Wie natürlich ist »natürlich«?

„Natürlich“ ist ein recht dehnbarer Begriff, das wissen wir alle aus der Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion. Ich bereite mich gerade auf ein Treffen mit natürlichen Gemeindeentwicklern vor und habe dazu die deutsche NGE Website betrachtet, um zu verstehen, in welchen Kontext hinein ich auf die Fragen aus dem letzten Post antworten soll.

Das „Natürliche“ daran ist, dass die Metapher des Körpers verwendet wird. Nicht die des Leibes – den Unterschied habe ich letzte Woche hier beleuchtet. Und so kommt der Körper dort in Teile gegliedert und funktional aufgeschlüsselt daher. Ebenso könnte man auch jede Maschine beschreiben, oder einen Goldhamster, oder ein Krokodil: Muskeln, Blut, Herz, Augen, Hände (ok, hier ist das Krokodil im Nachteil). Auf die lebendige Einheit des ganzen – auf die gewachsene, unverwechselbare Persönlichkeit einzelner Gemeinden oder ganzer Kirchen – verweist zumindest die Startseite nicht.

Dazu passt ganz gut, dass unter den drei Charakteristika des Konzepts zwei Schlüsselbegriffe moderner Naturwissenschaft firmieren: „Prinzipienorientiert“ und „empirisch“. Die Prinzipen – Descartes hätte seine helle Freude an dem Projekt – sind „unabhängig von Kultur und Theologie einer Gemeinde“. Anders gesagt: sie blenden jeglichen geschichtlich-sozialen Kontext aus und erheben einen universalen Geltungsanspruch. Und auch der dritte Oberbegriff, „trinitarisch“, erscheint funktional und farbcodiert. Ist das nur notwendige pädagogische Methodik oder hat sich hier das Virus eines anwendungsorientierten Reduktionismus ausgebreitet?

Die Sprache und Begrifflichkeit weist die NGE nun also doch als ein eminent kulturgebundenes Projekt aus – ein typisches Kind der Moderne. Wachstum erscheint weniger als Geheimnis oder gar Geschenk, seine Faktoren sind entschlüsselt und mit der richtigen Technik (das Bild von der „Minimumtonne“ ist ja mechanistisches Denken par excellence) ist das dann auch zu beheben. Während bei Paulus die Pneumatologie, das Reden vom Heiligen Geist als gestaltender Kraft, der Ort ist, an dem die Gemeinde als „Leib“ in den Blick kommt, werden hier die Leiter und Berater zu den Akteuren. Müsste man sie jedoch nicht, fragt der Postmoderne, eher als Teil des Problems beschreiben – nicht mehr als andere, aber eben auch nicht weniger?

Nun gut, es ist in der Botanik ja zweifellos so, dass es Zusammenhänge von Ursache und Wirkung gibt. Und freilich ist eine Gruppe von Menschen, eine Organisation (auch wenn viele das Wort scheuen und nur von „Organismus“ reden wollen) eben doch etwas anderes als ein Pflänzchen. Aber passt dieses Verständnis von „natürlich“, das die Frage der Umwelt (sprich: Geschichte, Gesellschaft, Ort und Kultur) für mindestens zweitrangig, wenn nicht vernachlässigbar hält, nicht eher in ein Gewächshaus als in ein lebendiges, sich wandelndes Ökosystem unter freiem Himmel, zumal in Zeiten des nicht nur meteorologischen Klimawandels?

Also bin ich gespannt, was die NGE-Crew erzählt und ob der Eindruck, den die Website vermittelt, sich vielleicht auch wieder völlig relativiert, wenn man mit den Leuten intensiver redet.

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Die Kleinen sind die wahren Sünder

Elektroautos, berichtet die taz, tragen kaum zu einer Reduktion der Treibhausgase bei, so lange sich unser Strommix nicht parallel gravierend ändert. Wesentlich effektiver wäre es, wenn die Verbrennungsmotoren sparsamer würden. Prinzipiell wäre das kein Problem, die Autoindustrie müsste „nur“ populäre Fehlentwicklungen wie Geländewagen einstellen. In Golfstaaten wie Niedersachsen gewiss eine Zumutung.

