Roman und Realität

Die Süddeutsche schrieb heute anlässlich der erschütternden Hinrichtung von Troy Davis:

Amnesty registrierte 2010 nur in China, dem Iran, Nordkorea und dem Jemen mehr Hinrichtungen als in den Vereinigten Staaten.

Erst vor ein paar Tagen habe ich John Grishams Thriller Das Geständnis, und war erstaunt, wie nahe an der Realität diese erfundenen Handlung liegt. Nicht erfunden ist freilich der gesellschaftliche Diskurs, der in den USA stattfindet und den Grisham nachzeichnet. Etwa die Bedeutung von Todesstrafen für politische Karrieren, aktuell die von Rick Perry in Texas, der gegen Barack Obama antreten will.

In mancher Hinsicht stehen die USA, zumal die USA der Republikaner, in ihrem Verständnis von rächender und strafender Gerechtigkeit den oben genannten Staaten näher als den meisten anderen Nationen. Spuren davon finden sich freilich auch in der Theologie, denn gerade unter den Protagonisten der Todesstrafe finden sich absurderweise viele konservative Christen. Auch diesen traurigen Zwiespalt zeichnet Grisham deutlich nach, ebenso wie die Tatsache, dass hier wieder ein Afroamerikaner das Opfer der Justiz geworden ist.

Weil nicht zu erwarten ist, dass dies in absehbarer Zeit anders wird, lohnt sich die Lektüre von Grishams Buch und natürlich der Nachrichten rund um Troy Davis‘ Tod. Es ist eine realistische Momentaufnahme eines Landes im Wahnzustand und seiner Justiz. Und ein gutes Gegenmittel gegen Knalltüten, die hier – immer angefeuert vom Boulevard, auch das zeichnet Grisham nüchtern ein – ähnliche Forderungen stellen.

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Von der „Windstille der Gemeindehäuser“

Heute bin ich auf einen interessanten Text des Theologen Ernst Lange gestoßen. Er stand in einer Zeitschrift aus dem Jahr 1958. Manches daran mutet deshalb schon etwas nostalgisch an, der Grundgedanke allerdings hat sich im kirchlichen Leben bisher noch nicht durchgesetzt. Man bleibt weitgehend konzentriert auf Gottesdienste und Sakralbauten. Lange dagegen hatte 1960 in Berlin-Spandau eine „Ladenkirche“ eingerichtet. Die Idee hat er aus East Harlem mitgebracht, wo drei Studenten eine Gemeinde in einem Metzgerladen gegründet hatten. Damit hat er das, was heute in der Missionalen Diskussion unter Third Places läuft, schon vorweggenommen. Hier sind seine Worte:

Das Leben der Zeit ist nicht in Kirchenräumen, nicht an Lagerfeuern und in Freizeitheimen. Das Leben der Zeit ist in Maschinenhallen, an Werkbänken und Schreibtischen. Da ist das Leben unserer Mitmenschen, da ist, wenn wir ehrlich sind, auch unser Leben. Jesus Christus, unser Leben, will nicht ein Scheinleben neben dem Leben sein, sondern er will das wirkliche Leben retten durch einen Rhythmus, der auch der Rhythmus der Maschine ist. Wir haben zu lange nein gesagt zur Maschine, zur Technik, zum Fortschritt. Das war kein gehorsames Nein, denn Gott hat dem Menschen als Beruf gesetzt, die Erde zu beherrschen. Und die Maschine ist weder Götze noch Dämon, sondern ein Werkzeug dieser Herrschaft. Nun sind wir weithin die Sklaven unserer Werkzeuge geworden. Das schlechte, das unmenschliche Leben, das wir unseren Werkzeugen gegeben haben – nicht der Teufel, nicht das Kapital oder der Kommunismus – bekommen wir nun zurück: In den Riesenstädten, die uns den Atem nehmen, in den Mietskasernen, da der Gruß auf der Treppe schon zu vertraulich ist, in der Vergnügungsindustrie, die unsere Zeit totschlägt!

