Einfach, aber nicht leicht

Ich arbeite momentan an einer Predigtreihe über die zehn Gebote. Und merke, dass mir immer wieder neue Dinge auffallen, etwa beim Nachdenken über die „negative“ Formulierung schon des ersten Gebotes. Da wird keine minutiöse Ausführungsbestimmung geliefert, die wäre auch absurd, sondern es ist schlicht Konzentration auf das eine und den Einen angesagt. Sie kann tausend Formen haben und ist doch nicht beliebig.

Oft genug besteht das geistliche Leben ja darin, bestimmte Dinge einfach mal zu lassen, damit ein Raum für Gott entstehen kann. „Götzen“ sind Dinge, die unsere Kraft und Aufmerksamkeit binden, die uns aber nicht dazu bringen, über uns hinaus zu wachsen, sondern die uns einschränken und schwächen. Polytheistische Götter sind ja im Grunde nicht transzendent, sondern lediglich personifizierte Teilaspekte immanenter Ordnungen und Kräfte.

Freiheit kommt aus einer notwendigen Distanz zur Welt und zu mir selbst. Ich glaube, das ist das Geschenk des ersten Gebotes, das alle anderen Stimmen und Ansprüche, einschließlich meiner eigenen Bedürfnisse, auf die Plätze verweist. Aber es kann ja auch schwer sein, einfach mal Ruhe zu geben, auch das Dringende hintanzustellen und Gott Gott sein zu lassen.

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Gemischte Motive: Die Narnia-Soteriologie

Gestern habe ich auf einer Studientagung mit Pastoren über die Bedeutung des Kreuzes für die christliche Erlösungslehre und Theologie nachgedacht. Dabei fiel mir ein, dass neben Kirchenliedern vor allem Kindergeschichten (oder vermeintliche Kindergeschichten) wie C.S. Lewis‘ „König von Narnia“ die Vorstellungswelten nachhaltig geprägt haben.

In Lewis‘ Fantasyroman mischen sich die soteriologischen Motive: Einerseits geht es um Schuld (Verrat) und Strafe, andererseits geht es um einen Gefangenenaustausch oder ein Lösegeld (Aslan gegen Edmund), drittens wird ein Ritualmord beschrieben, der an kultische Opferpraxis erinnert.

Man kann das nun ganz unterschiedlich lesen: Entweder ist die Häufung der Motive ein Ausdruck dafür, dass Lewis bewusst oder unbewusst merkte, dass jedes für sich genommen unzureichend war und höchstens einen Teilaspekt verdeutlichte. Oder ist es sogar als leise Kritik an den Motiven traditioneller Soteriologie zu lesen?

Spannend ist, dass sich für Lewis mit keinem dieser oben genannten Motive begründen lässt, warum Aslan wieder lebendig wird und die Winterhexe in die Flucht schlägt. Damit die Rechnung aufgeht, muss er eine „geheime“, uralte und vergessene „Regel“ nachschieben: Wenn sich ein Unschuldiger für einen Schuldigen opfert, dann wird die Strafe rückgängig gemacht.

Hier erinnert die Erzählung an das mythische Christus-Victor-Motiv der altkirchlichen Soteriologie: Der Sieg über Hölle, Tod und Teufel. Gott reizt die böse Macht, ihre Grenzen zu überschreiten, die Maske der Legitimität fallen zu lassen und sich zu verausgaben. Aber der Drache (um kurz einmal das Bild zu wechseln) verschluckt sich quasi an dem Köder, die Beute ist eine Nummer zu groß, und das besiegelt sein Schicksal.

Ein großes Handicap bei Lewis ist, dass er Aslan nicht trinitarisch beschrieben kann. So hat das Reden von einer uralten, tieferen Magie nun die Funktion, auf den Schöpfer und seine Vorsehung zu verweisen. Ziemlich komplex für eine Kindergeschichte!

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Religion und Institution

Religion als Institution, der Tempel als letztendliches Ziel, oder – anders gesagt – Religion um ihrer selbst willen, ist Götzendienst. Tatsache ist, dass das Böse Bestandteil der Religion ist, nicht nur des Säkularismus. Spießige Frömmigkeit kann ein Sich-Drücken vor der Pflicht sein, ein Zugeständnis an die Selbstsucht.

