Ein schwarzes Jahr für die Bildung

In den letzten Wochen hat mich das Thema Bildung schwer beschäftigt. Einerseits stand ich als Dozent vor der Aufgabe, eine Gruppe Studenten in Zürich in drei Tagen an die alte Kirche und das frühe Mittelalter heranzuführen: Was kann man da voraussetzen und erwarten, was nicht? Andererseits bekomme ich als Vater einer Studentin (an einer Uni, an der auf Jahre hinaus Chaos herrschen wird durch Doppelabitur und das gleichzeitige, ebenfalls von einem CSU-Mann eingeleitete, Ende der Wehrpflicht) und zweier Schüler der G8-Oberstufe (demnächst dann vielleicht an einer Uni, an der weiter der Doppelwahnsinn tobt) auch genug von der anderen Seite mit. Und über die Verhältnisse an den Grundschulen informiert mich meine Frau.

Am Ende des Jahres 2011 bin ich zu dem Schluss gekommen, dass konservative Bildungspolitik knallharte Klientelpolitik ist – für ein bürgerliches Milieu, das den sozialen Abstieg fürchten muss und sich nach unten abschotten möchte. Da die Unterschicht ohnehin nicht wählen geht, kann man sich das in Bayern leisten. Wollte man wirklich etwas anderes, dann hätte man längst mehr Lehrer eingestellt, die Klassen verkleinert, die Stellen für Sozialarbeiter und Schulpsychologen aufgestockt und deutlich mehr Hilfen und Förderprogramme installiert, damit auch Kinder, die von den Eltern nicht gefördert werden (können?), eine Chance haben.

Aber die sollen sie nicht bekommen, sondern irgendwie von Billigjobs und Hartz IV leben und „Unterschichtenfernsehen“ gucken. Es ist wie im 19. Jahrhundert: das aufstiegsorientierte Bürgertum passt sich nach oben an (diesmal an den Geldadel) und macht nach unten dicht, statt sich zu solidarisieren und den egozentrischen Eliten einzuheizen. Daher fallen die Proteste so zaghaft aus, obwohl längst die OECD Deutschland nicht nur für die soziale Spaltung, sondern auch für die dürftigen Investitionen in die Zukunft unserer Kinder rügt. Wie schnell man, wenn man nur will, ein paar Milliarden locker macht, haben wir bei der Bayern-LB gesehen. Da nämlich hatten die schwarzen Eminenzen ein sehr lebhaftes Interesse an schneller Abhilfe…

Dieter Timmermann, der neue Präsident des Deutschen Studentenwerks, kommentierte die Lage jüngst so:

Wollte Deutschland in etwa den gleichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts für die Finanzierung seines Hochschulsystems bereitstellen wie die skandinavischen Länder, müsste das Ausgabenniveau dauerhaft um mindestens 50 % steigen. Hinzu kommen die anstehenden Mehrausgaben für den Ausbau der Vorschulerziehung für die unter Dreijährigen und für den notwendigen flächendeckenden Ausbau der Halbtags- zu Ganztagsschulen. Außerdem hinkt Deutschland bei den Ausgaben für das lebenslange Lernen hinterher.

Wir brauchen ganz dringend einen echten Politikwechsel. Und am Thema Bildung werde ich 2012 dran bleiben.

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Festtagslaune

Gestern im Restaurant las ich den folgenden bemerkenswerten Aushang:

An den Feiertagen haben wir wie folgt geöffnet:

24./25./26.12. und 31.12./1.1. geschlossen

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Verwirrter Engel

Da war er, wie alle Jahre, wieder: dieser unsägliche Spruch des Angelus Silesius, diesmal in einer Facebook-Statuszeile, „und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst doch ewiglich verloren“. Gewiss gut gemeint, vielleicht ein etwas missglücktes Echo auf Johannes 1,12 im Jargon der Mystik, da redet man eben von der Geburt des Erlösers auf dem Grund der eigenen „Seele“. Was mich trotzdem daran stört?

Erstens die implizite Drohung der ewigen Verlorenheit – die fehlt in der Weihnachtsgeschichte komplett (und selbst die Liedzeile „Welt ging verloren“ meint noch etwas anderes als das). Der Engel spricht vom „ganzen Volk“, dem die Freude gilt, nicht nur denen, die sich das Ereignis in einem noch ausstehenden zweiten Schritt irgendwie aneignen oder eine mystische Erleuchtung erfahren.

