Vor zwei Jahren erhielten die Aktivistinnen von Pussy Riot den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, vergeben vom Senat der Freien Hansestadt Bremen und der Heinrich Böll Stiftung. In der Begründung dazu hieß es:
Bei ihrem Auftritt in der Moskauer Erlöserkathedrale riefen sie in ihrem „Punkgebet“ Mutter Maria als feministischen Beistand an, um das Bündnis zwischen der orthodoxen Kirche und dem Kreml zu bekämpfen. In dem Prozess, der gegen die Aktionsgruppe geführt wurde, verteidigten sie sich mutig. Aus der Lagerhaft heraus setzten Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina ihren Widerstand fort. Nach ihrer Entlassung stellten sie sich als Aufgabe, über das System der russischen Straflager aufzuklären und Solidarität für die Gefangenen zu organisieren.
Interessant ist, wie sich Spiritualität und Politik hier verbinden. Ich wurde erst jetzt durch ein Kapitel aus Spiritual Activism von Alastair McIntosh darauf aufmerksam (danke an Thomas Zeitler für den Hinweis!). McIntosh zitiert aus den Erklärungen, die die Musikerinnen während ihres Gerichtsverfahrens abgaben. Auf den Seiten der FAZ ist das auszugsweise in Übersetzung nachzulesen. Und da zeigt sich, wie ernst und durchdacht die Aktion war, die in vielen Berichten nur als schriller Tabubruch und trotzige Provokation dargestellt wurde.
„Pussy Riot Putin“ (CC BY 2.0) by AK Rockefeller
Marija Aljochina erklärte, dass Putin persönlich gar nicht gemeint war mit der Aktion, sondern ein System, dem der Machtmensch womöglich selbst verfallen ist:
„Wenn wir von Putin reden, meinen wir nicht in erster Linie die Person W. W. Putin, sondern Putin als das von ihm selbst erschaffene System – die praktisch vollkommen von einer Hand gelenkte Machthierarchie.“
McIntosh spricht hier vom „politischen Unbewussten“, das sich nur schwer explizit, dafür aber bildlich, symbolisch und intuitiv erfassen lässt, und greift den Begriff des autonomen Komplexes aus der Psychologie C.G. Jungs auf (Komplexe können bei Jung auch überindividuell auftreten, dann sind sie keine abgespaltenen, verleugneten Persönlichkeitsanteile, die es zu integrieren gilt, sondern ein gefährliches Phänomen). „Putin“ ist „ein mit Gefühlen aufgeladenes libidinöses Feld“, schreibt McInstosh. Der Politiker Wladimir Putin steht möglicherweise selbst unter dem Eindruck des Systems, das er installiert hat.
Und die Wirkung dieses Komplexes ist, dass Menschen resignieren und sich ohnmächtig fühlen. Erst gestern rätselte ich mit einem Freund darüber, warum der Widerstand gegen die Willkür der Regierung in Russland so unglaublich schwach ausgeprägt ist. Passend dazu sagte damals Aljochina:
Diese Leute haben aufgehört, sich als Bürger zu fühlen. Sie fühlen sich einfach als automatische Massen. Sie haben nicht einmal das Gefühl, dass ihnen der Wald direkt neben ihrem Haus gehört. Ich bezweifle sogar, dass sie ihr eigenes Haus als ihren Besitz betrachten. Denn wenn jemand mit dem Bagger am Hauseingang dieser Leute vorfährt und ihnen sagt, dass sie das Feld räumen müssen: „Entschuldigung, wir reißen Ihr Haus jetzt ab. Hier kommt jetzt ein Wohnsitz für einen Funktionär hin“, dann werden sie gehorsam ihre Sachen packen und auf die Straße gehen. Und sie werden da so lange sitzen bleiben, bis die Regierung ihnen sagt, wie es weitergeht. Sie sind vollkommen amorph – das ist sehr traurig.
Nachdem ich fast ein halbes Jahr im Untersuchungsgefängnis verbracht habe, ist mir klargeworden, dass das Gefängnis Russland im Miniaturmaßstab ist.
Die Macht des Systems ist (noch) ungebrochen, aber der Prozess gegen Pussy Riot hat es demaskiert, und sei es auch noch so punktuell und vorübergehend. Der Druck, sich durch ständige Propaganda selbst zu legitimieren, nimmt zu, und damit auch die Anfälligkeit für Fehler. Denn auch wenn die Nachfrage nach Augenöffnern derzeit nicht hoch ist – wer will, kann eben doch sehen, wie brüchig die Legitimation der Macht ist. Darauf weist Nadjeschda Tolokonnikowa hin:
Mit unserer Aufführung haben wir es gewagt, das visuelle Bild der orthodoxen Kultur ohne den Segen des Patriarchen mit der Protestkultur in Verbindung zu bringen, damit gescheite Menschen auf die Idee kommen, dass die orthodoxe Kultur nicht nur der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und Putin gehört. Sie kann auch auf Seiten der bürgerlichen Rebellion und der Proteststimmungen in Russland stehen.
[…] Im Vergleich zum Justizapparat sind wir nichts; wir haben verloren. Andererseits haben wir gewonnen. Die ganze Welt sieht jetzt, dass das Strafverfahren gegen uns manipuliert ist. Das System kann den repressiven Charakter dieses Prozesses nicht verbergen.
Das Gebet in der Kathedrale war aber auch ein prophetischer Weckruf an die orthodoxe Kirche, die korrupte Politik verklärt und von der Nähe zur Macht profitiert, dafür steht Patriarch Kyrill, dessen Vermögen 2012 auf 4 Milliarden Dollar geschätzt wurde. Der Patriarch war entsprechend empört über die Respektlosigkeit dieser Ruhestörung und sprach von Blasphemie. Die Punk-Prophetinnen hingegen wiesen darauf hin, dass ihr Gebet – ganz im Gegenteil – höchst aufrichtig und ernst gemeint war.
Eine zeitgemäße Form der Tempelreinigung ragt also unter den wenigen Protesten gegen das „Putin-System“ oder den „Putin-Komplex“ heraus. Das spricht für McIntoshs Vermutung, dass Glaube und Spiritualität eine wichtige Dimension im politischen Ringen um Gerechtigkeit darstellen. Bei Gene Sharp vermisst er diese Hinweise. Srdja Popovic greift lieber auf Kunstmythen zurück (das hat, wie Terry Eagleton zeigt, der deutsche Idealismus nach der Aufklärung auch versucht). Und in Philipp Ruchs „Wer, wenn nicht wir“ ist diese spirituelle Leerstelle überall mit Händen zu greifen und durch kein anderweitig generiertes Pathos so recht zu ersetzen.
Davon lässt sich doch sicher lernen. In den letzten Monaten haben sich genügend autonome Komplexe bemerkbar gemacht, die den inneren und äußeren Frieden gefährden. Können wir Protestanten neben den bürgerlichen Protestformen (die wir auf der Ebene moralischer Appelle ja vielfach unterstützen) auch prophetische, und lässt sich das ökumenisch ausweiten?
Danke Peter für den Post! Ich bin vor ein paar Monaten über die Interpretation des „Punk Prayer“ durch den norwegischen Sänger Moddi (https://vimeo.com/164995853) neu auf Pussy Riot aufmerksam geworden und habe auch erst dann die spirituelle Dimension des Songs gesehen. Vorher hatte ich die Aktion auch eher als politische Aktion und Provokation eingeordnet.
Und ja, prophetische Prostestformen wünsche ich mir auch für die Gesellschaft und die Gemeindelandschaft in Deutschland!
Danke, Doro – dann sind wir schon mal zwei 🙂