Religion ist um Gottes Willen da. Die menschliche Seite der Religion, ihre Glaubensbekenntnisse, Rituale und Institutionen, sind eher ein Weg als das Ziel. Das Ziel ist „Gerechtigkeit zu üben, Barmherzigkeit zu lieben und in Demut mit deinem Gott zu wandeln.“ Wenn die menschliche Seite der Religion zum Ziel wird, dann wird Unrecht zum Weg.

Abraham Heschel

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Warten auf Volf (3): Bedrohter Zusammenhalt

Von der Ausgrenzung zur Umarmung von Miroslav Volf wird auf Deutsch wohl erst im November erscheinen, wer also inzwischen schon nach Weihnachtsgeschenken sucht, sei schon einmal vorgewarnt. Um das Warten zu verkürzen, hier schon mal ein Gedanke, und zwar zum stets von Brüchen bedrohten gesellschaftlichen Miteinander verschiedener Gruppen und Personen und zur Frage, wie Versöhnung geschehen kann:

In einer Welt aufeinanderprallender Perspektiven und angestrengter Selbstrechtfertigungen, brüchigen Pflichtgefühls und heftiger Animositäten wird ein Bund gehalten oder erneuert, weil jene, die ihn aus ihrer Perspektive nicht gebrochen haben, bereit sind, an seiner Reparatur hart zu arbeiten.

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So gewinnt man Herzen zurück. Oder?

Die katholische Bischofskonferenz hat einen Standardbrief entworfen, den Pfarrer demnächst an Menschen verschicken sollen, die aus der großkirchlichen Institution austreten (zum Anlass vgl. diesen Bericht). Der Brief fragt weder nach den Gründen des Austritts, noch zeigt er Verständnis für das Bedürfnis nach mehr Distanz, er warnt nur vor den Folgen. Und spart weder mit tadelnden Worten noch mit (das werden die wenigsten Empfänger entschlüsseln können) Verweisen auf das kanonische Recht, wenn es dort wörtlich heißt:

Die Erklärung des Kirchenaustritts vor der zuständigen zivilen Behörde stellt als öffentlicher Akt eine willentliche und wissentliche Distanzierung von der Kirche dar und ist eine schwere Verfehlung gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft. Wer vor der zuständigen Behörde seinen Kirchenaustritt erklärt, verstößt gegen die Pflicht, die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren (c. 209 § 1 CIC) und seinen finanziellen Beitrag zu leisten, dass die Kirche ihre Sendung erfüllen kann (c. 222 § 1 CIC i.V.m. 1263 CIC).

Wer austritt, wird – auch das wird die Mehrheit nicht unbedingt stören – von allen Ämtern ausgeschlossen, ebenso von den Sakramenten und er muss mit Schwierigkeiten rechnen, wenn er kirchlich heiraten will oder bestattet werden soll. Im letzteren Fall leiden freilich eher die Hinterbliebenen. O-Ton des pastoralen Serienbriefs: „Ebenso kann Ihnen, falls Sie nicht vor dem Tod irgendein Zeichen der Reue gezeigt haben, das kirchliche Begräbnis verweigert werden.“

Ob Menschen, die – aus welchem Grund auch immer – mit der Institution Kirche nichts anfangen können oder wollen, sich davon umstimmen lassen, dass man im Behördentonfall und paragraphenbewehrt schreibt? Dass ein Verwaltungsangestellter in irgendeiner Amtsstube solche Sätze schreibt, wäre bedauerlich. Dass jedoch die Bischöfe selbst diesen Ton anschlagen (lassen), macht es noch brisanter, zumal das Verhältnis zwischen Basis und katholischer Hierarchie derzeit ja alles andere als unkompliziert ist.

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Drei Sätze über die Freiheit

Im Zuge der Diskussion um (auflagensteigernde) Mohammed-Karikaturen und einen nicht etwa islamkritischen, sondern doch eher den Islam diffamierenden Film wird immer wieder über die Grenzen von Freiheit diskutiert. Ich frage mich, ob das überhaupt der richtige Ansatz ist.

