte imitatio instrumentorum, die er nun einmal, auf Grund seiner „Erbsünde“: der Geburt, nolens volens treibt, auf das denkbar geringste Maß reduziere.

Heute im Gottesdienst haben wir aus Genesis 1 gelesen. Wahrscheinlich kann man das nicht oft genug tun: Während die babylonischen Götter den Menschen als Arbeitstier und „Roboter“ (das heißt ja so viel wie „Zwangsarbeiter“) schaffen, erklärt ihn der Gott Israels zu seinem Ebenbild. Als endliches und unvollkommenes Geschöpf zu leben, darin liegt die besondere Würde, die auch kein frommer Optimierungswahn vergessen darf. Auf die Frage „wer bin ich schon?“ kann in Wahrheit nur Gott antworten. Und er hat das getan, indem er einer von uns wurde und uns als Bruder Freiheit von prometheischem Stolz und Trotz anbietet.

Share

Wenn der „Normalo“ nicht mehr normal ist

Vorgestern Abend habe ich mir im Rahmen der Allianz-Gebetswoche Gedanken machen dürfen über das Thema „Vielfalt“. Beim Thema Integration haben evangelikale Christen in den letzten Jahren vielfach eine sehr konstruktive Rolle eingenommen und sich klar gegen die Diskriminierung von Migranten positioniert. Das ist auch wichtig, denn nach wie vor wird an diesem Punkt – die CSU exerziert es mit ihrer die Realität böswillig verzerrenden Kampagne zum Thema Armutsmigration gerade wieder vor – die Atmosphäre zwischen Einheimischen und Zuwanderern vorsätzlich belastet, um den rechten Rand der Wählerschaft für die Europawahl an sich zu binden.

In meinem Stadtteil hat die Ankündigung, dass hier demnächst eine zweistellige Zahl Flüchtlinge untergebracht werden soll, ganz ähnliche Reflexe ausgelöst. Ein anonymes Flugblatt beschimpfte die Kommune und die Kirchen, sie würden die Sicherheit Anwohner und den Frieden im Wohngebiet gefährden. Vorsorglich verwahrte sich der Autor gegen jeden Vorwurf, er sei rechts oder er wolle andere diskriminieren. Vielmehr sah er sich selbst als Teil einer unterdrückten Minderheit. Und dann zitierte er aus allen möglichen „Quellen“ die „Fakten“, über die man angeblich nicht reden dürfe, dass Flüchtlinge nämlich Probleme, Probleme und nichts als Probleme verursachen.

Ein interessanter Aspekt ist, dass in der Integrationsdebatte der Widerspruch gegen diese negative Selektion vermeintlicher „Fakten“ seit einiger Zeit als totalitär gelabelt wird – „ das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, heißt es dann gebetsmühlenartig. Die anderen greifen zu „Totschlagargumenten“, sie sind die eigentlichen Diskussionsverweigerer. Was hier als „Maulkorb“, Redeverbot und Einschränkung der Meinungsfreiheit hingestellt wird, ist freilich nur der berechtige und absehbare Protest gegen die negativen Stereotypisierungen anderer, die man selbst geäußert hat – also die Tatsache, dass andere Menschen auch von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen.

Die präventive Selbststilisierung in die Opferrolle dient dazu, nicht als Rassist, Rechter oder schlicht als intolerant gebrandmarkt zu werden, denn das ist im Zeitalter des Pluralismus einer der schwerwiegendsten Vorwürfe überhaupt. Folglich werden Alibi-Diskurse über Gegendiskrimierung etabliert, von angeblich grassierender „Deutschenfeindlichkeit“ ist dann die Rede, und freilich lässt sich irgendein Beispiel immer finden, wo nach Jahrzehnten der Verachtung eine oder mehrere Einwanderergruppen nun ihrerseits den Alteingesessenen das Leben schwer machen – aber wen wundert das eigentlich? Der Verweis auf die Inländerfeindlichkeit dient ja in der Regel dazu, die unversöhnliche Haltung gegenüber den bisherigen Minderheiten zu zementieren.