Dennoch: Die Tiguans, X3, Q5, Kugas und wie sie noch heißen, sind nicht nur ein Designverbrechen und Symbol des „Eskapismus“ der Stadtbewohner, die sich die automobile Illusion von Freiheit und Weite in die Garage stellen, wie jüngst der Designer Paolo Tumminelli sagte, sondern auch ein massives Umweltproblem:

Wenn zehntausend Menschen statt einer dicken Limousine – etwa anstelle eines 7er BMW – einen dicken Porsche Cayenne kaufen, ist der Schaden für die Umwelt noch überschaubar. Anders ist das aber, wenn Millionen Menschen statt eines Golfs einen Tiguan anschaffen, dessen höhere CO2- und Verbrauchswerte in keinem Verhältnis zum Nutzungswert stehen. Relativ gesehen machen die großen weniger Sinn als die kleinen, doch absolut gesehen sind erstere die wahren Sünder.

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Fragen, die es in sich haben

Am Mittwoch soll ich in 30 Minuten die folgenden Fragen beantworten:

  • Vor welchen Herausforderungen steht die Gemeinde?
  • Welche Trends und Konzepte helfen, diesen Herausforderungen zu begegnen? Helfen Trends und Konzepte?
  • Welche Werte geraten aktuell ins Blickfeld?
  • Wozu braucht es Gemeinde?

Eine halbe Stunde ist nicht so furchtbar viel Zeit. Ein paar Ideen habe ich natürlich auch schon. Trotzdem: Was müsste da auf jeden Fall vorkommen?

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Schamlos zerredet?

Im Verhältnis zur Musik ist alle Mittheilung durch Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein.

Der Vielschreiber Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887

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Die Tricks der Bedenkenträger

Noch einmal zum Thema von vorgestern: In der Anleitung zum Unglücklichsein berichtet Paul Watzlawick vom Trick einer jüdischen Mutter. Sie schenkte ihrem Sohn zwei Pullis, einen grünen und einen gelben. Beim nächsten Treffen trug der Sohn den grünen. Die Mutter sah ihn an und sagte: „Schade, der gelbe hat dir also nicht gefallen?“

Wenn jemand eine neue Idee hat oder etwas Neues starten möchte, lassen ihn die Bedenkenträger gern in dieselbe Falle tappen. Die funktioniert in diesem Fall so:

„Du denkst also, dass das, was wir machen [oder wie wir es machen] schlecht [falsch, überholt, minderwertig] ist?“

„Äh nein, warum, ich wollte doch nur etwas Neues ausprobieren, es halt mal anders versuchen.“

„Wenn es nicht besser ist, warum sollten wir es dann machen?“

Schwupp – schon kann man wieder zur Tagesordnung übergehen, und alles wieder so machen, wie man es schon immer gemacht hat.

Es sei denn, jemand fragt sofort zurück, bevor die Falle zuschnappt, ob die Frage auf die Ansicht schließen lässt, dass der Status Quo schon das Ideal ist, oder ob der Fragesteller sagen möchte, dass es niemand besser machen kann als er. Denn in der Regel läuft genau diese Projektion ab: Wir machen es so, weil es nur so richtig ist. Wer etwas anderes will, denkt zwangsläufig, dass wir im Unrecht sind. Wenn jemand das Richtige für falsch erklären (d.h. etwas anders machen) darf, dann ist er eine Bedrohung. Es ist das öde Denkmuster von Konkurrenz und Ausschluss.

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Warum „Leib“ und „Körper“ nicht dasselbe sind

Den Abschluss von inno2012 bildete am Mittwoch die Feier des Abendmahls. Die ganze Sache ist mir aus zwei Gründen noch etwas nachgegangen, und da sie zusammenhängen, komme ich hier darauf zurück: Das erste, was mir ganz unvermittelt aufstieß, waren die Einsetzungsworte in der Übersetzung von „das Buch“. Statt „Leib“ heißt es dort „Körper“. Nun ist es zweifellos so, dass „Leib“ im Deutschen allmählich antiquiert klingt, aber praktisch jeder versteht das Wort ja noch (etwa wenn ich jemanden anfahre, er soll „mir vom Leib bleiben“).