Drei Sätze paulinischer Ethik deuten in eine andere Richtung:

Erstens: Es ist alles, erlaubt, aber es nützt nicht alles (1.Kor 6,12). Es gibt einen eher pubertären Umgang mit Freiheit, der darin besteht, ständig an deren Grenzen zu gehen. Ständige Provokation, die testet, wie weit man gehen kann, bis eine Autorität einschreitet oder ein anderer zurückschlägt. Wer aber ständig an den Grenzen operiert, ist sich seiner Freiheit nicht sicher, ähnlich wie ein Staat, der ständig alle Truppen an den Grenzen patrouillieren lässt. Wir „haben“ unsere Presse- und Meinungsfreiheit noch gar nicht richtig, wenn wir sie ins Extrem ausreizen müssen und dabei in Kauf nehmen, andere zu verletzen, sprich: Beziehungen zu beschädigen, weil wir lieber Prinzipien reiten.

Ken Wilber hat das mit dem Stichwort „Boomeritis“ bezeichnet: Da versteckt sich narzisstisches, egozentrisches Denken hinter emanzipatorischen Begriffen und Posen. Nichts ins Extrem zu gehen ist nicht etwa der Verzicht, sondern der Gebrauch von Freiheit. Auf Empfindsamkeit anderer zu achten, ist nicht Schwäche und Einknicken vor deren (unsouveränen) Drohgebärden, sondern Stärke. Freiheit zu gebrauchen bedeutet, auch sich selbst gegenüber die Freiheit zu haben, sich zurückzunehmen. Das ungefähr dürfte Paulus meinen, wenn er – zweitens – in Galater 5,13 schreibt: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch.“ Freiheit bedeutet, genug Distanz zu sich selbst zu haben, um solchen Reflexen, so verständlich sie manchmal sein mögen, nicht nachzugeben. Das wäre ein erwachsener Umgang mit Freiheit.

Drittens schreibt Paulus 1Kor 8,9: „Doch gebt Acht, dass diese eure Freiheit nicht den Schwachen zum Anstoß wird.“ Nicht weil die „Schwachen“ Recht hätten, nicht aus Furcht, sondern weil sie für manche Denkprozesse Zeit und Geduld brauchen. Wer den Bogen überspannt, mag formal Recht behalten, er verliert aber den anderen.

Freilich haben sowohl Jesus als auch Paulus provoziert mit ihrer Verkündigung. Aber zugleich sind beide immer einen Schritt auf die „anderen“ zu gegangen und sich das (nicht die Kritik, sondern die Beziehung) viel kosten lassen. Sie konnten ihrem Gegenüber einen Spiegel vorhalten, und das konnte durchaus schmerzhaft sein. Jesu Gleichnisse überlassen es den Hörern, wo sie sich wiederfinden wollen, und sie sind frei von aller Häme.

Es darf keine Diktatur der Schwachen geben. Man muss ab und zu die Regeln brechen. Man darf nicht in Ehrfurcht erstarren vor jeder heiligen Kuh. Aber vermutlich kann das nur der richtig, der (und das wäre jetzt meine vierte Paulus-Referenz, der „Bonus“ sozusagen) insofern ein „gebrochenes“ Verhältnis zu sich selbst hat, als er „mit Christus gekreuzigt“ ist und aus dieser Verbindung heraus „im Glauben“ lebt – im gelassenen Vertrauen darauf, dass er Gott die Durchsetzung des eigenen Rechts überlassen kann, selbst wenn das etwas länger dauern sollte. Die großen Heiligen der christlichen Kirche hatten dieses Geheimnis verstanden und vielleicht deshalb schon zu Lebzeiten mehr bewirkt als viele andere. Vielleicht kann man sogar sagen: Das Kreuz ist das Zentrum der Freiheit.

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Beschämende Bestandsaufnahme

Die SZ nimmt sich den Armutsbericht der Bundesregierung vor. Während dem Staat immer mehr das Geld ausgeht (auch weil er für private Verluste haftet, und zwar nicht die der Geringverdiener…), besitzen die zehn Prozent der Reichen die Hälfte allen Privatvermögens, die 50% am unteren Ende der Einkommensskala teilen sich ein Prozent vom Kuchen.