Wir meinten zu lange, das seien Probleme der Welt, und wir müßten doch wissen, daß Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat. Gott will, daß wir die Herren unserer Werkzeuge seien und sie im Dienst füreinander verwenden. Es ist an der Zeit, daß wir lernen, ein freies und freudiges Ja zur Maschine zu sagen, denn sie ist ein gutes Werkzeug für diesen Dienst. Es ist an der Zeit, daß wir unseren Beruf annehmen als ein Geschenk Gottes. Es ist an der Zeit, daß wir die weltlichen Probleme als unsere Fragen ernst nehmen, als Fragen nämlich, die Gott uns um des Nächsten willen stellt. Niemand nimmt uns die Verantwortung für unser Werk ab, dem berühmten Konstrukteur so wenig wie dem jüngsten Lehrling, der nur einen Handgriff am Fließband tut. Wir sind gefragt, ob dieser Handgriff Frieden schafft oder Unfrieden, ob er dem Nächsten dient oder nur uns selbst.

Das Leben der Zeit ist nicht das Leben der einzelnen, sondern das Leben der Massen. Es ist unser Schicksal, mit Tausenden zur Arbeit zu gehen, mit Tausenden in einem Block zu wohnen, mit Tausenden denselben Film zu sehen. Es ist unser Schicksal, die Anzüge zu tragen, die alle tragen, in Möbeln von der Stange zu wohnen, die Sprache der Massen zu sprechen, mag sie auch unschön sein. Wir gehören zu den Massen, arbeiten, essen und wohnen wie sie. Es ist ein schlechter, unmenschlicher Christenglaube, der uns so oft veranlasst, dieses Massenleben als etwas Verächtliches zu betrachten und uns schmollend in eine fromme Ecke zurückzuziehen. Das Leben der Massen ist unser Leben und unsere Aufgabe. Dort, wo die Menschen in Massen leben, müssen wir bewähren, daß Gottes Wort uns zu Menschen macht, nicht in den windstillen Räumen der Gemeindehäuser. Kinder zu verantwortlichen Menschen zu erziehen, obgleich Spiele sie mehr interessieren als Bücher, das Kino mehr als der Strickstrumpf – das ist christlicher, als den alten Verhältnissen nachzutrauern. Den Weg zum Nachbarn – auch und gerade in der Mietskaserne zu finden -, das ist menschlicher und christlicher, als sich darüber zu ereifern, daß die Kirchen leer sind. Mit einem Arbeitskollegen in der Frühstückspause ein gutes Wort zu sprechen -das ist so biblisch wie eine Bibelstunde, denn das Leben Christi will hinein in das Leben der Zeit.

Maschinen, Technik und Fortschritt haben sich über 50 Jahre später an vielen Orten gewandelt, die Erfahrung der Menschen, „Sklaven unserer Werkzeuge geworden“ zu sein, jedoch nicht, wenn man aufmerksam Zeitung liest. Anonyme Metropolen und organisierte Zerstreuung kennen wir auch zur Genüge.

Der Gedanke, dass „Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat“ beschäftigt heute auch wieder viele. Für Lange bedeutet das, die Technik zu meistern und zum Wohl anderer zu benutzen. Das bedeutet, sich erst einmal in der Verantwortung zu sehen und die Folgen unseres Handelns (oder unserer Untätigkeit) für andere zu bedenken. Ein eskapistisches oder isolationistisches Christentum – das wird man selten explizit, häufig dagegen implizit antreffen, und zwar überall da, wo Gemeinden und Christen sich selbst genug sind – meidet diese Herausforderung.

Und es besteht die Gefahr, das Leben der Massengesellschaft verächtlich zu betrachten und sich in die „windstillen Räume der Gemeindehäuser“ zu verkrümeln, um so etwas besonderes (und natürlich auch besseres) sein zu wollen. Lange hat schon damals vorausgesehen, was heute noch nicht allen bewusst ist, selbst wenn es unübersehbar geworden ist: eine weitreichende Entfremdung zwischen organisiertem Christentum und der Mehrheit der Gesellschaft.

