Dass es unter US-Evangelikalen ein großes Umdenken und zum Teil auch eine radikale Abkehr von der irrsinnigen politischen Agenda der Republikaner gibt, habe ich hier schon mehrfach erwähnt. Inzwischen ist auch die Zeit darauf aufmerksam geworden, bei uns erschien der Begriff „evangelikal“ im öffentlichen Sprachgebrauch bisher ja eher als Synonym zu „fundamentalistisch“ und „reaktionär“.
In Deutschland ist die Bewegung weniger extrem nach allen politischen Richtungen, den frommen Eva-Herman-Fanclub mal ausgenommen. Auf einschlägigen Großverstanstaltungen treten aber immer noch mehr CDU-Abgeordnete auf.
In jeder Hinsicht bemerkenswert fand ich übrigens dieses Statement der National Association of Evangelicals, das die Zeit zitiert. Schade, dass es nicht schon auf dem Kongress in Kapstadt diskutiert wurde:
Die NAE stellt fest, dass es unter ihren 45.000 Kirchen keinen Konsens in der Frage gebe, ob die biblische Genesis als wissenschaftlicher Fakt gelehrt werden soll. Und eine Mehrheit der Evangelikalen unter 35 ist für die Schwulenehe, während die Mehrheit der Älteren eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle befürwortet.
Ich vermute, dass es sich bei uns kaum anders verhält als in den USA. Nur dass nicht öffentlich darüber geredet wird. Die offiziellen Statements der Evangelischen Allianz geben durchweg nur die traditionell-konservative Linie wieder. Ein offenes Gespräch über die unterschiedlichen Positionen wäre für mein Empfinden längst überfällig. Freilich hätte es auch eine gewisse Brisanz, ein paar Hardliner würden bestimmt auf die Barrikaden gehen und Idea würde weniger Abos verkaufen.
Also beten wir doch für mehr Mut zur Ehrlichkeit. Das wäre doch ein schönes Zeichen, wenn unter dem Stichwort Evangelikal unterschiedliche Ansätze möglich sind, so wie in anderen, theologisch viel wichtigeren Fragen ja auch. Marcia Pally, die Verfasserin des Artikels in der Zeit, hat ihr Buch über die Neuen Evangelikalen auch auf Deutsch veröffentlicht:
Die NZZ war der „ZEIT“ fast ein Jahr voraus. Dort durfte Marcia Pally schon im Dezember 2010 was schreiben: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/keine_nuetzlichen_idioten_der_politik_1.8898128.html
Mal sehen, was der „ZEIT“-Artikel jetzt auslöst. Zu hoffen ist ja, dass ihn auch die Verantwortlichen der Theologischen Fakultäten lesen …
Das ist ja mal eine echt spannende Info. Danke Peter.
Wenn das stimmen sollte (was ich kaum glauben kann), dann hätte im Ami-Land tatsächlich ein beeindruckendes Umdenken statt gefunden (das ich so rasch nicht für möglich gehalten hätte).
Bin jetzt tatsächlich auch sehr gespannt, was unsere deutschen Evangelikalos dazu sagen werden. Ob eine Gruppe wie Zwischenraum ( http://www.zwischenraum.net ) dann doch mal die Chance kriegt bei denen Gehör zu finden? Würde mich wirklich freuen.
Aber du hast jedenfalls Recht, eine theologische Diskussion ist wirklich überfällig.
…Interessante Sache!
Gruß Olaf
Offenbar hat sich der Einfluss u.a. auch der emergenten Bewegung einiges bewirkt, obwohl man ihr das Ende schon besiegeln wollte (Piper). Wenn man sich aber in bestimmten Kreisen aufhält, bekommt man es aber gar nicht mit und es wird weiterhin das zementiert, was politisch rechts vorgegeben wird.
Obwohl die meisten der Verschiebungen eher nach links gehen (wo hin denn sonst. weiter rechts geht ja nicht mehr) würden sich wohl viele Vertreter dagegen wehren sich Links zu bezeichnen. Ich erinnere mich an das Buch von Jim Wallis „Why the Right gets it wrong and the Left doesn´t get it“.
..mehr Mut zur Ehrlichkeit ist sicher sehr wichtig – genau so wichtig ist der Mut, die Bibel mit ihren, den Zeitgeist widersprechenden und auch für manche provozierend erscheinenden Aussagen zu akzeptieren.