Dazu passt die Nachricht vom neuesten Bock, den Mitt Romney schon wieder geschossen hat, wiederum blendend. Der erwartet sich von den 47% der US-Amerikanern nichts, die angeblich keine Einkommensteuer zahlen, und sagt das auch ganz direkt und „unelegant“ vor potenten Geldgebern. Es scheint ziemlich riskant zu sein, den Mann frei reden zu lassen – dann sagt er offenbar, was er denkt: dass nämlich knapp die Hälfte seiner Mitbürger der irrigen Ansicht sei, sie hätten Anspruch auf Essen, medizinische Versorgung und ein Dach über dem Kopf, dass sie keine Verantwortung für sich selbst übernehmen, sondern das alles dem Staat und Obama überlassen.

Hoffen wir also, dass ein signifikanter Teil der verbleibenden 53% der US-Bürger Romney seine Verachtung der Armen übel genug nimmt, um ihm im November die Stimme zu verweigern. In Deutschland ist erst nächstes Jahr wieder Wahl, und die Arroganz des Geldadels ist ja durchaus ein transatlantisches Phänomen.

Soll heißen: Um das alte Reizwort der „Umverteilung“ wird man dabei wohl nicht herumkommen. Sie existiert seit langem, nur verläuft sie eben, scheinbar von selbst, ganz einseitig in die falsche Richtung. Immer noch anzunehmen, das sei im Wesentlichen ein Resultat individueller Leistung, scheint inzwischen reichlich absurd. Im Kommentar von Heribert Prantl steht dazu:

Der Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes ist keine Jugendsünde der Bundesrepublik. Dieser Artikel ist auch kein sozialistischer Restposten. Er ist das vergessene Fundament des deutschen Sozialstaates. Er ist von erhabener Kargheit: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“

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Gib dem Affen Zucker(wasser)

Da haben sich die richtigen gefunden: Der Hersteller des ebenso klebrigen wie ungesunden Softdrinks „Dr. Pepper“ wirbt mit einer Evolutionsgrafik – und US-Kreationisten beweisen mit ihrer reflexartigen Empörung, dass zumindest die Evolution des Humors an ihnen komplett vorbei gegangen ist.

Es gibt viele gute Gründe für einen Homo Sapiens, das Zeug nicht zu trinken. Dass die Firma einfältigen Gemütern suggerieren will, ihr Stoff mache den Konsumenten erst zum Menschen, ist dabei kaum der wichtigste. Zur Evolution von Karies und Übergewicht hingegen dürfte er nachweislich beitragen.

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Der „biblische Befund“

Immer wieder begegnet mir in theologischen Diskussionen der Ausdruck „biblischer Befund“ und je länger, je mehr wächst mein Unbehagen. Freilich könnte damit nur gemeint sein: Wir schauen mal, was für Aussagen sich zu diesem oder jenem Thema in der Bibel finden, und dann sucht man nach bestimmten Begriffen oder Themen und diskutiert sie fröhlich.

Doch der Ausdruck „Befund“ klingt so technisch, als ob der Zahnarzt dem Patienten zur Kontrolle in den Mund schaut oder der Hausarzt ein Blutbild auswertet. Mit einem Befund lassen sich bestimmte Feststellungen treffen. Und das ist durchaus auch meistens die Absicht derer, die biblische Befunde erheben: Feststellungen zu treffen, die den Status von Fakten haben. Denn Fakten lassen sich nicht bestreiten.

Nun haben wir es in der Bibel nicht mit Zähnen und Bakterien zu tun, sondern mit Texten, die eine lange Geschichte hatten, in deren Verlauf sie irgendwann aufgeschrieben, aufeinander bezogen, gesammelt, später immer wieder gelesen und ausgelegt wurden. Sie lassen sich nicht in derselben Klarheit und Eindeutigkeit „lesen“ wie ärztliche „Befunde“ (und selbst die führen ja keineswegs immer zu klaren und eindeutigen Handlungsanweisungen).

Meine Befürchtung ist, dass jemand, der vom „biblischen Befund“ redet, die Bibel und unser Verhältnis zu ihr nicht als lebendigen Prozess versteht, sondern sie als eine Sammlung je für sich existierender, atomisierter und zeitloser Wahrheiten betrachtet, die sich im Baukastensystemen per Stichwortsuche kombinieren lassen und auf deren Fundament man dann dergestalt unverrückbar Position bezieht, dass man allen anderen objektiv bescheinigt, die reine biblische Lehre verlassen zu haben. Solche Konkordanzkrämereien behandeln die Schrift wie eine Rechtssammlung, ihre Vertreter lesen Bibelverse wie Paragraphen und werfen ständig mit „Belegstellen“ um sich.