Der letzte Schritt der Selbstimmunisierung gegen Kritik besteht darin, die andere Seite unter Ideologieverdacht zu stellen. Nun werden also nicht nur die Migranten, sondern auch ihre Unterstützer etikettiert. Sie seien Fanatiker, die vom Wahn des „Multikulturalismus“ geblendet unsere Gesellschaft an den Rand des Abgrunds geführt hätten. Freilich führt der noch vergleichsweise junge Kampf gegen Diskriminierung nicht in jedem Fall zu gelungenen Theoriebildungen. Andererseits war und bleibt es notwendig, die Funktion von Sprache und Denkmustern in den Prozessen gesellschaftlicher Ausgrenzung kritisch zu reflektieren, und das Bemühen um eine angemessene Sprache, das mit dem inzwischen zum Schimpfwort mutierten Terminus „political correctness“ wiedergegeben wird, nun auf eine Stufe mit totalitären Systemen zu stellen (die Nazis sind immer die anderen…), stellt die Realität dreist auf den Kopf – lupenreine Projektion.

Als ich mit diesen Gedankengängen fertig war und mich über den neuen christlichen Multikulturalismus freute, wanderten meine Gedanken zurück durch die vergangenen zwei Wochen. Mein Facebook-Freundeskreis hatte sich in der Frage der Diskrimierung Homosexueller schlagartig gespalten, als im medialen Windschatten von Thomas Hitzlsbergers Coming Out die Petition zum Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg unerwartet Schlagzeilen machte. Selbst wenn man zugesteht, dass nicht jeder Kommentar sauber durchdacht war, fand ich die Parallelität bemerkenswert. Ich vermute, dass die meisten Befürworter irgendwie tatsächlich keine Diskriminierung Homosexueller wie in Russland oder Uganda möchten, dass sie andererseits aber den Preis für die Überwindung derselben nicht realistisch einschätzen oder mitzutragen bereit sind:

Der Ideologieverdacht steht schon im Titel, ihm folgt der Vorwurf der Indoktrination. Den besten Kommentar zu diesem Einstieg fand ich jüngst bei Jan Fleischhauer, der üblicherweise ja keine Gelegenheit auslässt, gegen alles, was irgendwie grün oder links ist, den Zeigefinger zu erheben. Er bemerkt zu dieser Sorge lapidar:

Das letzte Mal habe ich in den siebziger Jahren die Indoktrinierungsthese gehört. Damals ging es um einen Gemeinschaftskundelehrer an meiner Schule, der gleichzeitig Mitglied der DKP war. Wenn man meinen politischen Werdegang zum Maßstab nimmt, kann man nur sagen: Irgendwie hat das mit der Indoktrination nicht richtig hingehauen. Oder sie hat doch gewirkt und mich auf die andere Seite getrieben. Aber das spräche aus Sicht der Indoktrinierungsthesenanhänger jetzt eher dafür, den Schulkindern möglichst viel über die Vorzüge des schwulen oder lesbischen Lebens zu erzählen, damit sie später garantiert heterosexuell werden.

Die Gendertheorie bzw. das Schlagwort „Gender Mainstream“ (hier eine kurze, verständliche und konkrete Darstellung) ist unglücklicherweise dabei, in Teilen des konservativen Christentums die Funktion von Kommunismus, Okkultismus, Ökumene, Esoterik, europäischer Integration u.a. als vermeintlich totalitäre Verschwörung zu übernehmen. Ich bin gewiss kein Gender-Experte, kann mich aber nach allem, was ich weiß, dieser Sicht nicht anschließen. Ich halte es für sinnvoll, begrüßenswert und unvermeidlich, dass Sexualität in der Schule nicht nur im Biologieunterricht besprochen wird. Es geht ja um viel mehr als die Frage, wie Reproduktion funktioniert. Und wie Menschen als sexuelle Wesen leben, das wird weithin – im Guten wie im Bösen – durch unsere Kultur bestimmt.

Man kann die Petition mit Fleischhauer so lesen, „dass sich in einem Gutteil der Unterschriften nicht eine offene oder latente Homophobie ausdrückt, sondern eher der Unmut, ständig die eigene Toleranzbereitschaft unter Beweis stellen zu müssen… Kaum etwas macht Menschen so nervös wie das Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen, dass man ihnen nicht ihre Rückständigkeit und Provinzialität vorhält. Gerade der akademische Diskurs mit seinen Verstiegenheiten löst bei Unkundigen deshalb schnell Befremden und Abwehr aus.“ Ein Unterzeichner fand, er müsse sich wohl bald dafür rechtfertigen, dass er heterosexuell sei. Das ist so ein fehlgeleiteter Abwehrreflex, der die Diskriminierung der eigenen Person schon darin antizipiert, dass eine andere Meinung Gehör findet. Ein Unterzeichner, dessen Kommentar auf der Petitionsseite hervorgehoben ist, schreibt: „Ich bin so glücklich, dass hier endlich einmal auch viele Normalos [!!] den Mut finden, gegen die Homosexualisierung der Gesellschaft [!!] Stellung zu beziehen.“ Wir „Normale“ werden also längst schon unterdrückt.

