Wenn der „Normalo“ nicht mehr normal ist

Vorgestern Abend habe ich mir im Rahmen der Allianz-Gebetswoche Gedanken machen dürfen über das Thema „Vielfalt“. Beim Thema Integration haben evangelikale Christen in den letzten Jahren vielfach eine sehr konstruktive Rolle eingenommen und sich klar gegen die Diskriminierung von Migranten positioniert. Das ist auch wichtig, denn nach wie vor wird an diesem Punkt – die CSU exerziert es mit ihrer die Realität böswillig verzerrenden Kampagne zum Thema Armutsmigration gerade wieder vor – die Atmosphäre zwischen Einheimischen und Zuwanderern vorsätzlich belastet, um den rechten Rand der Wählerschaft für die Europawahl an sich zu binden.

In meinem Stadtteil hat die Ankündigung, dass hier demnächst eine zweistellige Zahl Flüchtlinge untergebracht werden soll, ganz ähnliche Reflexe ausgelöst. Ein anonymes Flugblatt beschimpfte die Kommune und die Kirchen, sie würden die Sicherheit Anwohner und den Frieden im Wohngebiet gefährden. Vorsorglich verwahrte sich der Autor gegen jeden Vorwurf, er sei rechts oder er wolle andere diskriminieren. Vielmehr sah er sich selbst als Teil einer unterdrückten Minderheit. Und dann zitierte er aus allen möglichen „Quellen“ die „Fakten“, über die man angeblich nicht reden dürfe, dass Flüchtlinge nämlich Probleme, Probleme und nichts als Probleme verursachen.

Ein interessanter Aspekt ist, dass in der Integrationsdebatte der Widerspruch gegen diese negative Selektion vermeintlicher „Fakten“ seit einiger Zeit als totalitär gelabelt wird – „ das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, heißt es dann gebetsmühlenartig. Die anderen greifen zu „Totschlagargumenten“, sie sind die eigentlichen Diskussionsverweigerer. Was hier als „Maulkorb“, Redeverbot und Einschränkung der Meinungsfreiheit hingestellt wird, ist freilich nur der berechtige und absehbare Protest gegen die negativen Stereotypisierungen anderer, die man selbst geäußert hat – also die Tatsache, dass andere Menschen auch von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen.

Die präventive Selbststilisierung in die Opferrolle dient dazu, nicht als Rassist, Rechter oder schlicht als intolerant gebrandmarkt zu werden, denn das ist im Zeitalter des Pluralismus einer der schwerwiegendsten Vorwürfe überhaupt. Folglich werden Alibi-Diskurse über Gegendiskrimierung etabliert, von angeblich grassierender „Deutschenfeindlichkeit“ ist dann die Rede, und freilich lässt sich irgendein Beispiel immer finden, wo nach Jahrzehnten der Verachtung eine oder mehrere Einwanderergruppen nun ihrerseits den Alteingesessenen das Leben schwer machen – aber wen wundert das eigentlich? Der Verweis auf die Inländerfeindlichkeit dient ja in der Regel dazu, die unversöhnliche Haltung gegenüber den bisherigen Minderheiten zu zementieren.

Der letzte Schritt der Selbstimmunisierung gegen Kritik besteht darin, die andere Seite unter Ideologieverdacht zu stellen. Nun werden also nicht nur die Migranten, sondern auch ihre Unterstützer etikettiert. Sie seien Fanatiker, die vom Wahn des „Multikulturalismus“ geblendet unsere Gesellschaft an den Rand des Abgrunds geführt hätten. Freilich führt der noch vergleichsweise junge Kampf gegen Diskriminierung nicht in jedem Fall zu gelungenen Theoriebildungen. Andererseits war und bleibt es notwendig, die Funktion von Sprache und Denkmustern in den Prozessen gesellschaftlicher Ausgrenzung kritisch zu reflektieren, und das Bemühen um eine angemessene Sprache, das mit dem inzwischen zum Schimpfwort mutierten Terminus „political correctness“ wiedergegeben wird, nun auf eine Stufe mit totalitären Systemen zu stellen (die Nazis sind immer die anderen…), stellt die Realität dreist auf den Kopf – lupenreine Projektion.