Die Frage nach dem „Befund“ lenkt die Aufmerksamkeit unweigerlich auf den Buchstaben der Schrift. Der ist keineswegs unbedeutend, aber wer nichts als den Buchstaben gelten lässt, verpasst am Ende den Geist und den Sinn zwischen den einzelnen Buchstaben und Wörtern. In den muss man sich aber oft genug geduldig vertiefen oder schrittweise hineinnehmen lassen. Und jede neue Erkenntnis wirft umgehend neue Fragen auf.

Wir haben ja in unseren politischen Diskussionen durchaus ein Gespür dafür, dass Gerechtigkeit und Gesetzeskonformität nicht immer dasselbe sind (auch wenn wir das womöglich an recht unterschiedlichen Stellen empört einklagen). Mit dem „biblischen Befund“ ist es noch ein wenig komplizierter, weil dieses ebenso sperrige wie faszinierende Buch so vielfältig ist.

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Glück ist überbewertet

Diese Tage stieß ich auf einen Gastbeitrag des Philosophen Wilhelm Schmid in der SZ, wo er sich kritisch mit dem Streben nach Glück auseinandersetzt, mit den Aufklärern Bentham und Locke, deren Maximen nun auch im „glückverspäteten“ (tolles Wort!) Deutschland die Ära von Pflicht und Tugend abgelöst haben. Er passt auch gut zu diesem Post von letzter Woche über die Problematik vermeintlich „negativer“ Gefühle.

Schmid bricht eine Lanze für die Melancholie, und er macht das gut, so weit das in dieser Kürze geht, finde ich. Hier ein paar Sätze aus seinem Plädoyer:

Glück an sich ist kein erstrebenswertes Ziel. Es ist schön, wenn es uns gelegentlich berührt wie ein Hauch. Aber wenn es zu lange anhält, macht es träge – und wir richten uns in einer Zufriedenheit ein, die uns auf Dauer nicht guttut.

Das Andere des Glücks, manchmal auch das andere Glück, ist das Unglücklichsein. Seine am meisten verbreitete Form ist die Melancholie. Das ist kein krankhafter Zustand, sondern eine Art und Weise des menschlichen Seins, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört. Melancholie – das ist ein Zustand von übergroßer Sensibilität, mit sehr bewegten Gefühlen und Gedanken. Melancholie ist die Seinsweise einer Seele, die schmerzen und sich ängstigen kann.

Melancholiker denken über alles nach, daher sind seit jeher so viele Philosophen und Künstler unter ihnen zu finden. Gerade ihr tragisches Bewusstsein entspricht dem Leben womöglich mehr als jede törichte Leugnung von Tragik.

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Ganz, ganz authentisch…

Das Thema „Authentizität“ (vor allem die Forderung nach derselben) hat mich ja schon verschiedentlich beschäftigt. Wasser auf meine Mühlen goss diese Woche Harald Schmidt in diesem Interview mit der Zeit:

Technisch sehr gut in der Ausführung kann man Authentizität beim Bundespräsidenten Gauck beobachten, der ja sogar die echte Träne vorführt. Ich habe gesehen, wie er aus seiner Autobiografie vorgelesen hat, und er musste darüber weinen. Das waren schon zwei Etagen der Kunstfertigkeit, eine Autobiografie zu schreiben, öffentlich daraus vorzulesen und dann noch darüber zu weinen – da hat das deutsche Stadttheater Schwierigkeiten mitzuhalten.