An einigen Stellen geht auch die Argumentation der Petition selbst in eine bedenkliche Richtung, die auch die heftigen Reaktionen der Kritiker verständlich werden lässt. Das eine ist der Verweis auf eine längere Liste von „gesundheitlichen Risiken“: Suizid, Drogenmissbrauch, HIV, psychische Krankheiten. Das ist, obwohl die Petition die ethische Reflexion fordert, ja im Kern ein biologistisches Argument. In der Kürze, in der es hier erscheint, ist es aber auch dazu angetan, allerlei Ängste zu schüren, die sich in den Kommentaren auch wunderbar aufspüren lassen. Im Hintergrund dieser Argumentationslinie schimmert die Vorstellung durch, dass jemand mutwillig gegen seine eigentliche „Natur“ handelt und damit sich und anderen schadet. Wie dieses Beispiel zeigt, wird bei Studien in dieser Richtung keineswegs nur seriös gearbeitet und argumentiert.

Und die Frage, wie man aus empirischen Befunden (sofern sie denn zuträfen) zu ethischen Urteilen findet, ist ja heikel: Bis vor ein paar Generationen hatten heterosexuelle Frauen eine deutlich geringere Lebenserwartung, weil viele im Kindbett starben. Zum Glück kam niemand auf die Idee, sie als Risikogruppe zu bezeichnen.

Das andere ist auch keineswegs neu, nämlich die Konstruktion einer Konkurrenzsituation zu „Ehe und Familie“ (beides strikt heterosexuell gedacht) und der Verweis auf den besonderen Schutz dieser Lebensform durch das Grundgesetz. Diese Annahme ergibt ja nur dann einen Sinn, wenn man sexuelle Orientierung als ein Problem versteht, mit dem man von außen irgendwie „infiziert“ wird, indem also eine allzu positive Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe und Partnerschaft einen Nachahmungseffekt erzeugt, der labile junge Menschen gefährdet. Ich halte die Gegenposition für plausibler, dass die Orientierung weitgehend angeboren ist.

Den Wert von Ehe und Familie zu verteidigen (beziehungsweise der Vorwurf, diesen Wert grundlos zu opfern) war ja schon ein wesentliches Motiv in der Kritik am Familienpapier der EKD. Hier taucht es wieder auf. Und wie man es dreht und wendet, der Spagat mag einfach nicht gelingen: In diesem Kontext den „besonderen Wert“ der heterosexuellen Ehe (das Bundesverfassungsgericht geht allerdings schon Schritte hin zu einem nichtexklusiven Verständnis von Ehe und Familie) zu betonen, bedeutet unweigerlich, andere Arrangements als minderwertig im Blick auf das Ideal oder die Norm erscheinen zu lassen. Der Staatsrechtler Carl Schmitt konstatierte einst: „Wer Werte setzt, hat sich damit gegen Unwerte abgesetzt“. Und Melanie Amann vom Spiegel schreibt im Blick auf zahlreiche Aktivisten der AfD, die ähnliche Positionen vertreten:

Diskriminierung muss nicht als grobe Beschimpfung daherkommen. Oft verbirgt sie sich in subtilen Sticheleien, oder im überschwänglichen Lob einer Lebensform, wenn in Wahrheit die andere herabgewürdigt werden soll.

Ein gesellschaftlicher Kontext dieser Diskussion ist der schleichende Bedeutungsverlust der „bürgerlichen Mitte“ unserer Gesellschaft. Diesem Milieu sind viele aktive Christen in Deutschland zuzuordnen. Eckhart Bieger schreibt dazu auf kath.de recht treffend:

Die Bürgerliche Mitte entwickelt eine eigene Mentalität, einfach deshalb, weil alle anderen Lebenswelten in einem Abstand zur Mitte leben. Deshalb fühlen sich die Bewohner der Mitte als die Normalbürger. Sie müssen nicht darüber nachdenken, sondern sie erleben alle an anderen Milieus als abweichend von der Mitte. Ihr Selbstbewusstsein kommt daher weniger aus dem erreichten sozialen Status, sondern mehr aus dem Bewusstsein, dass so, wie sie leben, es richtig ist. Sie erwarten, dass andere sich ihnen anpassen.

