Der renommierte italienische Denker Giorgio Agamben spricht im Interview mit der Feuilleton der FAZ über divergierende Vorstellungen eines gemeinsamen Europas. Deutschland als derzeit prägende Kraft in der EU ist aus seiner Sicht unfähig, „ein Europa zu denken, das nicht allein auf Euro und Wirtschaft beruht.“ Was die gegenwärtige Regierungskoalition angeht, sicher ein Volltreffer.
Die Reduktion auf die Ökonomie überdeckt, dass die eigentlich nötige demokratische Legitimierung europäischer Politik immer noch fehlt und dass entscheidende Dimensionen des Zusammenlebens auf der Strecke bleiben, die Europa einzigartig machen, zum Beispiel ein ganz bestimmtes Bewusstsein von Kultur und Geschichte – die Vielfalt der Lebensformen ist bedroht:
Im Mittelalter wusste man wenigstens, dass eine Einheit verschiedener politischer Gesellschaften mehr bedeuten muss als eine rein politische Gesellschaft. Damals suchte man das einigende Band im Christentum. Heute glaube ich, dass man diese Legitimation in Europas Geschichte und seinen kulturellen Traditionen suchen muss. Im Unterschied zu Asiaten und Amerikanern, für die Geschichte etwas ganz anderes bedeutet, begegnen Europäer ihrer Wahrheit immer im Dialog mit ihrer Vergangenheit.
Dabei verdeckt, sagt Agamben, vor allem die permanente Krisenstimmung, wo überall nach fragwürdigen Kriterien über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden wird, und wem das letztendlich nützt. Über diesen Gedanken, dass wir alle unter dem Diktat ökonomischer Zwänge zusehends entmündigt werden, lohnt es sich nun wirklich eine Weile nachzudenken:
Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen. In Italien sieht man das deutlich. Hier hat man im Namen der Krise eine Regierung gebildet und Berlusconi wieder an die Macht gebracht, obwohl das grundlegend dem Willen der Wähler widerspricht. Diese Regierung ist ebenso illegitim wie die sogenannte europäische Verfassung. Die europäischen Bürger müssen sich klarmachen, dass diese unendliche Krise – genau wie der Ausnahmezustand – mit der Demokratie inkompatibel ist.
„Die Reduktion auf die Ökonomie überdeckt, dass die eigentlich nötige demokratische Legitimierung europäischer Politik immer noch fehlt und dass entscheidende Dimensionen des Zusammenlebens auf der Strecke bleiben,“ …
„Über diesen Gedanken, dass wir alle unter dem Diktat ökonomischer Zwänge zusehends entmündigt werden, lohnt es sich nun wirklich eine Weile nachzudenken …“
Ja. … entmündigt werden und uns selbst entmündigen, weil wir die Zukunft und ihre Chancen aus menschlichen Händen und Hirnen in die Hände eines nach einem „Gleichgewicht“ suchenden Algorithmus legen (Nash).
Wie sagte Heiner Geißler schon 2006: „Wir haben ein Strukturproblem in unserer Gesellschaft und dieses Strukturproblem heißt Ökonomisierung der Gesellschaft. Das ist die eigentliche Katastrophe.“
Das scheint mir tatsächlich in sehr vielen Bereiche unserer Gesellschaft ein zunehmendes Problem zu sein. Selbst unter Christen wird argumentiert, dass man sich Humanität (z.B. gegenüber Flüchtlingen oder Arbeitslosen) wirtschaftlich nicht leisten könne. Menschlich mag das verständlich sein. Aber dass das eine komplette Verdrehung der biblischen Botschaft ist, wird überhaupt nicht erkannt.
Das wäre mal eine Reflexion über den Satz „Silber und Gold habe ich nicht, aber was ich habe, gebe ich dir“ aus Apg. 3 wert…