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Gott und die Sinnlichkeit, oder: die Polyphonie des Lebens

Immer wieder gibt es Stimmen, die die Liebe zu Gott und die irdische Liebe als Konkurrenten darstellen. Dahinter steckt wohl die Unfähigkeit, mit Spannungen, Ambivalenzen und Polaritäten umzugehen. Stattdessen denkt und fühlt dann jemand primär in sich ausschließenden Gegensätzen und einem starr hierarchischen Oben und Unten der Prioritäten. Mit einer Metapher aus der Musik zeigt Dietrich Bonhoeffer, wie unnötig und problematisch diese binäre Logik ist:

„Es ist nun aber die Gefahr in aller starken Liebe, dass man über ihr – ich möchte sagen: die Polyphonie des Lebens verliert. Ich meine dies: Gott und seine Ewigkeit will von ganzem Herzen geliebt sein, nicht so, dass darunter irdische Liebe beeinträchtigt und geschwächt würde, aber gewissermaßen als Cantus firmus, zu dem die anderen Stimmen des Lebens als Kontrapunkte erklingen; eines dieser kontrapunktischen Themen, die ihre volle Selbständigkeit haben, aber doch auf den Cantus firmus bezogen sind, ist die irdische Liebe und auch in der Bibel steht ja das Hohe Lied und es ist wirklich keine heißere, sinnlichere, glühendere Liebe denkbar, als die, von der dort gesprochen wird (cf. 7,6!); es ist wirklich gut, dass es in der Bibel steht, all denen gegenüber, die das Christliche in der Temperierung der Leidenschaften sehen (wo gibt es eine solche Temperierung überhaupt im Alten Testament?). Wo der Cantus firmus klar und deutlich ist, kann der Kontrapunkt sich so gewaltig entfalten wie nur möglich.“ (DBW Bd. 8, 440f.)

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Das Fleisch ward Wort (oder: die Tragik der Reformation)

(Achtung – erhöhter Schwierigkeitsgrad…)

Iain McGilchrist unterzieht in The Master and His Emissary die Kirchen der Reformation einer radikalen Kritik. In großen Teilen seiner Argumentation stützt er sich auf eine Arbeit von Joseph Koerner, The Reformation of the Image. Körner analysiert die Veränderungen, die durch die Reformation in der sakralen Kunst ausgelöst wurden. McGilchrist interessiert das, weil man daraus Rückschlüsse ziehen kann, ob rechte und linke Hemisphäre des Gehirns in einer gesunden Balance arbeiten oder ob die Linke Gehirnhälfte sich ungut verselbständigt. Ich gebe das im Folgenden erst einmal wieder, wir können dann in Ruhe diskutieren, wie plausibel die Darstellung uns erscheint:

Luthers ursprüngliches Anliegen war es, sagt McGilchrist, wieder zu einem authentischen Glauben zurückzukehren, der nicht auf formalen Autoritäten, sondern lebendiger Erfahrung beruht. Insofern war er ein typischer Mensch der Renaissance. Das innere und das äußere Leben, Sichtbares und Unsichtbares, gehörten für ihn zusammen. Aber seine Nachfolger, zumal Zwingli und Calvin, werteten die materiellen Dinge (mithin das Konkrete und Persönliche) gegenüber dem Geistigen (d.h. dem Allgemeinen) massiv ab – ein klares Indiz für eine „Überfunktion“ der linken Hemisphäre. Im Äußeren verkörpern sich keine geistigen Dinge mehr, es ist ein rein formaler Signifikant, ein abstrakter Hinweis auf eine Sache, die sich woanders befindet (wie ein Straßenschild, das nichts über die Stadt aussagt, auf die es verweist).

Die Reformation ist insofern modern, als sie der erste große Aufbruch zur Gewissheit ist. Schleiermacher hatte schon darauf hingewiesen, dass Reformation wie Aufklärung alles Geheimnisvolle und Wunderbare ächten und die Phantasie von Trugbildern reinigen wollten. Bilder und Metaphern, in denen die rechte Hemisphäre unseres Gehirns kommuniziert, wurden wegen fehlender Eindeutigkeit als störend abgetan. In der Polemik gegen Bilder wurde dann den anderen unterstellt, dass sie die Abbildungen als Götzen verehrten, obwohl doch allen klar war, dass Gott nicht identisch mit einer Ikone oder Statue ist, sondern bestenfalls im Raum zwischen dem Symbol und dem Betrachter gegenwärtig war. Man ließ nur die schroff binäre Alternative gelten, dass eine Statue entweder bloß ein Stück Holz war oder ein Götze.