Warum ist das wichtig? Früher war es so, dass Leib sich auf den lebenden Menschen bezog und Körper tendenziell auf ein totes Objekt – in Physik und Geometrie gilt das ja nach wie vor. „Körper“ ist technischer – wir können von „Körperfunktionen“ reden, aber wir sagen nicht „Leibfunktionen“ – der Leib ist etwas Ganzes, das wir nicht in Teilaspekte zerlegen. Rückt mir jemand auf den Leib, dann tritt er mir als Person zu nahe, die „Seele“ oder das Selbst ist in dem Gesamtpaket gleich mitgedacht: der „Leib“ ist ein „beseelter Körper“, und statt der stofflichen dominiert die sinnliche Seite.

Sollte uns diese Unterscheidung verloren gehen und „Körper“ der einzige gebräuchliche Begriff werden, dann würde unsere Sprache – auch die gottesdienstliche Sprache – verarmen. Hier scheint es mir in der Bibelübersetzung voreilig und ohne Not aufgegeben und die Folge ist eine schlagartige Verflachung des Satzes. Flacher würde es ebenso, wenn wir in 1.Korinther 12 Leib durch „Körper“ ersetzen: Der Objektcharakter würde stärker werden, die Sprache wird weiter verdinglicht und das, was eigentlich beim Abendmahl wie im Blick auf die Einheit der Gemeinde ausgesagt werden soll, nämlich das Ganze und Lebendige, das Sein in Beziehung, das im-Fluss-Sein und in-Bewegung-Sein, geht dabei immer mehr verloren. Die Metapher „Leib Christi“ würde dann zum funktionalen Organigramm, das weniger einem lebendigen Organismus nachempfunden ist, sondern eher an eine Maschine erinnert. Die sprachliche „Modernisierung“ führt hier zu einer inhaltlichen Banalisierung.

Ganz passend dazu fiel dann zweitens die „Austeilung“ aus, die keine war: „Oblaten“ (so die prosaische Ansage – der Begriff Hostie scheint unbekannt gewesen zu sein) und Saft in Plastikstamperln lagen auf Tischen aus: Eine Art „Take-Away-Abendmahl“, bei dem einem niemand mehr die Elemente mit einem Zuspruch reicht, sondern man sie sich selbst wortlos nimmt – und wieder derselbe Effekt: Das Ganze wird verdinglicht, alles ist schon säuberlich und steril portioniert, keine Berührung mit der Hand, dem Blick und der Stimme anderer mehr nötig. Die Teilnehmer machten das wett (oder versuchten es), indem sie sich in Gruppen zusammenstellten und nach dem Verzehr von Oblate und Saft gemeinsam beteten. Je nachdem werden sich viele an das Gebet auch gern erinnern. Aber ob das für die Begegnung mit dem lebendigen Christus in den merkwürdig leblosen Elementen auch gilt?

Ich habe eine Weile gezögert und bin dann nicht hingegangen, um mir etwas vom Tisch zu nehmen. Manch einer denkt jetzt bestimmt pragmatisch: Es gibt viele Wege, Abendmahl zu feiern, muss man da so pingelig und empfindlich sein? Ich war es und bin es bis auf Weiteres auch noch. Am Mittwoch Abend fiel mir wieder auf, wie viel tiefen Sinn die Worte – und sei es nur dieser eine, altbackene Begriff „Leib“ – in sich tragen, und wie sehr das Teilen und Austeilen, das Geben und Empfangen dazu beitragen können, dass wir unseren so unglaublich selbstverständlichen modernen Individualismus, ja drohenden Solipsismus überwinden und uns als Teil eines Ganzen erkennen, dessen Mitte der Gekreuzigte und Auferstandene ist.

Das Verblüffende ist, wie man in manchen neuen Bewegungen gleichzeitig ganz viel von Beziehung und Gemeinschaft reden und das Ganze dann (ungewollt, denke ich) sprachlich-symbolisch komplett konterkarieren kann. Passiert uns das an anderen Stellen auch, ohne dass wir es merken?

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Cooler Song

Ich weiß, Kontext ist alles, aber die erste Zeile dieses Liedes ließ erst einmal ganz ungewohnte Bilder in meinem Kopf ablaufen:

Komm, brich ein durch das Eis

Vielleicht klingt es im Sommer weniger riskant. Wobei, noch etwas weiter assoziiert, Gott als „Einbrecher“ ja schon wieder ein eminent biblisches Motiv wäre 🙂

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An den Karren fahren

Gestern endete inno2012 mit der Frage, wie versöhnt Innovatoren und „Bewahrer“ sein können, wie viel Konflikt nötig und konstruktiv ist (das ob war nicht die Frage) und wie Schaden (den ja nicht einfach nur die einen verursachen und die anderen erleiden) vielleicht auch wieder repariert und geheilt werden kann.