Der Bildungsplan für Baden-Württemberg spricht die Sprache anderer Milieus und stellt damit dieses Selbstverständnis in Frage. Daher wird er als fundamentale Verunsicherung erlebt. Verständlicherweise ist das Interesse groß, möglichst viele gesellschaftliche Inseln zu behaupten, die dem „Zeitgeist“ (d.h. allen die eigene Sicht relativierenden Veränderungen) entzogen sind. Für Marc Raschke auf Brand Eins verbindet die Menschen in diese Milieu vor allem der „Wunsch, ihren Status quo zu bewahren“.

Zurück zum Anfang: In der Frage des Multikulturalismus ist es unter Christen vielfach schon gelungen, vorhandene Ängste und Abwehrreaktionen abzubauen. Im Blick auf andere Lebensentwürfe wird das sicher noch einige Zeit dauern, aber man kann auch in den unbeholfenen Versuchen, die eigene „Normalität“ ohne Diskriminierung anderer zu behaupten, ein Zeichen der Hoffnung sehen. Vielleicht gelingt ja sich dieser Transfer irgendwann.

Share

Das „Wir“ entscheidet

Kürzlich nahm ich an einem theologischen Gespräch teil über die christliche Lehre vom Heil und der Versöhnung (Soteriologie). Die meisten Teilnehmer kamen aus der evangelikalen Tradition, die seit jeher die persönliche und individuelle Seite des Erlösungsgeschehens in den Mittelpunkt stellt. Uneins waren wir uns an dem Punkt, ob diese Akzentuierung sich zu Recht auf das Neue Testament berufen kann oder nicht. Eine These, die im Raum stand, war nämlich die, dass im Unterschied zu den Heilserwartungen der hebräischen Bibel (dort geht es um Gott und sein Volk, die Individuen sind dem deutlich nachgeordnet) im Neuen Testament eben diese Dimension des Einzelnen ins Zentrum rückt.

Je länger ich das Neue Testament lese, desto weniger kann ich das noch so sehen. Freilich muss man sich von einer bestimmten Auslegungstradition freischwimmen, die etwa mit Augustinus einsetzt, sich in der Reformation verstärkt und die im Pietismus wie Aufklärung noch weiter zunimmt, nämlich die Konzentration auf den einzelnen Menschen. Das fällt vielen schon deshalb nicht mehr auf, weil der moderne Hyperindividualismus das längst noch in den Schatten stellt. Legt man die Brille mal beiseite, die schon mehr oder weniger unbewusst jeden Plural in einen Singular verwandelt und jede Gemeinschaft nur als Ansammlung von Individuen missversteht (in Wirklichkeit ist sie etwas anderes und Größeres), dann ergibt sich ein anderes Bild.

Ein paar Schlaglichter:

