Alpha analysiert (5): Die Zweinaturenbibel

In den letzten Jahren haben sich für mich eine ganze Reihe von Fragen an „Fragen an das Leben“ ergeben. Vor einigen Wochen habe ich begonnen, die in einer Serie von Blogposts etwas zu bearbeiten. Zum einen ist das eine Antwort auf etliche Anfragen, die mich zu den Themen des Kurses erreicht haben, zum anderen denke ich, dass von einer offenen Diskussion alle profitieren, auch wenn der eine oder andere Kommentar unten kritisch ausfällt. Die positiven Seiten habe ich übrigens hier gewürdigt.

Die Frage nach der Gewissheit ist eng verknüpft mit der Lehre von der Schrift, und tatsächlich ähnelt sich die Argumentationsstruktur der beiden Kapitel: Die Bibel wird zunächst als eine Art Buch der Superlative eingeführt. Sie ist erstens „konkurrenzlos“, zweitens „kraftvoll“ und drittens „kostbar“, weil Gott in ihr redet. Das ist schon einmal eine steile Behauptung für die Skeptiker unter den Lesern. Zur Begründung heißt es weiter:

Jesus sagte: „Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt“ (Matthäus 4,4). Das Wort „kommt“ steht grammatikalisch gesehen im Originaltext im Partizip Präsens und bezeichnet einen ständig ablaufenden Prozess. Es ergießt sich sozusagen ununterbrochen aus dem Mund Gottes, wie ein Strom aus der Quelle hervorsprudelt. Mit anderen Worten: Gott möchte ununterbrochen mit uns kommunizieren. Und das tut er in erster Linie durch dieses Buch, die Bibel.

Nun kann man an dieser Stelle einwenden: Entweder ist Gottes Reden ein fortlaufender Prozess und ein stetes Geplätscher, dann wäre die Frage, wozu man die Worte konserviert, wenn es sie auch frisch gibt. Oder es ist im Grunde doch festgeschrieben und alles, was uns heute bleibt, ist ein frischer Aufguss des Alten. Passt beides irgendwie zusammen?

Nicky Gumbel importiert die Zweinaturenlehre aus der Christologie, um zu erklären (aber im Grunde ist es nur eine Behauptung), dass die Bibel ganz Menschenwort und zugleich ganz Gotteswort sein kann. Und wie in der klassischen Christologie verschwindet auch hier die schwache menschliche Seite umgehend hinter der göttlichen, denn es folgt eine scholastisch anmutende Akkumulation kirchlicher Autoritäten, die der Bibel – freilich nicht überraschend – Vollkommenheit und Unfehlbarkeit attestieren.

Nun kann man sich darüber freuen, wie hier eher unapologetisch ein ökumenischer Konsens (Irenäus – Luther – das II. Vaticanum) geäußert wird. Oder man wundert sich, dass die Traditionslinie zielstrebig auf Billy Graham zuläuft, der als Kronzeuge eines naiven Biblizismus zitiert wird, und von da ab beherrscht der Begriff „Autorität“ das Feld. Auf Bibelkritik – sei sie wissenschaftlich-historisch oder auch nur die Hilflosigkeit des einfachen Bibellesers angesichts verstörender Gewaltszenen – wird überhaupt nicht eingegangen, es wird lediglich eingeräumt, dass es wohl gewisse Schwierigkeiten beim Verstehen gebe und – freilich nur scheinbare – Widersprüche.

Vielsagend sind die Analogien, die dieses Bibel-Kapitel durchziehen. Da vergleicht Nicky Gumbel die Bibel mit der St. Paul’s Cathedral, deren Architekt Sir Christopher Wren keinen einzigen Stein in die Hand genommen habe und dennoch der Schöpfer des Kunstwerks sei, so wie Gott keinen Buchstaben selbst schrieb, aber trotzdem der eigentliche Autor der Bibel sei. Freilich sieht jeder, dass St. Paul’s ein Werk aus einem Guss ist, während die Entstehung der Bibel doch eher einem Haus gleicht, das an allen Ecken und Enden umgebaut und erweitert wurde, und entsprechend verwinkelt sind manche ihrer Zusammenhänge. Statt kultureller Komplexität und historischer Vielschichtigkeit wird hier eine im Grunde zeitlose Homogenität behauptet.