Mich hat das an einen anderen Kongress vor vielen Jahren erinnert. Ich hatte dort auf einem ähnlichen Podium eine Aussage in Frage gestellt, die einer der Hauptreferenten (damals schon eine Vaterfigur mit Baritonstimme und wallend silbernem Haupthaar) gemacht hatte.

Nach der Veranstaltung kam einer der Organisatoren, ein schwäbischer Unternehmer, ziemlich aufgebracht auf mich zu und stauchte mich zusammen, weil ich dem Patriarchen „an den Karren gefahren“ sei.

Ich ging beim Abschied also (obwohl ich meinen Kommentar immer noch richtig fand) auf den Patriarchen zu und erklärte zerknirscht, es habe mir völlig fern gelegen, ihm an den Karren zu fahren. Worauf der nur freundlich antwortete: „Du darfst mir jederzeit an den Karren fahren.“

Ich habe mich mehr als einmal daran erinnert, wenn ich anderen oder andere mir an den Karren gefahren sind. Gott sei Dank für solche Patriarchen…!

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Ikone mit Kratzern

Ein Bericht in der Zeit lässt die Theologenwelt aufhorchen: Otto Michel, bekannter Neutestamentler und Professor für Judaistik in Tübingen, war Mitglied der NSDAP und zweitweise auch in der SA, hatte das aber zeitlebens verschwiegen. Das wäre vielleicht kaum der Erwähnung wert, wenn Michel nicht nach dem Krieg das Image des Widerstandskämpfers gepflegt hätte und darüber auch seine guten Kontakte zu bekannten jüdischen Denkern.

Neben dieser „Lebenslüge“ beleuchtet der Artikel auch den Einfluss der Nazis an der Uni in Tübingen und auch noch einmal die Rolle von Gerhard Kittel im dritten Reich. Michel hat sich nach 1945 von dem Antisemiten Kittel deutlich abgesetzt und sich für eine Rückkehr zum „jüdischen Denken“ ausgesprochen, über die bis heute immer wieder diskutiert wird. Unter anderem wirkte Michel, der aus einem „erwecklichen“ Hintergrund stammte, auch an der Gründung des Bengelhauses in Tübingen mit.

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Wasser und Geist

Im Gottesdienst heute hatten wir zwei Taufen und ich wurde wieder an Johannes 3 erinnert, wo Jesus vom neugeboren werden aus Wasser und Geist spricht. Dass der Geist für uns nicht zu fassen ist, verdeutlicht der folgende Vergleich mit dem Wind. Wasser wirkt etwas konkreter, aber wie ist das wohl gemeint?

Vielleicht kommt man dem so auf die Spur: Das Wasser Leben spendet, daran erinnert schon die Überlieferung, dass im Garten Eden vier Flüsse entspringen. Flüsse verbinden Menschen: Sie sind Wasserwege, auf denen Menschen reisen, Güter transportiert werden, an deren Ufern Landwirtschaft betrieben wird. Manchmal sind sie die Nahtstellen zwischen Ländern und Kulturen. Und auch die Geschichte ist wie ein großer Strom, der sich aus vielen Nebenflüssen speist. Insofern steht Wasser für Leben, Verbindung und Kontinuität.

Zugleich begegnet uns Wasser oft an den Wendepunkten biblischer Geschichte, wo ein Kapitel geschlossen und ein neues aufgeschlagen wird. Ansatzweise bei Noah, wo Gott, freilich mit bescheidenem Erfolg, den urgeschichtlichen Spülknopf drückt (und fortan die Strategie eines Hardware-Reset verwirft; denn als später Jona, selbst nur durch ein Wunder dem Wasser entronnen, auf den finalen Schlag gegen Ninive spekuliert, verrät Gott zartfühlend, dass ihm sogar die Tiere dort leid tun).

Wichtiger dann beim Auszug der Israeliten aus Ägypten und beim Einzug ins verheißene Land. Und nachdem dieses Kapitel 587 zu Ende ist, als die Verbannten trauernd an den Strömen Babels sitzen (Ps 137,1), hat Ezechiel schließlich die Vision eines neuen Paradiesflusses, der aus dem Tempel strömt: Ein Umbruch deutet sich an, der neue und dauerhafte Kontinuität verheißt.