Zweitens das Ausspielen äußerer (sozialer und geschichtlicher) Wirklichkeit, auf das die Texte der Weihnachtsgeschichten ja so großen Wert legen, gegen eine innere, die in einem Verhältnis von mehr als 1000:1 im Sinne der inneren Realität steht. Ist es denn wirklich völlig egal, was außen passiert ist, so lange das innen keine Entsprechung findet? Mag sein, dass so ein Satz den Zeitgenossen der schlesischen Engels noch etwas zu sagen hatte, heute in einem zunehmend narzisstischen und geschichtsvergessenen Umfeld, von dem Richard Sennett schon vor Jahren sagte, alles Äußere und Soziale werde ausgehöhlt und nur das zähle, was man als „relevant“ empfinde, ist es schwerlich noch sinnvoll, so zu reden. Warum soll ein Ereignis vor 2000 Jahren für mich heute irgendetwas bedeuten? In der Logik des Angelus Silesius lässt sich das jedenfalls kaum darstellen.

Drittens fehlt die Vorstellung von der „Herzensgeburt“ des Retters aus gutem Grund in den biblischen Schriften. Das Äußere, Geschichtliche und damit eben auch das Soziale – in dem Sinn, dass ich mir diese Botschaft nicht selbst sagen kann, sondern sie von einem, meist ja sogar mehreren Mitmenschen hören muss, und dass sie mich wiederum meinen Mitmenschen gegenüber verpflichtet – ist das Primäre, und eben nicht das Nachgeordnete: Wäre Christus tausendmal in meiner Seele geboren und nicht in Bethlehem, dann hätte das keinerlei Bedeutung für irgendwen auf diesem Planeten. Ich wäre allenfalls ein Freund gnostisch-eskapistischer Spekulationen. Und ich bräuchte niemand anderen außer mich selbst dafür!

Lesslie Newbigin hat all das an Silesius‘ in The Gospel in a Pluralist Society schon vor gut zwei Jahrzehnten kritisiert. Der „Pietist“ würde wie jeder Hindu „die lebendige Beziehung zu Gott“ (im Sinne einer gegenwärtigen, inneren Angelegenheit) als das Eigentliche betrachten und sie vom Geschichtlichen (bzw. dessen mühsamer Erörterung und Interpretation) abkoppeln. Man zieht die mystische Unmittelbarkeit Gott gegenüber der geschichtlichen Vermittlung vor – und gibt dabei den Bezug des Glaubens zur Welt der Geschichte, der Kulturen, der Politik und damit auch unseres konkreten Alltags insgeheim preis.

Ich finde, wer nächstes Weihnachten wieder Silesius zitiert, sollte 1.001 Euro ins Phrasenschwein zahlen oder – besser noch – Newbigins Buch auswendig lernen müssen.

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Wie sich „christliche“ Politik unglaubwürdig macht

Alexander Jungkunz hat heute in einem Kommentar der Nürnberger Nachrichten anlässlich des Anschlags in Nigeria auf das Problem der verfolgten Christen hingewiesen. In über 50 Staaten weltweit müssen Christen mit Unterdrückung und Gewalt rechnen. Aus ökonomischen Erwägungen fällt der politische Protest an dieser Stelle oft aus, schreibt Jungkunz und kritisiert dann vor allem die rigide Asylpolitik ausgerechnet der C-Parteien, die Glaubensflüchtlingen bei uns das Leben schwer bis unmöglich macht. Wenn man an den Zuständen anderswo schon nicht direkt etwas ändern kann, dann muss man wenigstens hier sein Möglichstes tun.

In die gleich Kerbe schlägt heute Diakoniepräsident Bammessel, der ebenfalls die Flüchtlingspolitik der schwarz(gelb)en Staatsregierung kritisiert, die zu unhaltbaren Zuständen führt. Die Stadt Erlangen passt so gesehen leider bestens ins düstere Bild, weil hier seit Jahren die ohnehin schon die harten Vorgaben des Landespolitik konsequent zu Ungunsten Betroffener ausgelegt werden. Das Thema wird im neuen Jahr den Stadtrat weiter beschäftigen. Für eine Kommune, die sich als „offen aus Tradition“ bezeichnet, ist das kein Glanzstück, zumal die Stadtverwaltung auf die Kritik der Verbände bislang sehr defensiv reagiert.

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Schicke Schichten

Die meisten haben ihre Geschenke inzwischen wohl ausgepackt, aber für das nächste Weihnachten gibt es Geschenkpapier, das man sich – zumal in der richtigen Stapelung – gern noch einen Augenblick anschaut, und das unter Sternchen, Zweiglein, Engelchen und Flöckchen mal etwas Abwechslung in den weihnachtlichen Papierkrieg bringt:

Gift Couture from Gift Couture on Vimeo.