@JohannesT: Die biblischen Aussagen zu dem Thema, das Du vermutlich meinst, sind sehr dünn und in vieler Hinsicht heute auch recht problematisch, von wegen Todesstrafe und so weiter…
Ich frage mich manchmal, ob der Begriff „evangelikal“ in Deutschland überhaupt noch zu retten ist. Und falls ja, ob es überhaupt sinnvoll ist, ihn zu retten. Und damit zum Beispiel auch, ob es sinnvoll ist, die verschiedenen Ansätze in schöpfungstheologischen und sexualethischen Fragen eben „unter diesem Stichwort“ versöhnen zu wollen.
Es ist nach meinem Eindruck wirklich so, dass die meisten hierzulande der Gleichung zustimmen: evangelikal = fundamentalistisch = wissenschaftskritisch = dumm = George W. Bush = morgens beten und nachmittags Irak-Krieg. Und ich bin glaube ich auch nicht die einzige Christin (sollte ich schreiben: evangelikale Christin?!), der bei diesem Begriff immer ein bisschen unwohl wird. Und die selbst nicht so genau weiß, ob bzw. wem gegenüber sie sich als evangelikal bezeichnen soll und darf. (Was interessanterweise in den USA ähnlich zu sein scheint. Als wir Teilnehmenden in Kapstadt von Doug Birdsall aufgefordert wurden, (sinngemäß) die evangelikale Fahne zu Hause hochzuhalten und ich anschließend in meiner Tischgruppe sagte, dass evangelikal in Deutschland eher ein Schimpfwort sei, das ich nicht so hilfreich fände, meinte der (farbige) US-Bruder an meinem Tisch, dass das bei ihnen nicht anders wäre.)
Also: Der Begriff ist verbrannt und noch dazu sehr schwammig und unbestimmt. Zwar wissen viele sehr genau, wer oder was evangelikal ist (nämlich sie selbst und das, was sie glauben und tun und lassen), aber das ist meiner Überzeugung nach nicht immer deckungsgleich.
Soviel mal zur Problematisierung des Begriffs.
Ansonsten stimme ich dem Artikel aber natürlich zu. Ehrlichkeit und Offenheit und Mut wären super.
Aber wie schwierig ist das bitte?! Ist es nicht so: Wenn ein bedeutender Evangelikaler (oder eine bedeutende Evangelikale – aber die gibt es ja kaum) zum Beispiel beim Thema Homosexualität auch nur geringe Zweifel an der Mainstream-Position zugeben würde, dann kann die Person erstmal ihre berufliche Zukunft vergessen.
Es sei denn, es kämen dann noch mehr zur Unterstützung dazu, dass es nicht mehr so einfach ist, den Leuten kurzerhand den Glauben und die Liebe zu Jesus und zur Bibel an sich abzusprechen … Ich schätze, dann würde die Luft brennen. Vielleicht würde dann ja im „Glauben und Zweifeln“-Teil der ZEIT was über die Grabenkriege der deutschen Evangelikalen stehen …
Au ja!! Klingt verlockend. Sind hier nicht außer Peter noch ein paar „bedeutende Evangelikale“ versammelt?? 🙂
Dann tretet doch mal die Revolution los! Vielleicht traut sich dann sogar die durchschnittliche idea-Leserin, zu hinterfragen, was sie schon immer aus der Bibel heraus- (oder in die Bibel hinein-)gelesen hat.
@JohannesT: Wie Peter /ahne/ ich nur auf was du abzielst oder an was du da denkst bei dem Schlagwort „Zeitgeist“. Wenn in Diskussionen von „Bibeltreuen“ vor dem „Zeitgeist“ gewarnt wird, hab ich immer das Gefühl, /die/ haben eine andere Bibel gelesen als ich. Altes und Neues Testtermen sind über etliche Jahrhunderte entstanden und selbstverständlich findet man (wenn man die Augen auf macht) auch in der Bibel den „Zeitgeist“ der jeweiligen Zeit wieder. Je-nachdem, ob sich das Jüdische Volk gerade in Knechtschaft oder in Freiheit befand, dominierten ganz andere Themen bei den Autoren (und auch Ansichten). Im Neuen Testament stehen im Gegensatz zu Levitikus z.B. sozal-normative Regeln im Hintergrund. Das Öffentliche Leben zu Zeit Jesu wurde durch das römische Recht dominiert/geregelt. Das Bedürfnis ging er in die Richtung „Innerlichkeit“ oder gar „Innere Migration“ und „Weltfurcht“. Alles überhaupt keine Motive in Levitikus.