Beides dürfte in der Taufe des Johannes eine Rolle spielen: Die Erwartung des nahen Umbruchs, wenn Gottes Herrschaft in der Welt anbricht, und der Horizont der neuen Schöpfung, in der alle lebensfeindlichen Kräfte überwunden sind.

Wiedergeboren werden „aus Wasser“ bedeutet, so betrachtet, in diesen Fluss des Lebens einzutauchen und sich von ihm kontinuierlich in die Weite tragen zu lassen. Und zugleich wird es uns geschenkt, ein Leben in eben jenem Umbruch von der alten zur neuen Welt zu führen, der im Tod und der Auferstehung Jesu eingesetzt hat. Von alter Schwere und Trägheit befreit hineinzuleben in eine Welt, die bunter und schöner und vielfältiger sein wird, als sie es heute ist.

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Die NeoApokalyptiker

Jörg Lau zitiert in diesem Blogpost über den Konservativismus US-republikanischen Zuschnitts einen interessanten Beitrag von Mark Lilla aus der New York Times. Lilla unterscheidet dort zwei Formen von konservativ-reaktionärem Verhalten auf Umbrüche in Kultur und Gesellschaft, die man als revolutionär und bedrohlich empfindet: Da gib es restaurative Reaktionäre, die das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten, und „redemptive reactionaries“, die die neue Ordnung über den Haufen werfen möchten. Sie wollten das Rad weder vor noch zurück drehen, sondern sprengen:

Ever since the French Revolution reactionaries have seen themselves working toward counterrevolutions that would destroy the present state of affairs and transport the nation, or the faith, or the entire human race to some new Golden Age that would redeem aspects of the past without returning there.

IN den USA findet derzeit eine Verschiebung vom restaurativem Konservativismus hin zu einem apokalyptischen Konservativismus statt, sagt Lilla. Viele Neokonservative waren frustrierte „Liberale“, denen aufging, dass so mancher Traum der politischen Linken (oder was in den USA als links gilt) sich in der Realität nicht einlösen ließ.

Sometime in the Eighties, though, neoconservative thinking took on a darker hue. The big question was no longer how to adapt liberal aspirations to the limits of politics, but how to undo the cultural revolution of the Sixties that, in their eyes, had destabilized the family, popularized drug use, made pornography widely available, and encouraged public incivility. In other words, how to undo history.

Heutige konservative Agitatoren wie Glenn Beck sind die Erben dieser Tradition, die ihr Land von Besatzern um jeden Preis „zurückerobern“ wollen. Praktisch läuft das auch nichts weniger hinaus als den Selbstmord des kräftig dämonisierten Staates, an dessen Stelle (erst) dann etwas Besseres treten kann:

During the 2010 congressional election campaign, Republican candidates (and some Democrats) were put under enormous pressure to sign the Americans for Tax Reform “Taxpayer Protection Pledge,” which obliges them to oppose any increase in the marginal personal or corporate tax rate, and any limits on deductions or tax credits that aren’t offset by other tax cuts. To date, all but six Republican representatives and seven senators have signed this collective suicide note, making the group’s president, Grover Norquist, nearly as successful as Reverend Jim Jones. That’s how the apocalyptic mind works, though. It convinces people that if they bring everything down around them, a phoenix will inevitably be born.

Das Gefährliche ist, dass diese Leute gar kein anderes Ziel mehr beschreiben können als die Destruktion all jeder Verhältnisse, die ihnen ein Dorn im konservativen Auge sind. Und das trifft, wie Lilla zeigt, fast auf die gesamte Kandidatenriege der Republikaner zu.

Während Lau dann den Bogen nach Ägypten und in den Iran schlägt, fand ich die Parallele von den „Neocons“ zur Kritik von David Fitch an der neoreformierten Bewegung und ihrem Exponenten Mark Driscoll (via Jason Clark) spannend, der in jüngster Zeit in Großbritannien mit einem kontroversen Interview auf sich aufmerksam gemacht hat.