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Alles von vorn?

Die Düsternis am Ende des Jahres hat Sybille Berg auf Spiegel Online ganz treffend eingefangen. Wo von Weihnachten nicht mehr übrig geblieben ist als Zimtgeruch, dann kann man sich dieser Stimmung wirklich nur schwer entziehen:

Das ist diese Festzeit, die Jahresendzeit, wo die Welt starr ist vor Angst, weil wieder alles vorbei ist, sich nichts geändert hat. So sitzen sie in ihren Wohnungen, die dunklen Höhlen gleichen, nach Nahrung riechen, nach Zimtzeug riechen, alles riecht wie eine schwere Wolke aus Mensch und Trägheit, weht nicht mal, steht in den Höhlen, und draußen ist alles tot. Draußen ist nichts, außer Stillstand und dem Warten, dass diese furchtbare Zeit vorübergehen möge, und alles von vorne beginnt.

Sie geht der Frage nach, ob eine neue Liebe das Leben verändern könnte. Und verneint sie. Hat der ganze Weihnachtsrummel das schon so verdeckt, dass sich tatsächlich eine neue Liebe finden ließe, die auch gar nicht in direkter Konkurrenz zum jetzigen Partner steht? Dass man tatsächlich von vorn anfangen kann, ohne am ebenso trüben Ende des nächsten Jahres, vom Stillstand erdrückt unbedingt wieder alles auf Null setzen zu wollen?

Ein Charakteristikum biblischen Glaubens ist, dass er sich vom „ewigen Rad“ der Geschichte gelöst hat und es tatsächlich wagt, Hoffnung auf eine bessere Welt und ein erfülltes Leben zu verbreiten. Hier ist noch einmal einer der alten Verheißungen (Jesaja 60,1-6) für die äußerlich dunkelsten Tage des Jahres. Frohe Weihnachten an alle, die es lesen!

Auf, werde licht denn es kommt dein Licht und die Herrlichkeit des Herrn geht leuchtend auf über dir.

Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker,

doch über dir geht leuchtend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über dir.

Völker wandern zu deinem Licht und Könige zu deinem strahlenden Glanz.

Blick auf und schau umher: Sie alle versammeln sich und kommen zu dir.

Deine Söhne kommen von fern, deine Töchter trägt man auf den Armen herbei.

Du wirst es sehen und du wirst strahlen, dein Herz bebt vor Freude und öffnet sich weit.

Denn der Reichtum des Meeres strömt dir zu, die Schätze der Völker kommen zu dir.

Zahllose Kamele bedecken dein Land, Dromedare aus Midian und Efa.

Alle kommen von Saba, bringen Weihrauch und Gold und verkünden die ruhmreichen Taten des Herrn.

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Steuerfreier Gewinn

Die Welt (danke an Frank Heinze für den Tipp!) schreibt über evangelische Gemeinden, die ihre Pfarrer selbst finanzieren. Der Artikel stellt ein paar gelungene Beispiele vor und beleuchtet dann auch den kirchenpolitisch-institutionellen Hintergrund:

Er beschreibt das Zögern evangelischer Kirchenleitungen (doch etwas weit hergeholt dabei das Argument, man wolle keine besser dotierten Stellen aus Spendenmitteln – in der Regel sind die ja aus guten Grund bescheidener ausgestattet!) wie auch das bislang bestenfalls theoretische Abrücken der katholischen Kirche von der Kirchensteuer – auch wenn der Papst seine Bischöfe mit der Idee einer Angleichung an die übliche Praxis der Weltkirche neulich schon verschreckt hat.

Wichtig sind aber vor allem die Hinweise auf den größeren Nutzen und Sinn solcher Modelle:

  • Gemeinden kommen “aus der Defensive“ und setzen ein Zeichen nach innen wie nach außen, dass mit ihnen zu rechnen ist, statt sich in der „passiven Betrachtung des Niedergangs“ zu ergehen.
  • Gemeinden, die sich ihre Pfarrstellen etwas kosten lassen, werten damit den Berufsstand insgesamt auf, und das in einer Zeit schwindenden Nachwuchses (und so mancher überlasteter, ausgebrannter Amtsträger).