@Astrid: Ich denke, hier wie da hat die Evangelikale Bewegung (es ist ja eine Bewegung, bei allen Erstarrungen, die es auch gibt) die Wahl zwischen einer inneren Differenzierung (einem Binnenpluralismus) oder dem Zerbrechen in Progressive und Konservative. Derzeit ist in Deutschland schwer auszumachen, was wahrscheinlicher ist. Es steht ja ein Wechsel im Vorsitz der Evangelischen Allianz an, das kann nach der einen wie nach der anderen Richtung Bewegung geben.
Aber eine gewisse … äh, Schüchternheit einzelner, sich offen gegen die Mehrheitsmeinung zu stellen, frustriert mich auch ohne Ende. Gruppenzwang gibt’s ja nicht nur beim „Zeitgeist“…
@Peter:
Was ist denn aus Deiner Sicht erstrebenswerter?
Binnenpluralismus klingt gut – erst Recht im Vergleich zu „Zerbrechen“.
Aus einem älteren Beitrag hab ich aber auch noch Deine Überlegung im Kopf, ob es nicht gerade sinnvoll sein kann, sich an manchen Stellen klar von Hardliner-Positionen abzugrenzen.
Klar, von manchen Positionen muss man sich deutlich abgrenzen. Es ist eben nicht gesagt, dass das Label „evangelikal“ tatsächlich auf Dauer zu retten ist. Auch in den USA kann das Pendel wieder in die andere Richtung schlagen, die Neoreformierten arbeiten ja hart daran.
@ Astrid. Sehr treffende Analyse hast du da oben abgegeben.
Das sich einiges tut, ist mE spürbar. Ich habe schon vor zehn Jahren gesagt, dass ich davon ausgehe, dass Hardlinermeinungen zB zu Sex vor der Ehe nach und nach aufbrechen werden. Dass es nun auch beim Thema Homosexualität so ist, hätte ich ehrlich gesagt nicht so bald für möglich gehalten. Immerhin sind die restriktive Einstellung zu Sex vor der Ehe, (und gerade auch zu ) Homosexualität, und das Bekenntnis zu einer fundamentalistischen Bibellesart die 3 Themen, die dem evangelikalem Glauben nach innen und außen das konstituierende Gesicht der Rechtgläubigkeit geben. Früher gab es im evangelikalen Glaubenssystem ja zig Abgrenzungen von der Welt und lauen Christen, die deutlich gemacht haben, ob du „drinnen“ oder „draußen“ bist (zB Karten spielen, Tanzen, Rockmusik, Rauchen, Trinken usw). Davon sind die 3 erwähnten Themen übrig geblieben, was auch erklärt, weshalb sie so heiß umkämpft sind.
Tja, Binnenpluralismus oder Harte Grenzen? Auf jeden Fall sehe ich gerade die Chance zu mehr Pluralismus gegeben (inzwischen werden zum Teil sogar Ansichten öffentlich diskutiert, die vor 10-15 Jahren noch nicht mal hinter vorgehaltener Hand besprochen wurden). Und hoffe, dass wir uns in diese Richtung weiter bewegen.
Aber noch mal zum Thema Homosexualität. Bei mir selbst hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich angefangen habe, mich auch öffentlich für die Verträglichkeit von Homosexualität und Christsein auszusprechen. Und immer noch tue ich es auch eher zaghaft. Wenn man in der evangelikalen Welt seine Brötchen verdient, ist es gar nicht so leicht, hier Farbe zu bekennen. Aber wenn man als Hetero erst mal mit christlichen Homosexuellen gesprochen hat (was ich viel getan habe) und sich deren Geschichten angehört hat, die immer wieder deutlich machen, durch was für „evangelikale Höllen“ diese tollen Christen zum Teil gegangen sind und geschickt wurden (von Verneinung, Therapie über Therapie, Scheinehen, und Abgründen der Verdammnis, weil sich einfach keine „Heilung“ einstellen ließ), dann spürt man, wieviel Elend hier unter der Oberfläche brodelt. Und dass es unbedingt nötig ist, an dieser Stelle umzudenken.