Als ich mit diesen Gedankengängen fertig war und mich über den neuen christlichen Multikulturalismus freute, wanderten meine Gedanken zurück durch die vergangenen zwei Wochen. Mein Facebook-Freundeskreis hatte sich in der Frage der Diskrimierung Homosexueller schlagartig gespalten, als im medialen Windschatten von Thomas Hitzlsbergers Coming Out die Petition zum Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg unerwartet Schlagzeilen machte. Selbst wenn man zugesteht, dass nicht jeder Kommentar sauber durchdacht war, fand ich die Parallelität bemerkenswert. Ich vermute, dass die meisten Befürworter irgendwie tatsächlich keine Diskriminierung Homosexueller wie in Russland oder Uganda möchten, dass sie andererseits aber den Preis für die Überwindung derselben nicht realistisch einschätzen oder mitzutragen bereit sind:

Der Ideologieverdacht steht schon im Titel, ihm folgt der Vorwurf der Indoktrination. Den besten Kommentar zu diesem Einstieg fand ich jüngst bei Jan Fleischhauer, der üblicherweise ja keine Gelegenheit auslässt, gegen alles, was irgendwie grün oder links ist, den Zeigefinger zu erheben. Er bemerkt zu dieser Sorge lapidar:

Das letzte Mal habe ich in den siebziger Jahren die Indoktrinierungsthese gehört. Damals ging es um einen Gemeinschaftskundelehrer an meiner Schule, der gleichzeitig Mitglied der DKP war. Wenn man meinen politischen Werdegang zum Maßstab nimmt, kann man nur sagen: Irgendwie hat das mit der Indoktrination nicht richtig hingehauen. Oder sie hat doch gewirkt und mich auf die andere Seite getrieben. Aber das spräche aus Sicht der Indoktrinierungsthesenanhänger jetzt eher dafür, den Schulkindern möglichst viel über die Vorzüge des schwulen oder lesbischen Lebens zu erzählen, damit sie später garantiert heterosexuell werden.

Die Gendertheorie bzw. das Schlagwort „Gender Mainstream“ (hier eine kurze, verständliche und konkrete Darstellung) ist unglücklicherweise dabei, in Teilen des konservativen Christentums die Funktion von Kommunismus, Okkultismus, Ökumene, Esoterik, europäischer Integration u.a. als vermeintlich totalitäre Verschwörung zu übernehmen. Ich bin gewiss kein Gender-Experte, kann mich aber nach allem, was ich weiß, dieser Sicht nicht anschließen. Ich halte es für sinnvoll, begrüßenswert und unvermeidlich, dass Sexualität in der Schule nicht nur im Biologieunterricht besprochen wird. Es geht ja um viel mehr als die Frage, wie Reproduktion funktioniert. Und wie Menschen als sexuelle Wesen leben, das wird weithin – im Guten wie im Bösen – durch unsere Kultur bestimmt.

Man kann die Petition mit Fleischhauer so lesen, „dass sich in einem Gutteil der Unterschriften nicht eine offene oder latente Homophobie ausdrückt, sondern eher der Unmut, ständig die eigene Toleranzbereitschaft unter Beweis stellen zu müssen… Kaum etwas macht Menschen so nervös wie das Gefühl, ständig auf der Hut sein zu müssen, dass man ihnen nicht ihre Rückständigkeit und Provinzialität vorhält. Gerade der akademische Diskurs mit seinen Verstiegenheiten löst bei Unkundigen deshalb schnell Befremden und Abwehr aus.“ Ein Unterzeichner fand, er müsse sich wohl bald dafür rechtfertigen, dass er heterosexuell sei. Das ist so ein fehlgeleiteter Abwehrreflex, der die Diskriminierung der eigenen Person schon darin antizipiert, dass eine andere Meinung Gehör findet. Ein Unterzeichner, dessen Kommentar auf der Petitionsseite hervorgehoben ist, schreibt: „Ich bin so glücklich, dass hier endlich einmal auch viele Normalos [!!] den Mut finden, gegen die Homosexualisierung der Gesellschaft [!!] Stellung zu beziehen.“ Wir „Normale“ werden also längst schon unterdrückt.

An einigen Stellen geht auch die Argumentation der Petition selbst in eine bedenkliche Richtung, die auch die heftigen Reaktionen der Kritiker verständlich werden lässt. Das eine ist der Verweis auf eine längere Liste von „gesundheitlichen Risiken“: Suizid, Drogenmissbrauch, HIV, psychische Krankheiten. Das ist, obwohl die Petition die ethische Reflexion fordert, ja im Kern ein biologistisches Argument. In der Kürze, in der es hier erscheint, ist es aber auch dazu angetan, allerlei Ängste zu schüren, die sich in den Kommentaren auch wunderbar aufspüren lassen. Im Hintergrund dieser Argumentationslinie schimmert die Vorstellung durch, dass jemand mutwillig gegen seine eigentliche „Natur“ handelt und damit sich und anderen schadet. Wie dieses Beispiel zeigt, wird bei Studien in dieser Richtung keineswegs nur seriös gearbeitet und argumentiert.