Luthers Nachfahren hielten sich an das geschriebene Wort (hier kam Gutenbergs technische Revolution, die Schriften in jedes Haus lieferte, verstärkend ins Spiel), das Explizite verdrängte das Implizite und metaphorische. Schön zeigt sich das Dilemma im Abendmahlsstreit. Dort brechen die Reformierten mit der (ihrer Ansicht nach: magischen) Auffassung, dass Gott in den Symbolen Brot und Wein (und, das gehörte ja dazu zugleich im umfassenden Kontext der Messe von glaubender Gemeinde und überlieferter Liturgie) gegenwärtig sein kann, und deuten die den Sinnen zugänglichen Elemente als bloße Zeichen einer von ihnen weit entfernten und prinzipiell unabhängigen Wirklichkeit. Sakramente vermitteln nun Information, sie haben nur eine Bedeutung, aber keine Substanz mehr, denn sie stehen für einen Inhalt, der jenseits aller Form ist und daher potenziell jede Form annehmen kann. In der Tat ist die Ansicht, man könne zwischen Form und Inhalt trennen, eine der fatalsten Folgen der Reformation.

Damit, sagt McGilchrist, nimmt die Reformation „die hermetische Selbstreflexivität des Postmodernismus“ vorweg. Bilder verweisen nur noch auf sich selbst, sie sind nicht mehr transparent auf eine tiefere Wirklichkeit, etwas anderes: aus dem Protest gegen leere Strukturen ist selbst eine Struktur geworden, die keinen Inhalt mehr braucht. Entsprechend kommen Bilderrahmen mit dicken Textunterschriften in Mode, um das Gezeigte zu objektivieren. Das Geschriebene Wort erhält dinglichen Status, und damit es seine Wirkung nicht verfehlt, wird es endlos wiederholt. Weil das einen mechanischen Charakter annimmt, wird das Wort schließlich selbst zu einer Art Talisman mit magischer Qualität, kurz: zum Götzen. Das Motiv hier ist die Kontrolle:

Die Machthungrigen sind immer darauf aus, intuitives Verständnis durch explizites zu ersetzen. […] daher haben die Calvinisten eine Ausradierung der Vergangenheit unternommen, die die Vernichtung all dessen einschließt, was die Erinnerung daran nährt, wie die Dinge einst waren – eine Art Rote Revolution, ‚die nichts in den Kirchen lässt, an was man sich noch erinnern könnte.‘

Im Blick auf das Sakrament bedeutet dieser Eindeutigkeitswahn der protestantischen Orthodoxie, dass eine Art leibfeindlicher Manichäismus entsteht. Das Element verkörpert nicht mehr den Leib Christi es weist nur auf ihn hin, denn das Fleisch ist unnütz, nur der Geist zählt. Jener ist vergänglich, das Wort hingegen zeitlos und damit gottähnlich. Daher ist die einzig wahre Kirche auch die unsichtbare Kirche, die an keinem konkreten Ort mehr zu finden ist. Im Prinzip ist nun alles heilig, praktisch aber ist nichts mehr wirklich heilig, denn die Worte entfernen sich so weit von aller erfahrbaren Wirklichkeit, dass sie nichts mehr auslösen.

Die rechte Hemisphäre kann sowohl das Ganze sehen (und nicht nur ein Aggregat von Einzelteilen), sie sieht aber auch das konkrete und Einzigartige, während die linke nur das Allgemeine und Generelle erkennt. In der Schöpfungsgeschichte scheidet Gott die Dinge, sie werden individuell und besonders. Der Hang zum (All-)Gemeinen hingegen macht aus einem lebendigen, veränderlichen und beweglichen Gegenüber ein totes, starres Objekt.

Und so befördert, sagt McGilchrist unter Verweis auf Max Weber, der Protestantismus nicht nur den Kapitalismus, besonders durch seine starke Betonung der Handlungsfähigkeit Einzelner, sondern auch die Bürokratie der Obrigkeit, etwa bei den Lutheranern in Deutschland. Wo vor allem die Handlungsfähigkeit des Einzelnen im Blick ist, da geht es um Selbstschutz, Selbstbehauptung und Selbsterweiterung und somit auch Entfremdung, Isolation und Einsamkeit, bei Protestanten und Kapitalisten. Daher ist der Kapitalismus auch traditionsfeindlich, denn Traditionen verkörpern die Weisheit früherer Generationen, die sich zwar organisch wandeln, aber abstrakten Neuentwürfen erst einmal im Wege stehen.