Freilich macht eine Pfarrstelle noch keine blühende Gemeinde, und auch der Pfarrer schafft das nicht allein. Wohl aber fördert die gemeinsame Anstrengung die oft nur mäßige Identifikation evangelischer Christen mit ihrer Gemeinde. Der emeritierte Berliner Superintendent Wolfgang Barthen bringt es auf den Punkt (und redet gewiss von mehr als nur Geld), wenn er sagt:

Es ist eine Form der Mission, wenn wir die Leute ermuntern können, dazu beizutragen, dass die Gemeinde attraktiv bleibt und attraktiver wird.

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Führ‘ mit vier…

Zeit online berichtet von einem Kurs der European Leadership Academy, in dem Kinder mit Führungskräfte Lösungen für deren Problemstellungen erarbeiten. Offenbar ist die Fähigkeit, sich von Nicht-Profis etwas sagen zu lassen, eine wichtige Sache.

Das passt gut zusammen mit vier kurzen, knappen Ratschlägen für Führungskräfte die ich auf MinEmergent gefunden habe. Sie lauten:

  1. Sei nett
  2. Verbessere dich ständig
  3. Kommuniziere mehr als nötig wäre
  4. Halte mehr, als du versprichst

Wenn Stromberg diese Kniffe entdecken würde, könnten sie die Serie glatt absetzen. Wer keine Stromberg-Ambitionen hat und im Sinne von Tipp #2 noch gute Vorsätze für 2012 sucht, darf sich hier gern bedienen. Ich sollte vielleicht mal meine Kinder fragen, welchen dieser Tipps aus „führ mit vier“ ich besonders beherzigen muss.

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Weiter wursteln? Das Wulff-Dilemma

Vor ein paar Tagen erst hat mich eine Leserin gelobt dafür, dass ich mich aus der Tagespolitik heraushalte, jetzt kann ich es mir doch nicht ganz verkneifen. Nicht weil ich ganz neue Aspekte sehe, sondern weil ich merke, dass sich das leidige Präsidenten-Thema einfach nicht ignorieren lässt. Gestern habe ich es mit einer 80-jährigen Dame diskutiert. Wir fanden beide: Es taugt nicht zur Empörung, aber eben auch nicht zur achselzuckenden Resignation. Vielleicht ist ehrliche Trauer die beste Lösung.

Diese Woche ist Vaclav Havel gestorben – ein Präsident, wie er im Buche steht: Literat, Bürgerrechtler, unbeugsam, moralische Autorität, großer Europäer.

Kleiner (?) Sprung: Ganz Deutschland diskutiert in diesen Tagen über Christian Wulff. Vielleicht auch, weil wenig andere Dinge die Gemüter erhitzen. Zwischen den Zeilen der Statements von Freund und Feind wird schon deutlich, dass er sich im juristischen Sinne nichts hat zu Schulden kommen lassen. Irgendwie wäre es für uns doch alle peinlich, wenn ein Präsident über einen popeligen, lange verschämt verschwiegenen Privatkredit stolpern würde. Man kann seinen Rücktritt gar nicht mit inbrünstiger Entrüstung fordern, ohne als selbstgerechter und kleinkarierter Moralapostel dazustehen, oder? Wenn er wenigstens betrunken Auto gefahren wäre, aber das kann man sich bei ihm irgendwie gar nicht vorstellen.

Dennoch – das fade Gefühl geht deswegen nicht weg, und daher endet auch die ratlose Diskussion nicht. Das hat damit zu tun, dass Wulff von Angela Merkel gegen den deutlich populäreren Joachim Gauck zwecks Machtdemonstration an die eigene verunsicherte Partei ins Amt gehievt wurde. Der Eindruck, dass er sich vielleicht doch weniger erarbeitet als von Gönnern zugeschoben bekommen hat, ist also gar nicht erst jetzt entstanden.

Na gut, sagten damals viele, er ist vielleicht etwas blass, aber wenigstens integer. Vorsichtig gesagt herrscht nun der etwas ungünstige Eindruck, dass es eine eher passive als entschlossene und mutige Ehrlichkeit ist. Insofern ist die Vermutung, dass Wulff es aus Naivität oder Ahnungslosigkeit versäumt haben könnte, die Sache klarzustellen, für die öffentliche Wahrnehmung seiner Amtsführung fast noch schädlicher, als ihm energischen Vorsatz zu unterstellen.