Und die Frage, wie man aus empirischen Befunden (sofern sie denn zuträfen) zu ethischen Urteilen findet, ist ja heikel: Bis vor ein paar Generationen hatten heterosexuelle Frauen eine deutlich geringere Lebenserwartung, weil viele im Kindbett starben. Zum Glück kam niemand auf die Idee, sie als Risikogruppe zu bezeichnen.

Das andere ist auch keineswegs neu, nämlich die Konstruktion einer Konkurrenzsituation zu „Ehe und Familie“ (beides strikt heterosexuell gedacht) und der Verweis auf den besonderen Schutz dieser Lebensform durch das Grundgesetz. Diese Annahme ergibt ja nur dann einen Sinn, wenn man sexuelle Orientierung als ein Problem versteht, mit dem man von außen irgendwie „infiziert“ wird, indem also eine allzu positive Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe und Partnerschaft einen Nachahmungseffekt erzeugt, der labile junge Menschen gefährdet. Ich halte die Gegenposition für plausibler, dass die Orientierung weitgehend angeboren ist.

Den Wert von Ehe und Familie zu verteidigen (beziehungsweise der Vorwurf, diesen Wert grundlos zu opfern) war ja schon ein wesentliches Motiv in der Kritik am Familienpapier der EKD. Hier taucht es wieder auf. Und wie man es dreht und wendet, der Spagat mag einfach nicht gelingen: In diesem Kontext den „besonderen Wert“ der heterosexuellen Ehe (das Bundesverfassungsgericht geht allerdings schon Schritte hin zu einem nichtexklusiven Verständnis von Ehe und Familie) zu betonen, bedeutet unweigerlich, andere Arrangements als minderwertig im Blick auf das Ideal oder die Norm erscheinen zu lassen. Der Staatsrechtler Carl Schmitt konstatierte einst: „Wer Werte setzt, hat sich damit gegen Unwerte abgesetzt“. Und Melanie Amann vom Spiegel schreibt im Blick auf zahlreiche Aktivisten der AfD, die ähnliche Positionen vertreten:

Diskriminierung muss nicht als grobe Beschimpfung daherkommen. Oft verbirgt sie sich in subtilen Sticheleien, oder im überschwänglichen Lob einer Lebensform, wenn in Wahrheit die andere herabgewürdigt werden soll.

Ein gesellschaftlicher Kontext dieser Diskussion ist der schleichende Bedeutungsverlust der „bürgerlichen Mitte“ unserer Gesellschaft. Diesem Milieu sind viele aktive Christen in Deutschland zuzuordnen. Eckhart Bieger schreibt dazu auf kath.de recht treffend:

Die Bürgerliche Mitte entwickelt eine eigene Mentalität, einfach deshalb, weil alle anderen Lebenswelten in einem Abstand zur Mitte leben. Deshalb fühlen sich die Bewohner der Mitte als die Normalbürger. Sie müssen nicht darüber nachdenken, sondern sie erleben alle an anderen Milieus als abweichend von der Mitte. Ihr Selbstbewusstsein kommt daher weniger aus dem erreichten sozialen Status, sondern mehr aus dem Bewusstsein, dass so, wie sie leben, es richtig ist. Sie erwarten, dass andere sich ihnen anpassen.

Der Bildungsplan für Baden-Württemberg spricht die Sprache anderer Milieus und stellt damit dieses Selbstverständnis in Frage. Daher wird er als fundamentale Verunsicherung erlebt. Verständlicherweise ist das Interesse groß, möglichst viele gesellschaftliche Inseln zu behaupten, die dem „Zeitgeist“ (d.h. allen die eigene Sicht relativierenden Veränderungen) entzogen sind. Für Marc Raschke auf Brand Eins verbindet die Menschen in diese Milieu vor allem der „Wunsch, ihren Status quo zu bewahren“.

Zurück zum Anfang: In der Frage des Multikulturalismus ist es unter Christen vielfach schon gelungen, vorhandene Ängste und Abwehrreaktionen abzubauen. Im Blick auf andere Lebensentwürfe wird das sicher noch einige Zeit dauern, aber man kann auch in den unbeholfenen Versuchen, die eigene „Normalität“ ohne Diskriminierung anderer zu behaupten, ein Zeichen der Hoffnung sehen. Vielleicht gelingt ja sich dieser Transfer irgendwann.

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