Ich kenne auch eine ganze Menge bekannte Leute in der evangelikalen Welt, die überhaupt nicht mehr die Hardlinermeinung vertreten, dies aber öffentlich nie zugeben würden, aus Angst abgeschossen zu werden. Das ist natürlich doof, denn so denken immer alle, dass alle diesbezüglich das Gleiche denken – und dabei ist das schon lange gar nicht mehr so (vielleicht denkt es in Wirklichkeit ja gar keiner mehr und keiner merkt es, weil alle immer wacker so tun als ob… 😉 ). Aber es ist natürlich auch verständlich, weil diesbezüglich eben schnell scharf geschossen wird.
Von daher würde ich es auch begrüßen, wenn sich bekannte Persönlichkeiten vermehrt öffentlich zu dem Thema äußern würden. Und fände es total hilfreich, wenn Peters Vorschlag einer neuen theologischen Standortbestimmung aufgegriffen würde (das würde nämlich die Möglichkeit erleichtern, kontroverse Standpunkte salonfähig zu machen, oder sie zumindest nennen zu dürfen).
Das ist traurig, dass die Evangelikalen in USA ihr Fundament verlassen. Das heisst aber nur, dass es bald wohl einen „neuen“ Begriff gegen wird fuer Bibeltreue. Denn es wird ja immer Bibeltreue geben. Jedenfalls hoffe ich, dass der Trend bald wieder in die andere Richtung gehen wird und die Menschen auch die bibeltreue Sexualethik wieder ernster nehmen – auch in BRD.
@Roderich: Bestimmt wird es irgendwann ein Sammelbecken der Fundamentalisten geben – dahin entwickelt sich ja der Begriff „Bibeltreu“ immer mehr
@Roderich: „Bibeltreu“ ist reine Auslegungssache. Lass mich raten: Bei „Sexualethik“ denkst du an Leviticus 18:22 und Homosexualität – richtig? Wollen wir die Diskussion hier wirklich zum X-Tausendstem mal durch exerzieren? Kannst du haben!
Vielleicht überlegst du aber vorher ob „Bibeltreu“ und „Gott über alles lieben“ nicht das selbe ist. Und welches von beiden wohl die höhere Priorität bzw. Autorität hat.
Gottes Segen,
Olaf
@Peter: …Ah Peter, du alte Spaßbremse 😉 Wo ich doch so gerne „Bibeltreue“ zerlege! Wenn du ihm so kampflos den Begriff „bibeltreu“ überlässt, dann hast du ihm im Grunde schon die exklusiv rechte an „Christ“ dazu verschenkt.
@Roderich: Wenn du eine sportlich-rhetorisch-thologische Herausforderung sucht, biete ich dir an – unter deinen Realnamen – auf meiner Website einen Artikel zu veröffentlichen, in dem du darlegst (wenn das deine Meinung sein sollte) warum Quaker keine Christen sind, nicht „bibeltreu“ sind und auch nicht in der Gnade stehen.
Wenn du Anregungen brauchst für ein paar Ansatzpunkte empfehle ich dir diesen Artikel zu lesen:
„Warum ich glaube, dass „Doppelmitgliedschaften“ nicht möglich sind. [update 14.8.2011]“
Vielleicht lernen wir ja sogar beide was dabei.
Gruß
Olaf
EIn kleiner Schwenker zu den Bibeltreuen: Wenn sog. Bibeltreue von ihrer Bibeltreue reden, dann bewegt sich das meistens im Bereich einiger Dogmen und der Sexualethik. Was ist denn mit einer guten bibeltreuen Sozialethik. Die scheint es gar nicht zu geben, wobei die Bibel voll davon ist. Da zeigt sich mir, wie selektiv gelesen wird. Man fordert zwar gerne „Bibeltreue“, aber meint wohl eher „Linientreue“.
@Olaf und Gerri,
Bibeltreue muss wohl – je nach dem, von wo die Angriffe dagegen kommen – immer neu definiert werden. Heute muss man sicher dazu sagen, dass Bibeltreue zumindest ein postmodernes Wahrheistverständnis ausschließt.
(D.h. philosophische Grundannahmen, die früher eigentlich nicht in Frage gestellt wurden, muß man heute explizit mitformulieren, da ja an eben jenen Fundamenten gerüttelt wird).
Und ich denke, dass Sexulaethik da sicher eine wichtige Rolle spielt, sozusagen als „Repräsentativthema“. Nicht, dass Sex das einzige ist, was wichtig wäre, aber daran scheiden sich heute nun mal die Geister.