Das Ganze ist aus einem dritten Grund tragisch: Wir bekommen es regelmäßig gesagt, dass in den letzten Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufgegangen ist. Für viele ist schon ein bescheidener Urlaub nicht drin, an ein Eigenheim nicht zu denken. Jeder gönnt dem Bundespräsidenten sein Dach über dem Kopf und seine Erholung. Auch seine Freunde gönnen wir ihm. Aber wie ernst wird sein Appell für eine Umkehr dieser schleichenden Umverteilung von unten nach oben sein können – wenn er denn käme?

Das letzte ist die persönliche Tragik: Wulff muss sich vom Spiegel sagen lassen: „Es ist tragisch, dass Deutschland in dieser schwierigen Zeit keinen unbefangenen Bundespräsidenten hat, der seine Stimme mit Autorität erheben kann.“ Mit eben diesen Worten griff Wulff einst Johannes Rau wegen bankenfinanzierter Privatflüge in dessen Zeit als Ministerpräsident von NRW an. An dieser Marke wird er nun gemessen.

Rau blieb im Amt. Wird Wulff bleiben? Bestimmt, vermutlich aus demselben Grund, aus dem er kam: Weilte Kanzlerin es wollte. Nach zahlreichen Personalpannen und mit einem Koalitionspartner im Todeskampf kann sie das Scheitern ihres Kandidaten überhaupt nicht brauchen und weiß, dass die Kritiker, die sich derzeit auf Wulff konzentrieren, dann wieder auf sie einschießen würde. Nennenswerten Widerstand aus dem Bundespräsidialamt musste sie bisher nie fürchten, das wird sich auch nicht ändern. Warum sollte sie also etwas ändern?

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Herb, aber herzlich

Aus der ganzen süßen Weihnachtspampe, mit der einem die Rundfunksender derzeit die Ohren verkleben, stach am Sonntag ein alter Song von den Pogues heraus: Fairytale of New York. Statt billiger Beschwörungen heiler Welt fliegen dort aus tiefstem Herzen kommende Schimpfwörter hin und her, während die Weihnachtsglocken läuten, und am Ende klingt es fast noch ein bisschen versöhnlich.

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Offen und unsystematisch: die Bibel

Letzte Woche stellte ich fest, dass eine christliche Zeitschrift gerade einen Auszug aus Kaum zu Fassen veröffentlicht hat, in dem es um die Bibel ging. Die Freude wich nach kurzem Überfliegen der Ernüchterung, weil die Redaktion ganz selektiv alles, was ich dort über die Uneinheitlichkeit der Texte und Widersprüche schreibe (die ich ja nicht erfunden habe, sondern mit denen viele ringen), ausgelassen hatte. Insofern spare ich mir hier den Hinweis auf die Zeitschrift – wen das Thema interessiert, der kann es lieber im Original nachlesen.

Gestern habe ich diesen Passus bei Miroslav Volf in Exclusion and Embrace (erscheint 2012 auf Deutsch bei Francke!) gefunden, der eben das noch einmal betont, was der (gewiss unbewussten) „Zensur“ zum Opfer fiel. Die Vielstimmigkeit der Schrift begründet die Vielstimmigkeit der Weltkirche – und die Freiheit zur wie auch die Notwendigkeit von Kontextualisierung. Weder das eine noch das andere lässt sich auf einen einzigen gemeinsamen, stimmigen Nenner oder in ein geschlossenes System bringen:

Die biblischen Texte sind ein kanonisches Bündel überlappender Zeugnisse aus radikal verschiedenen Kontexten für die eine Geschichte Gottes mit der Menschheit, die in Christi Tod und Auferstehung gipfelt. Die Schrift ist uns in der Form pluraler Traditionen gegeben. Die Texte und ihre zugrundeliegende „Story der Geschichte“, die sie eint […], stellt keinen einheitlichen Traditionszusammenhang dar. Stattdessen setzt sie eine Reihe miteinander verwandter grundlegender Selbstverpflichtungen voraus – Glaubensinhalte und Praktiken. Diese Verpflichtungen können zu Traditionen weiterentwickelt werden. Aber solche Traditionen sind immer Sekundärphänomene, die im Licht der Grundverpflichtung und des kulturellen Kontextes hinterfragt und neugeprägt werden müssen.