Nachdem die Reformatoren sich der Macht von Kirchenfürsten und deren Monopolisierung des Heiligen entzogen hatten, trugen sie diese Macht dem Staat an und verliehen den staatlichen Institutionen eine quasireligiöse Aura. Die obrigkeitliche Kontrollmentalität verrät beispielsweise der Kirchenbau: die erhöhte Position der Kanzeln, gelegentlich (als Erlanger kennt man das bestens von den sogenannten „Markrafenaltären“) sogar in den Altar integriert, um von dort die moralischen Ordnungen an die Untertanen im Kirchengestühl zu vermitteln. Und in den reformierten Kirchen herrschte eine große Vorliebe für streng symmetrische Bankreihen – diese starre Ordnung ist vermittelt ein völlig anderes Grundgefühl als das Stehen in einer unordentlichen, nie völlig still stehenden Menge, das in den Kirchenräumen vor der Reformation normal war.

Der eigene „demokratische“ Anspruch wird durch die Sitzordnung schon wieder konterkariert, denn schnell wurde die Vergabe der besten Sitzplätze (und damit die Demonstration des eigenen sozialen Status) zum einträglichen Geschäft. (N.B.: Die Wikipedia verrät zum Thema Kirchenstühle und soziale Ordnung zum Beispiel dies: „In den streng protestantischen Gebieten Württembergs war es teilweise bis zur Wende zum 20. Jahrhundert üblich, Frauen, die uneheliche Kinder erwarteten, in der Kirche auf einem separaten Platz, dem sogenannten Hurenstuhl, auszustellen.“)

Freilich, sagt McGilchrist, war der Protestantismus immer sehr vielschichtig. Gemeinsam ist den verschiedenen Richtungen jedoch

  • die ausgeprägte Präferenz für Klarheit und Gewissheit statt Offenheit und Ambivalenz
  • die Präferenz für das Einzelne, Bestimmte, Statische und Systematische (statt für das Fließende, Vielfältige, Bewegliche und Kontingente)
  • die Bevorzugung des Wortes gegenüber dem Bild, des strikten Wortsinns gegenüber der Metapher
  • die Neigung zur Abstraktion und Abwertung des Natürlichen (bzw. besonders bei den Puritanern des sinnlich-Ästhetischen)
  • der stete Verweis auf verschriftlichte Sprache und ständige Querverweise zwischen Schriften, statt dass implizit zwischen den Worten noch etwas anderes, Unaussprechliches wahrgenommen und als gegenwärtig erfahren wird (Abraham Heschel würde vielleicht sagen: Der Sinn dafür, dass die Welt eine große Anspielung auf das Geheimnis Gottes ist, ging verloren).
  • das grundsätzliche Misstrauen gegen die Weisheit von Traditionen und der rationalistische Angriff auf alles „Heilige“ (Räume, Zeiten, Menschen, Rituale etc.)

Das Tor zur Aufklärung war damit also längst weit aufgestoßen, die Saat der Selbstsäkularisierung ausgestreut, und McGilchrists bitteres Fazit zu diesem Abschnitt lautet:

In essence the cardinal tenet of Christianity – the Word is made Flesh – becomes reversed, and the Flesh is made Word.

Ein paar Anmerkungen meinerseits:

Wenn McGilchrist, Weber und Körner Recht haben, dann wäre auch sofort nachvollziehbar, warum sich schon bald auch unter Protestanten wieder mystische Strömungen bildeten, etwa Johann Arndt (1555-1621), der sich, wie später auch Spener (sicher kein Zufall!) auf Luthers eigentliche reformatorische Intentionen berief.

Äußerst spannend finde ich, dass für McGilchrist gerade neopuritanische Bewegungen in ihrer Fixierung auf das Absolute, auf Gewissheit und Eindeutigkeit, das Explizite und Buchstäbliche und dem tiefen Misstrauen gegen alles Natürliche enge geistige Verwandte des verhassten Postmodernismus sind, der in bestimmten Spielarten zur völligen Virtualisierung neigt und der Auflösung der Beziehung von Signifikant und Signifikat.

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