Fitch analysiert Driscolls Positionen und Reaktionen und beschreibt ihn dann nicht als den Repräsentanten eines neuen Christentums im säkularen Umfeld, für den seine Mitstreiter und Anhänger ihn halten (und er selbst sich auch), sondern als den konservativen Insolvenzverwalter einer dahinschwindenden Gestalt von Kirche, die im Blick auf die spät- und postmoderne Gesellschaft nicht sprach- und anschlussfähig ist.

Symptomatisch dafür sind Driscolls stures und strikt exklusives Beharren auf traditionellen Sühnetheorien, sein hierarchisches Verständnis von Macht und Autorität (zumal im Verhältnis der Geschlechter) und einem Verständnis von Kirche und Gemeinde, in dem sich letztlich doch alles um den Pastor und seine Predigten dreht.

Kurz zurück zu Lilla: Keineswegs nur zwischen den Zeilen wird bei Driscoll spürbar, welche Aggressionen das liberale Feindbild auslöst. Genug Apokalyptik steckt in seinem Bibelverständnis sowieso. Und in einer Welt außerhalb von Seattle, wo seine Strategie (derzeit noch) aufgeht, etwa im postchristlichen Europa, teilt er zornig oder irritiert aus. Statt überholte Positionen in Frage zu stellen, werden sie um so martialischer verfochten.

Miroslav Volf zitiert in Exclusion and Embrace einen Satz von Giles Deleuze – es geht um Modernismuskritik mit biblischen Bezügen. Deleuze wird, sagt Volf, dem Neuen Testament damit nicht gerecht. Vielleicht jedoch jener Apokalyptik, die den „Himmel“ als jene Art totalitärer Theokratie ausmalt, die viele eher an sein Gegenteil erinnert:

Die Modernität der Apokalypse liegt nicht in den Katastrophen, die sie ankündigt, sondern in der programmierten Selbstverklärung, der glanzvollen Errichtung des neuen Jerusalem, in der wahnsinnigen Konstruktion einer endgültigen Herrschaft von Recht und Moral… Ohne es zu wollen überzeugt uns die Apokalypse davon, dass nicht der Antichrist das Schlimmste ist, sondern die neue Stadt, die vom Himmel herabkommt, die heilige Stadt.

Habe ich die Assoziationskette überstrapaziert? Zumindest so viel lässt sich vielleicht festhalten: Gerade der erbitterte Widerstand gegen einen vermutlich liberalen Zeitgeist könnte selbst mehr vom Zeitgeist bedingt sein, als die jeweiligen Protagonisten gern glauben möchten. Rein theoretisch, versteht sich…

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Frischer Zahlensalat

kommt aus England auf den Tisch: Die Anglikanische Kirche meldet aktuell 1.000 sogenannte fresh expressions, nochmal 1.000 existieren bei den Methodisten, die in dieser Frage Kooperationspartner sind:

The first ever statistical analysis of the Fresh Expressions movement has concluded that there are at least 1,000 CofE fresh expressions of church or new congregations across the country. These aim to provide new forms of church which are different in ethos and style from the church which planted them because they are designed to reach a different group of people than those already attending the original church. The emphasis is on planting something which is appropriate to its context rather than cloning something which works elsewhere.

Around 30,000 people attend fresh expressions each month who don’t attend traditional regular services, equating to an average of around 40 people per participating parish exploring new forms of church – the statistical equivalent of an additional diocese. These 30,000 are included in the average weekly and monthly statistics. Almost all dioceses have reported fresh expressions or new congregations with over half of these initiatives aimed at families with young children.

Diesen 30.000 Teilnehmenden an nichttraditionellen Gottesdiensten stellt die CofE die Gesamtzahl von 923.700 Gottesdienstbesuchern gegenüber, die allerdings rückläufig ist.

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Am Anfang war der Gesang

Tolkien könnte mit seinem Kunstmythos, dass die Welt aus dem Gesang der Ainur entstand. gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen sein, zumindest nicht von der Art, wie Menschen ihre gemeinsame Welt erschaffen. Iain McGilchrist hat gute Argumente dafür gefunden, dass vor der Sprache die Musik, vor der Rede der Gesang war.