@Olaf, zu den Quäkern muss ich leider passen (auf die Schnelle – es gibt sicher in jeder Denomination wiedergeborene Christen; was nun alles an der Quäker Theologie bibeltreu ist und was nicht, um mir dazu eine Meinung zu bilden, dazu müsste ich mich erst mehr mit der Theologie beschäftigen.
Gott über alles lieben steht sicher über Bibeltreue, die Frage ist aber, ob es sich widerspricht. Ich meine, nein. „Wer mich liebt, der wird meine Gebote halten“, sagt Jesus. „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so werdet ihr meine Jünger sein“.
@Peter,
ich hoffe, es wird nicht nur ein „Sammelbecken“ von Fundamentalisten geben (wenn man Fundi positiv definiert), sondern ich hoffe, die Anzahl der bibeltreuen wird wieder zunehmen. Im Prinzip sollte das biblische Christentum wieder die fuehrende Bewegung werden. Sonst kann die Bibel eben nicht mehr die Kultur prägen.
Das ist aber dringend nötig. Im 2. Thessalonicher ist von dem die Rede, der den Antichristen aufhält. Das verstehe ich als die Gemeinde. Um aber so als Salz und Licht wirken zu können, darf man sich eben nicht an die Welt anpassen. (Die Gefahr bei einem postmodernen Wahrheitsbegriff ist ja, dass die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse verloren geht). Oder wo seht „Ihr“ noch das „Böse“ (die Welt), an das man sich nicht anpassen darf?
@Roderich: Ich frage mich, was Du mit „postmodernem Wahrheitsbegriff“ meinst, oder ob das für Dich doch eher ein Oxymoron ist? Klar gibt es auch hier Wertungen wie gut und böse (öfter aber wirst Du vielleicht Begriffe wie „konstruktiv“ und „destruktiv“ antreffen, die mehr die Wirkung als die moralische „Korrektheit“ akzentuieren) und natürlich auch eine Unterscheidung zwischen Wunsch, Wahn und Wirklichkeit. Aber eben nicht – ich sag das jetzt mal zugespitzt – in dem krassen Dualismus, der für gewöhnlich dort gepflegt wird, wo die Bibel mit Gottesattributen wie „unfehlbar“ versehen wird und die Aufmerksamkeit auf dem Buchstaben der Schrift statt dem Geist Christi liegt…
@Roderich,
Ich habe gerade das Buch von Shane Claiborne gelesen, dass alles andere als angepasstes Christentum aufzeigt. Eben eine Unangepasstheit in vielen sozialethischen Fragen, das ich so sehr vermisse. Das würde sicher helfen, deine Frage zu beantworten.
http://www.amazon.de/verr%C3%BCckt-leben-Kompromisslose-Experimente-N%C3%A4chstenliebe/dp/376553935X/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1322107232&sr=8-1
@Gerri,
ich kenne das Buch noch nicht, ich nehme an, es wendet sich stark gegen Konsumismus, gegen die Vergötzung des Reichtums, gegen die mangelnde Barmherzigkeit gegenüber den Ausgestossenen etc. – also sicher in Teilbereichen ein guter Ruf zur Umkehr.
Die Frage bleibt aber, ob die „Strukturen der Gesellschaft“ als das Böse angesehen werden, oder das, was im Herzen des Menschen ist.
Sog. Linke Christen werden eher diese oben genannten Sünden geisseln. sogenannte Rechte Christen eher die Dinge wie Abtreibung, Homosexualität, Sozialismus, etc.
Beides sind aber relevante Aspekte und die Kritik am einen schließt nicht die Kritik an dem anderen Bereich aus.
Wenn viele linke Christen sagen: bei Homosexualität, Abtreibung, Sex vor der Ehe etc. muss man „gnädig“ sein und da die Sünde nicht mehr beim Namen nennen, passen sie sich eben zu sehr an. Das beobachte ich mit einiger Trauer bei manchen Strömungen der Emerging Church, so auch hier auf dem Blog. Das postmoderne Wahrheitsverständnis führt eben dazu, dass man manche Aspekte der Bibel nicht mehr ernst nimmt, und es macht einen viel anfälliger für den Zeitgeist. (Und der steht nun mal links, oder warum tummeln sich hier kaum politisch rechts stehende Leute?)