In eine ähnliche Richtung weisen die drei Metaphern gegen Ende des Kapitels: Das Regelwerk, die Bedienungsanleitung und der Liebesbrief. Regeln schützen und dienen dem Frieden, sie engen nicht nur ein – klar soweit. Tatsächlich finden wir in der Bibel unter anderem auch Gebote und Rechtssatzungen. Dass in der Bibel aber auch manche verstörende Regeln stehen und dass da zum Teil von drakonischen Strafen die Rede ist, bleibt außen vor. Unter dem Leitgedanken der Erziehung und Lebenshilfe erfolgt der Übergang zum Bild von der Gebrauchsanweisung. Der lässt sich deutlich schlechter verifizieren. Denn die biblischen Texte sind etwas ganz anderes als das Handbuch für ein technisches Gerät und das menschliche Leben ist viel komplizierter als eine Maschine, die „funktioniert“, wenn sie nur korrekt bedient wird. Wenn die Bibel eins nicht ist, dann ein Handbuch mit Patentlösungen und schrittweisen Anleitungen für alle Lebenslagen!

Um das Starre und Mechanistische etwas zu lindern, wird die Bibel schließlich unter Verweis auf Augustinus („Die Bibel erzählt von nichts anderem als von Gottes Liebe zu uns“) als „Liebesbrief“ beschrieben. Aber auch hier bleibt das Faktum unkommentiert, dass sich das dicke, alte und wundersame Buch so ganz und gar nicht wie ein persönlicher Brief Gottes an mich liest. Vielmehr ist da von allen möglichen Leuten die Rede, die zu anderen Zeiten in anderen Situationen lebten, teils ähnliche und teils ganz andere Sorgen und Probleme hatten als wir, und die oft genug alles andere als vorbildlich agierten.

Augustinus‘ oben zitierter Satz hatte ein Schlüsselwort enthalten: Das Erzählen. Warum nur wird die Bibel hier als dieses oder jenes angepriesen, ohne zu erläutern, dass sie vor allem eine Sammlung geschichtlicher Texte ist? Texte, die geschichtliche Erinnerungen an Gottes Handeln mit den Menschen festhalten und diese im Erzählen weiterentwickeln; Texte die in einem lockeren, aber eben keineswegs monolithischen, und eben deshalb nach vielen Seiten offenen und anschlussfähigen Traditionszusammenhang stehen. Texte, die auch und gerade deshalb vom Geist Gottes auf unerwartete Weise aktualisiert werden können. Texte, die unsere Kultur und Geschichte schon seit Jahrhunderten geprägt haben, selbst wenn das eine oder andere folgenschwere Missverständnis auch ein Teil ihrer Wirkungsgeschichte ist.

Wird dieses unkritische Harmonisieren der in Wirklichkeit kantigen Bibel und das Aufstellen von Behauptungen, die zu keinem Zeitpunkt die fromme Binnenperspektive verlassen, den Lesern von „Fragen an das Leben“ und den Gästen eines Alpha-Kurses (der richtet sich ja Skeptiker und Suchende) eigentlich gerecht? Ist das ehrlich empfunden, dass die schwierigen Seiten der Bibel ungefähr so vernachlässigbar sind wie deren flüchtige Erwähnung im Text dieses Kapitels, oder meint Nicky Gumbel, das einem Anfänger im Glauben (noch) nicht zumuten zu dürfen?

Zuletzt: Warum drehen wir das Argument eigentlich nicht um und arbeiten heraus, wie gerade die Vielfalt der Perspektiven und Stimmen oder auch die Weigerung der Juden und später der Christen, peinliche oder höchst erklärungsbedürftige Passagen nachträglich zu frisieren und Widersprüche zu tilgen, also gerade auch das Menschliche, die Bibel glaubwürdig macht? Welche andere religiöse Tradition hat denn etwas Vergleichbares zu bieten? Lässt sich vielleicht gerade auch darin Gottes Reden und Handeln erkennen?

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