Man schätzt, dass Sprache als Symbolsystem im heutigen Sinne mit Silben, Wörtern und Grammatik etwa 40.000 bis 80.000 Jahre alt ist, so alt sind die ältesten Bilder und Skulpturen, die man ausgegraben hat und die auf demselben Prinzip der Repräsentation beruhen. Wesentlich älter muss das Vermögen von Menschen sein, komplexe Laute zu erzeugen, indem die Stimmbänder moduliert und die Atmung auf die komplexen Erfordernisse längerer Lautsequenzen eingestellt wurde. Bei den Vorfahren des Homo Sapiens jedenfalls waren die Nervenkanäle zum Brustkorb und Kehlkopf deutlich größer als die heutiger Primaten. Daher gelingt es trotz vieler Versuche nicht, Affen das Sprechen beizubringen, während Vögel singen und zum Teil menschliche Stimmen imitieren können, und Wale und Delphine auch für unsere Verhältnisse „musikalisch“ kommunizieren.

Das Ganze spiegelt sich in der Entwicklung des einzelnen wider. Kinder können singen, bevor sie sprechen: Sie modulieren Töne, imitieren und verstehen Rhythmen und Phrasierungen – und sie kommunizieren darüber. Während wir mit Worten über irgendetwas reden können, spricht Musik uns an. Und Sprache ohne Tonalität, wie die Blechstimmen von Navigationsgeräten, ist ein merkwürdig beschränktes Medium. Bei schriftlicher Kommunikation schließlich ist noch mehr Sorgfalt nötig, um den richtigen „Ton“ zu treffen. Anders gesagt: Prosodie kann viele „semantische Ambiguitäten“ auflösen. In jedem Fall ist sie körpernäher und gehört zu den 90% menschlicher Kommunikation, die nicht aus Worten bestehen. Es spricht wohl auch Etliches dafür, dass Poesie – gesungene Dichtung in der Regel – älter ist als Prosa. Schließlich kann man auch noch mit vielen Worten viel besser lügen und täuschen als mit Gesten, Mimik und Intonation.

Von da aus weiter gedacht: Ein wort- und vernunftlastiges (und weitgehend körperloses) Christentum, wie es unter Protestanten die Norm ist, tut vielleicht gut daran, den Wert von Musik und Gesang nicht nur zur ästhetischen Umrahmung theologischer Aussagen, sondern als eigene und sinnvolle Form der Kommunikation neu zu entdecken (das geschieht ja auch an vielen Stellen). Die Lieder (Taize macht das gut vor, einige Lobpreislieder ganz passabel nach) brauchen auch nicht immer unglaublich bedeutungsschwangere Texte zu haben. Wobei ich als Textfreak hinzufügen würde: doof müssen sie deshalb auch nicht sein. Aber das resultiert ja eher aus einem Hang zu geschwätzigen Plattitüden und unbesehenem Gebrauch von vorgestanzten Textbausteinen.

Das Ganze wirft auch ein interessantes Licht auf die oft irritiert wirkenden Kommentare, mit denen das Thema Glossolalie in der kirchlich-theologischen Literatur normalerweise abgefertigt wird. Denn auch dort geht es neben dem Reden in einer Art unverständlichen „Babysprache“ (als „ganzheitlichem Sprachgeschehen“) häufig um das Singen. Das liefert vielleicht keine „verwertbaren“ Aussagen über Gott, aber es spricht Menschen immer wieder tief an.

In Frage steht auch die moderne Unterscheidung zwischen Musikproduzenten und -konsumenten, die sich ebenfalls bis in die Kirchen hinein etabliert hat. Mehr oder weniger professionelle Solisten und Ensembles „bieten“ den tendenziell passiven Gottesdienstbesuchern einen Ohrenschmaus (oder berieseln einzelne als Konserve), während in vielen ursprünglichen Kulturen alle gemeinsam singen und tanzen, und das nicht nur zu einigen wenigen Anlässen, sondern bei allem, was das Leben ausmacht. McGilchrist spricht von einer integralen und integrativen Rolle der Musik in diesen Gesellschaften.

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Die infiltrierte Normalität

Arundhati Roy schreibt in einem Gastbeitrag für die Financial Times über die Lage in Indien, wo trotz stolzen Wirtschaftswachstums nur ganz wenige profitieren und die Ungleichheit weiter zunimmt:

Die 100 reichsten der 1,2 Milliarden Einwohner vereinigen Vermögenswerte auf sich, die einem Viertel des BIPs entsprechen.