@Peter, ja, „postmodernes Wahrheitsverständnis“ könnte man als Oxymoron sehen, aber auch Postmoderne haben ja eine „Ansicht“ darüber. Sie selber müßten, wenn sie ganz konsequent wären, auch sagen: unsere eigene Ansicht über die Wahrheit, nämlich dass alles relativ ist, ist auch relativ, also nur unsere Meinung, es steht also jedem frei, sie abzulehnen. Aber ich nehme an, dieser Blog vertritt diese Sicht nur teilweise. Bei der Frage, WELCHE Sicht man denn nur noch wirklich mit Sicherheit aus der Bibel ableiten könnte, werde ich hier aber vermutlich keine Antwort erhalten 🙂
Denn wenn mir Du oder jemand anders irgendeine Sichtweise als mit Sicherheit aus der Bibel ableitbar präsentieren würdest, könnte ich diese „Sicherheit“ mit Deinen oder Euren eigenen Argumenten widerlegen.
Das heisst dann übrigens auch, die linken politischen Sichtweisen kann man auch nicht aus der Bibel mit Sicherheit ableiten. Ich habe das Buch von Shane Clairborne noch nicht gelesen, kann also dazu nichts sagen, weiss also auch nicht, ob er politisch eher links oder rechts steht oder auch GAR keine Aussage dazu macht. Aber um bei dem Beispiel zu bleiben: JEDE der Aussagen von Shane Clairborne, auch die theologischer Art, werden durch den Postmodernen Ansatz von selbst relativiert. Man kann jede seiner Sichtweisen (und eben nicht nur die Befürwortung des Waffenbesitzes, sondern auch die Befürwortung der Barmherzigkeit und des authentischen Christentums etc.) widerlegen oder relativieren, indem man sagt: woher weißt Du, dass die Bibel das wirklich sagt? Die Auslegung ist doch nur relativ?
Im Prinzip macht sich das Postmoderne Christentum dann irgendwann von selbst überflüssig, denn wenn alles relativ ist, verschwindet letztlich jede Substanz irgendwann.
So mag es zwar – zu Deiner / Eurer Freude – so sein, dass die „Bibeltreuen“ im Moment weniger werden, aber die postmodernen werden – leider – dazu tendieren, sich immer mehr der „Welt“ anzupassen, und irgendwann eben von selbst verschwinden.
@Roderich: Das ist mir alles viel zu wage und unbestimmt. In meinem Blog findest du ganz konkrete Aussagen. Ich wiederhole hier noch mal mein Angebot: Schreib auf THE INDEPENDENT FRIEND einen Artikel über die vermeintlich oder tatsächliche Irrtümer der Quaker, und ich werde darauf eingehen. Dann werden wir sehen, ob ich der Beliebigkeit , dem Subjektivismus und dem Relativismus anheim gefallen bin.
@Roderich: Jesus hat von sich gesagt „ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Ist das Sicherheit? Ist das eine Regel, an die du dich klammern kannst und durch die du die Welt erklären kannst? Jesus hat oft die Pharisäer vor den Kopf gestoßen, die sich so sicher waren, dass sie alles „richtig“ machen (und ich will damit nicht sagen, dass Jesus nicht voll von Liebe für diese Leute war… Wahrscheinlich hat er sie gerade deshalb herausgefordert ihre Sicherheiten aufzugeben).
Wenn ich dir das jetzt als eine von mir erkannte biblische Wahrheit darlege, dann ist das natürlich keine 100% sichere Auslegung, dass das auch so von Jesus gemeint war. Aber die wirst du erst haben, wenn du mit ihm darüber redest (und selbst dann vermutlich nur in soweit, dass du ahnst, dass du verstehst, was er meint… Kommunikation… Das Problem mit Sender und Empfänger und der Interpretation dazwischen kennst du, oder?).