  1. Der zentrale Begriff in der Verkündigung Jesu ist die Herrschaft Gottes. Sie erscheint schon im Danielbuch als Gegenbild zu den antiken Imperien, unter denen Israel zu leiden hatte. Sie ist nicht etwa nur eine religiöse Variante derselben, sondern deren fundamentale Infragestellung – daher ist sie auch „nicht von dieser Welt“: Kein Teil dieses Systems, das Menschen unterwirft und Ordnung bzw. Frieden gewaltsam erzwingt, sondern, wie Walter Wink es nennt, „Gottes herrschaftsfreie Ordnung“ mit kosmischen Konsequenzen (vgl. Jesaja 25,6ff, Ezechiel 47,1ff) . In der Herrschaft Gottes bricht der „Himmel“ auf der Erde an, das Kommende wirft in Jesu Zeichen und Wundern seine Schatten voraus, aber die Geburtswehen dauern noch so lange an, wie das Alte fortbesteht.
  2. Auch Jesu Verkündigung richtet sich nicht primär an einzelne Menschen, sondern an sein Volk (Matthäus 1,21-23). Jesus definiert Israel explizit als seinen Wirkungsbereich (Matthäus 10,6), und im Stil der großen Propheten (N.T. Wright zeigt das sehr gründlich in Jesus und der Sieg Gottes) ruft er, wie schon der Täufer vor ihm, Israel als Ganzes zur Umkehr.
  3. Wenn er dabei einzelne in seine Nachfolge ruft, steht das in diesem Kontext: Der Zwölferkreis symbolisiert die endzeitliche Sammlung des seit Jahrhunderten zerstreuten Gottesvolkes, und die zahlreichen anderen NachfolgerInnen bilden (ähnlich wie die Gemeinschaft von Qumran das von sich auch glaubte) das „wahre Israel“.
  4. Dessen Grenzen freilich weicht Jesus auch gleich wieder etwas auf, wenn er Heiden wie dem Hauptmann und der Syrophönizierin Anteil am Heil schenkt. Aber auch das darf man nicht individualistisch missverstehen, schließlich ist es Israels Berufung seit Abraham, ein Segen für die Völker-/Heidenwelt zu sein (vgl. Gen 12,1ff.). Christus ist, so heißt es in Apg 26,23 „dem Volk (!) und den Heiden ein Licht“.
  5. Das Passah als das zentrale Symbol des Neuen Bundes (1.Korinther 11,25) greift auf die Exodustradition zurück, Jesus wird wie damals Mose zum Mittler zwischen Gott und dem Volk, das nun aus Juden und Heiden besteht. Ebenso wie das Passah steht auch die Taufe in der Exodustradition (1.Korinther 10,1f.) des Bundesschlusses zwischen Gott und seinem Volk. Beides kann nur in Gemeinschaft begangen werden, nicht im stillen Kämmerlein oder der reinen, für alle andere unzugänglichen Innerlichkeit des eigenen „Herzens“. In der alten Kirche und in der lutherischen und katholischen Tradition ist nicht von ungefähr das Sakrament der Angelpunkt der Zueignung und Aktualisierung des Heils. Franckes Bekehrung, stilprägend für den Pietismus und Evangelikalismus, fand dagegen in der Abgeschiedenheit der Kammer statt. Interessanterweise hatte ich für das Gespräch eine These vorbereitet, in der die Eucharistie vorkam, und die Arbeitsgruppe zu diesem Punkt war offenbar der Auffassung, dass der Verweis auf das Sakrament für die evangelikale Soteriologie verzichtbar ist…
  6. Schaut man genau hin, dann wird im Neuen Testament meines Wissens so gut wie nie davon geredet, dass Jesus für den einzelnen Menschen gestorben sei. Die einzige Ausnahme ist Galater 2,20 (und da nennt Paulus sich eben auch exemplarisch für die Gemeinde, um die er ringt); abgesehen davon steht immer der Plural „für uns“ oder es erscheint gar die ganze Welt als Adressatin des Heils. Demgegenüber ist es schon auffallend, wie das „für mich“ und „für dich“ in Liedgut und Verkündigung seit Pietismus und Aufklärung als der sprachliche Regelfall erscheint, und nicht mehr als die Ausnahme.
  7. Während die biblische Geschichte in einem Garten mit zwei Menschen beginnt, endet sie in einer Stadt, einer Polis. In diese Stadt bringen nicht einzelne Menschen, sondern ganze Völker und Kulturen ihre Schätze. Gottes universales Heil kann in einem einzelnen, isolierten Menschen also gar nicht anschaulich werden, es überschreitet in seiner Gemeinschaft stiftenden Ausbreitung die Grenzen von Familien, Sippen, Kulturen und politischen Strukturen.

Schließlich ist die umfassende Wiederherstellung der Beziehung, Verbindung und Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch, Menschheit und Schöpfung ja die Essenz aller christlicher Heilsvorstellungen. Eben deshalb sind Gottes- und Nächstenliebe bei Jesus gleichrangig, ist die Bruderliebe im ersten Johannesbrief das Echtheitskriterium der Gottesliebe. Auch von daher denke ich, man muss dem Zeitgeist zum Trotz – wunderbar, dass ich diesen Satz hier auch mal verwenden kann 🙂 – darauf beharren, dass die Dimension des einzelnen auch im Neuen Testament zwar nicht ausgeblendet und vernachlässigt wird, aber deutlich hinter der gemeinschaftlichen und damit eben auch der sozialen Dimension von Glauben und Heil anzusiedeln ist.

Die Zumutung des Evangeliums in einer zunehmend narzisstischen Gesellschaft ist die Einsicht, dass sich die Welt (und erst recht Gott) nicht um mich dreht, auch nicht um meinen „geistlichen“ Zustand, sondern dass Gottes Geist gerade auf ein dezentriertes Selbst hinwirkt. Ironischerweise sind gerade solche Menschen individueller und unverwechselbarer „sie selbst“ als die meisten anderen. Dem würden nun auch viele Vertreter des Heilsindividualismus zustimmen, für die sich erst einmal alles um die persönliche Gottesbeziehung dreht. Sie würden sich und anderen den Weg dahin (es geht ja um nichts weniger als die oft beschworene „Heiligung“) eventuell erleichtern, wenn sie in der missionarischen Verkündigung gleich auf dem richtigen Fuß beginnen würden.

DSC03247.jpg

Share