… Die 300 Millionen von uns, die zur neuen Mittelschicht gehören, die in Indien nach den Reformen entstanden ist, leben Seite an Seite mit den Geistern der 250.000 schuldengeplagten Bauern, die sich selbst umgebracht haben, und mit den 800 Millionen, die in die Armut getrieben und enteignet wurden, um Platz für uns zu machen. Und die mit weniger als 50 Cent pro Tag überleben müssen.

Nach zwei Jahrzehnten derartiger „Reformen“ und einem phänomenalen Wachstum, das aber ohne weitere Arbeitsplätze vonstattengegangen ist, leben in Indien mehr unterernährte Kinder als irgendwo sonst auf der Welt. In acht indischen Bundesstaaten gibt es mehr Arme als in 26 Ländern Schwarzafrikas zusammen.

Dabei haben die Konzerne und ihre Lenker nicht nur die Demokratie ausgehöhlt, sondern inzwischen auch noch den Protest unterwandert und pervertiert:

Konzerne haben ihrerseits clevere Methoden für den Umgang mit Kritik gefunden. Einen winzigen Bruchteil ihrer Gewinne verwenden sie darauf, Krankenhäuser zu betreiben, Bildungseinrichtungen und Stiftungen, die wiederum Nichtregierungsorganisationen, Akademiker, Journalisten, Künstler, Literaturfestivals und sogar Protestbewegungen finanzieren. Das ist ein Weg, um Meinungsmacher in den eigenen Einflussbereich zu locken. Die Normalität wird infiltriert, die Gewöhnlichkeit kolonialisiert, sodass Kritik daran so abstrus (oder esoterisch) erscheint, als stelle man die „Realität“ selbst infrage.

… Den wichtigsten Kampagnenbetreibern gelang es, die Aufmerksamkeit von gewaltigen Korruptionsskandalen in den Unternehmen wegzulenken und die öffentliche Politikerschelte für die gegenteilige Forderung zu nutzen: den Spielraum der Regierung weiter einzuengen, mehr Reformen durchzuführen und mehr Staatsbesitz zu privatisieren.

Klar scheint, dass es mit dem Kapitalismus in Indien nicht mehr lange so weitergehen wird. Unklar ist, wann und wo sich der Protest mit der nötigen Kraft den richtigen Themen und auch Gegenspielern zuwendet, statt sich kaufen und umleiten zu lassen. Arundhati Roy scheint jedenfalls die Hoffnung auf einen Wandel noch nicht begraben zu haben, ebensowenig wie die Opposition in Syrien, die mit einem verlustreichen Zermürbungskrieg gegen das Regime rechnet. Was tut Deutschland, was tun wir – was können wir überhaupt tun?

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Geschickte Arbeitsteilung

Heute stieß ich bei Miroslav Volf auf diesen interessanten Gedanken, der gleich einige Assoziationen weckte:

In einer Welt, deren Ordnung auf Gewalt beruht, greifen wir instinktiv nach dem auferstandenen Messias, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist (Matthäus 28,20). Nun ist es nicht so, dass wir für den Gekreuzigten keine Verwendung fänden. Wir bestehen nur auf einer klaren Arbeitsteilung zwischen dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen. Der gekreuzigte Messias ist gut für die innere Welt unserer Seelen, die von Schuld und Verlassensein gequält werden. Er ist der Heiland, der an unserer statt stirbt, um unsere Sünden wegzunehmen und unser Gewissen zu befreien; er ist der Mitleidende, der uns die Hand hält, wenn wir das Tal der Tränen durchschreiten. Aber für die äußere Welt unseres körperlichen Daseins, wo Interessen kollidieren und eine Macht mit der anderen das Schwert kreuzt, haben wir das Gefühl, dass wir eine andere Art von Messias brauchen – „den König der Könige und Herrn der Herren“, der unseren Willen unbeugsam macht, unsere Arme stark, unsere Schwerter scharf. Das Bild vom hilflosen Messias, der am Kreuz hängt, wird vom siegreichen Reiter auf dem weißen Pferd überlagert, dessen Augen „wie eine Feuerflamme“ und dessen „Gewand in Blut getränkt“ ist, der kommt, „um die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung“ zu treten (Offenbarung 19,11-17). Wir werden an den Gekreuzigten glauben, aber wir wollen mit den weißen Reiter marschieren.

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