Dafür kann ich dir aber sagen, dass das etwas ist, das MIR in meinem Leben weiter geholfen hat. Da wird´s persönlich und subjektiv. Kommst du damit klar? Ich bin gut „evangelikal“ in einer LKG aufgewachsen und gehe jetzt in die citychurch, welche Teil der FEG´s ist aber doch recht „postmodern“. Bin also ein „Guter“ 😉
Mir hat das sehr gut getan von dem „der ist Christ“= ein Guter/ „der ist nicht-Christ“= ein Verlohrener Weltbild weg zu kommen. Die größte Unsicherheit in dieser Denkweiße ist doch die Frage nach der Grenze. Wann ist jemand Christ? Schon ärgerlich für die Sicherheitsfanatiker, dass man da in der Bibel nur so „schwammige“ Aussagen bekommt (wie z.B. die Aussage mit der ich gestartet habe). Ist man jetzt Christ wegen den Guten Taten, weil man an Jesus glaubt oder wann? Und dann die tollen Fragen, was denn mit Leuten ist, denen niemand das Evangelium verkündet hat… Ist man gerettet, wenn man einmal das Glaubensbekenntnis aufsagt (und es in dem Moment vielleicht auch so meint)?… (das ist wichtiger Abendfüllender Hauskreisstoff… Lenkt auch wunderbar von den persönlichen Problemen und Gefühlen ab…)
Was ich als besonders unangenehm empfunden habe ist, dass man anfängt die Leute „abzuchecken“. Der geht jeden Sonntag in die und die Kirche (da sind auch nicht alle Kirchen gleichwertig…) und ist auch sonst ein „braver“, dann ist er Christ wie ich (also ein Guter). Bei allen anderen (und das sind sehr sehr viele) ist man sich da schon erstmal nicht so sicher und muss deswegen permanent alle „bekehren“. Das „Bekehren“ an sich wird dann aber auch recht schwierig, weil du als einziger „Guter“ auf weitem Raum stehst in einer sündigen Welt, die permanent gegen dich ankämpft und versucht dich von deinem Denken abzubringen und deine Regeln zu hinterfragen. Man kämpft permanent und muss allen zu 100% seine Denkweise (weil nur wenn man so denkt wie du, ist man ein guter Christ) aufzwingen.
Wenn Jesus sagt „er ist die Wahrheit“, dann ist folgender Schluss nur logisch:
Du hast die Wahrheit nicht, genau so wenig wie ich sie habe. Auch keine Kirche und keine Theologie hat die Wahrheit erfasst. Werden wir auch nie. Die Wahrheit ist nämlich Jesus und der lässt sich nicht in Regeln und Gesetze pressen. Von daher finde ich den postmodernen Ansatz recht bibeltreu 😉
Dafür nehme ich auch in Kauf, dass es „schwammiger“ wird und ich keine klare Grenze ziehen kann um mir meine „Christen-In-Group“ zu basteln (kann ich ja eh nicht). Für mich ist das Gefühlt auch sehr befreiend, weil ich jetzt auch anfange unverkrampft mit den „Sündern“ zu reden, mich versuche in ihre Welt hinein zu versetzen, von ihnen zu lernen und ihnen meine Lebenserfahrungen weiter zu geben. Seltsamerweise schaffe ich es so viel öfter als früher mal „neue Leute“ mit in meinen Gottesdienst zu nehmen und zu „missionieren“. Und dabei bin ich mir noch nicht mal wirklich im klaren darüber, was eigentlich mein Ziel beim Missionieren ist. Ich will sicher nicht, dass die Leute irgendwann mal in einer Predigt nach vorne gehen und ein „Lebensübergabe“-Gebet sprechen. Es tut mir einfach gut, von diesem großen heiligen Gott zu hören, von seiner Liebe für die Welt und auch für mich. Da ich glaube, dass das allen gut tut – vor allem den schlimmen „Sündern“, die sowieso von der ganzen Welt gesagt bekommen, dass sie nicht gut genug sind und die deswegen in vielen Gemeinden keine Mitglieder werden dürfen, nicht Mitarbeiten dürfen (OK… Stühle stellen dürfen vielleicht auch noch die Homo´s, aber Predigen, oder Kinderarbeit, oder… geht auf keinen Fall…) und am besten von Anfang bis Ende von ihrem sündigen Lebensstil abgebracht werden müssen. Offen gesagt macht mich das richtig traurig und sogar wütend. Die „Sünder“ sind nicht willkommen, weil die „guten Christen“ sonst ein Problem mit ihrem Regelsystem in ihrem Kopf haben. Vielleicht täte es dir als guten Christen mal gut dich in deren Situation hinein zu versetzen. Am besten geht das, wenn man sich mit denen unterhält. Und zwar wirklich unterhält. Fall nicht wieder in die Schiene, dass du der einzig Gute bist, der denen jetzt helfen muss auch gut zu werden. Nehm dir mal vor zu denken, dass die auch gut sind und so handeln, wie sie handeln, weil sie glauben, dass das gut ist.
Sag ich noch was zur Sexualethik?
Eine Frau soll gesteinigt werden. Jesus tritt vor die Menge und sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“
Plötzlich kommt ein riesiger Wacker geflogen und trifft die Frau am Kopf. Tot.