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Vollkorn-Apostel

Tom aus dem Kirchengeschichtskurs beim IGW letzte Woche in Zürich hat die folgende Mahnung des Clemens von Alexandria († ca. 215) gefunden. Clemens beschwert sich über ungesundes Essen, namentlich „die unnütze Geschicklichkeit der Zuckerbäckerei“ und rät dann im Sinne eines ganzheitlichen Verständnisses von christlicher Lebensführung erstaunlich fortschrittlich (aber in harschem Tonfall) zum gesünderen Vollkornbrot. Im weißmehlsüchtigen Mittelmeerraum hat er sich damit nicht durchsetzen können, aber heute wissen wir seinen Rat wieder zu würdigen:

Ja sogar der einfachsten Speise, dem Brot, nehmen sie die Kraft, indem sie vom Weizen die eigentlich nahrhaften Bestandteile durch Aussieben entfernen, so dass die notwendige Speise in ein Mittel schimpflicher Genusssucht verwandelt wird.

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„God is not a lot of fun these days“

Am vergangenen Sonntag hat Eric Weiner in der New York Times sich – unter anderem mit dem oben zitierten Satz – stellvertretend für immer mehr Amerikaner geäußert, die sich als konfessionslos bezeichnen und keiner Glaubensgemeinschaft angehören.

Weiner sieht sich als jemanden, der eigentlich gern glauben würde, dem aber der Weg dahin verbaut wird. In der Weihnachtszeit wird diese Kluft besonders schmerzhaft. Von Gott in der Öffentlichkeit zu reden ist fast immer peinlich. Anscheinend hat man nur die Wahl zwischen den „true believers“ und den „wütenden Atheisten“. Abschreckend ist dabei ein unerträglich polarisierender und politisierter Glaube – in dem Sinn, dass sich niemand als Christ „outen“ möchte, weil damit politische Standpunkte assoziiert werden, die man ablehnt.

Auch Weiner war lange der Ansicht, Gott sei bloß etwas für Deppen und Republikaner. Nun fragt er, ob es einen Weg zum Glauben gibt, der kein Weg zurück hinter die Aufklärung ist. Aber dann ist nicht so sehr die Vernunft sein Kriterium, sondern erstaunlicherweise der Humor: Der Dalai Lama lache oft und gern, schreibt er, während die religiösen Führer (und damit dürfte er vor allem die Fernsehprediger meinen) die Leute anbrüllen. Gott, da ist sich Weiner sicher, ist aber kein Ausrufezeichen, sondern ein Strichpunkt. Er trennt weniger als dass er verbindet.

Wiener geht mit einem Zitat von Alfred North Whitehead zurück auf die aufklärerische Definition von Religion als eine Sache der Innerlichkeit. Und dann wünscht er sich einen Messias der Zweifler herbei, eine Ikone, die Entfremdeten das Glauben wieder möglich macht, einen „Steve Jobs der Religion“. Jemanden mit Unternehmergeist, der Glauben wieder intuitiv macht und interaktiv – sagt Weiner, der sich eben noch als Rationalist bezeichnet hat und Religion als Privatsache? – jemand, der einen Raum schafft, wo man fröhlich zweifeln darf, Platz ist für Experimente und wo man über Gott reden kann, ohne dass es peinlich wird.

Ich bin sicher, Rob Bell hat den Artikel auch gelesen. Vielleicht schreibt er Herrn Weiner mal ein paar Zeilen.

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Angst vor dem Kontrollverlust

Der britische Dramatiker Simon Stephens spricht diese Woche mit der Süddeutschen über seine Kritik am Europa-Kurs der Tories, der die Schlagzeilen in den letzten Tagen beherrschte. Es geht viel um die Angst vor dem „Anderen“ und deren Missbrauch.

Dabei ärgert ihn besonders die scheinheilige Argumentation über mangelnde demokratische Legitimierungen von Entschlüssen der EU – ein Argument, das man hier ja auch ab und zu hört. Stephens‘ Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Vielleicht ist der Ärmelkanal ja doch nicht endgültig breiter geworden:

Der öffentliche Diskurs über die EU in Großbritannien ist geprägt von dem Widerwillen, sich den Launen und Entscheidungen einer Institution zu beugen, über die wir nur begrenzte demokratische Kontrolle haben – warum sollten wir tun, was Europa uns sagt? Das scheint auch der Grund für die Popularität von Camerons Blockade zu sein. Aber dieselben Leute haben anscheinend keine Probleme mehr damit, sich den Launen und Entscheidungen einer deutlich weniger legitimierten Institution zu beugen, nämlich der sogenannten City.

… Die Heuchelei von Leuten wie Cameron und Johnson ist, dass sie sich jetzt, heimlich oder öffentlich, die Hände reiben und sich über die Krise des Euro freuen. Dabei war es ja nicht der Euro, der die europäischen Volkswirtschaften hat kollabieren lassen, sondern die Art von Bankgeschäften, die diese Politiker selbst so eifrig beschützen.

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