Jesus dreht sich um und meint: „Mutter, manchmal kotzt du mich echt an!“
😉
Geht es euch wirklich um die Menschen?
Wird die Diskussion geführt, weil euch Ehebrecher etc. wichtig sind und ihr sie liebt und das beste für sie wollt? Oder geht es eher um die Angst, dass der „Wahre Glaube“ hier verteidigt werden muss? Für letzteres finde ich die Evolution/Schöpfungs-Debatte besser. Die tut niemandem weh…
Ansonsten ist „Familie und Kinder“ auch nicht bibeltreu. Paulus empfiehlt ganz klar seinem Vorbild zu folgen. Und die WWJD-Leute müssten auch Single bleiben…
Aber Singles wiedersprechen dem „vermehrt euch“ Gottes in der Schöpfungsgeschichte…
Bibeltreu zu sein ist echt schwer…
Zum Schluss noch ein bisschen Beruhigung für deine Sorge, dass die postmodernen Christen irgendwann von selbst verschwinden, weil sie sich zu sehr mit der Welt vermischen:
Ich glaube, dass wir schon genug Unterschied machen, wenn wir uns nur an das „Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“ halten. Das kommt von dem, der von sich sagt, dass er die Wahrheit ist, auf die Frage, was denn das wichtigste Gebot ist. „Liebe deinen Nächsten“ macht schon sehr viel Unterschied… aber es ist nicht in Regeln greifbar, weil was heißt „lieben“? Wie liebe ich einen Mitmenschen?
Sicher nicht dadurch, dass ich ihn nicht in meiner Kirche haben will.
@Martin: Ja, gab ja schon Missverständnisse zwischen den Jüngern und Jesus zu Lebzeiten. Ich denke auch das es irrig ist, zu glauben das ein Text der zu einer ganz anderen zeit geschrieben wurde, unter Umständen die wir nicht kennen, von einem Autor den wir nicht kennen, wo nicht klar ist, ob der Autor Jesus persönlich gekannt hat, und ob er ihn auch korrekt verstanden hat usw. usw… das dieser Text (die Bibel) unmissverständlich sein soll. Unmissverständlicher als die direkte Kommunikation zwischen Jesus und seinen Jüngern. Extrem unwahrscheinlich.
Deshalb ist es uns Quakern auch so wichtig zu betonen das wir glauben, Jesus ist schon zurückgekehrt uns selbst zu lehren. Er ist in jedem Menschen. Wenn wir uns von unserem Ego entfernen und uns dem Inneren Licht zuwenden, werden wir erkennen können was in Gottes Willen ist.
Wahrscheinlich eine beängstigende Vorstellung für viele. Zum einen, weil man sich auf sich selbst zurückgeworfen fühlen kann. Muss man doch auf ein mal selber erkennen welches der Weg zu Erlösung ist und zum Anderen das noch auf eigene Verantwortung tun.
Aber nicht ganz. In der Gemeinde/Versammlung kann man sich über seine Erfahrungen auf der Sucht austauschen und sich selbst überprüfen und inspirieren lassen. Und natürlich hat man auch Verantwortung dem Anderen gegenüber. So das man sich gegenseitig ermahnt, wenn man erkennt, das man sich verrannt hat. Die Bibel ist dabei sehr hilfreich. Gibt es doch fast kein Denkmuster oder Verirrung für die es nicht auch in der Bibel eine Geschichte gibt, in der man sich wiedererkennen kann. Aber die Lösung wird man nicht allein in den Buchstaben finden. Man muss bereit sein sich dem inneren Christus zu öffnen und sein inneres Kreuz auf sich zu nehmen.
Nur um einem häufigen Missverständnis vorzubeugen: Quaker halten sich nicht für unfehlbare reinkarnierte Jesuse.
@ Olaf Radicke: Was ist für euch der Heilige Geist? Nur weil du so betonst, dass für euch Quaker (wieder so eine In-Group-Bildung, die ich nicht mag…) Jesus schon zurückgekehrt ist um euch selbst zu lehren… Nach meinem bisherigen Verständnis deckt sich das sehr mit dem Heiligen Geist Vorstellungen…
marcia pally, deren zeitartikel anlass für diese intensive diskussion war, kommt übrigens im februar nach berlin: http://haso.posterous.com/marcia-pally-kommt-zum-transforum