Dass das Leben Christi in das so nüchtern beschriebene „Leben der Zeit“ hineinkommt, das ist die Aufgabe der Christen und Gemeinden. Langes Ladenkirche hat 2004 den Brunsbütteler Damm verlassen und sich in ein Kirchengebäude zurückgezogen. Die Gravitation des Gewohnten und Sakralen ist selbst im unkirchlichen Berlin noch übermächtig. Neue Anläufe können kaum mit institutioneller Unterstützung rechnen.

Sollte man sie dennoch wagen, oder ist Langes Entwurf Schnee von gestern?

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Wenn „richtig“ nicht mehr reicht…

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen, Alan Roxburgh auf dem IGW-Kongress in Rotkreuz/CH zu übersetzen. Er hat engagiert und komprimiert seine wichtigsten Thesen zum Thema Missionale Gemeinde vorgetragen und dann ging es in eine Runde „World Café“ mit 30 kleinen Gruppen, in denen alle gemeinsam Thesen zur „Kirchenreform“ erarbeiteten.

Das klingt nach einem hehren Anspruch – es ist ja nicht so, dass es zu diesem Thema bisher noch nichts gäbe – und in folgenden Plenum wurden die wichtigsten Gedanken kurz vorgestellt. für mich am Interessantesten war Alans Experten-Feedback. Er sortierte die Antworten beim Zuhören in verschiedene Kategorien, die unterschiedlichen Reflexen oder Standard-Voreinstellungen entsprechen. Soll heißen: Immer, wenn wir nicht weiter wissen, suchen wir unbewusst zuerst entlang solcher vorgegebener Linien nach der Lösung:

  1. „Pietismus“: Eine Jesus-bezogene Herzensfrömmigkeit führt zu Antworten wie: Wenn wir Jesus nur tief genug lieben (und unsere Mitmenschen auch), dann würde sich alles andere von allein regeln. Daher muss der Ansatz eine Erneuerung der Herzensbeziehung sein: Buße und Vergebung etwa, darauf hinwirkende Inhalte von Predigt und Verkündigung, mehr Gebet oder „Stille Zeit“. In der Regel ist damit auch eine Spitze gegen Strukturen und Institution verbunden, und das führt zum nächsten Reflex, dem
  2. Problematisieren: Wir suchen nach dem Punkt, wo es technisch „klemmt“. Der Gottesdienst (oder ein anderer Programmpunkt der Gemeinde) frisst zu viele Ressourcen, die Ausbildung der Pfarrer liegt im Argen, man braucht gar kein bezahltes Personal und keine Gebäude und so weiter
  3. Projekte: Wir veranstalten eine Konferenz oder entwerfen ein Schulungsprogramm, wir machen neue Gottesdienstangebote oder krempeln Kleingruppen und Hauskreise um, wir stellen anderes Personal ein, unternehmen eine Gebetsaktion oder lesen alle ein bestimmtes Buch.

An diesen Dingen ist nichts falsch. Allerdings bewegen wir uns auf diesen Linien eben immer noch im Bekannten und Vertrauten, das Problem ist also gerade ihrie „Richtigkeit“. Diese Reflexe so stark, weil wir das Heft in der Hand behalten. Nur sind wir ja möglicherweise gerade wegen dieser Standardreflexe an unsere Grenzen gestoßen! Glauben hat aber gerade mit dem Wagnis zu tun, sich auf Ungewissheiten einzulassen.

Ein paar der vorgetragenen Thesen gingen dann auch den einen, entscheidenden Schritt weiter: Damit sich wirklich etwas ändern kann, müssen wir erstens unsere Ratlosigkeit eingestehen und zweitens danach fragen, was eigentlich Gott in unserer Umgebung tut. Das setzt theologisch voraus, dass der Heilige Geist in der Gesellschaft wirkt und handelt und dass wir gemeinsam in der Lage sind, dieses Wirken zu entdecken. Hier kommt dann das gemeinsame Lesen der Bibel (Lectio divina oder auch „Bibel Teilen“) ins Spiel, ebenso wie das Warten auf Gott in Gebet und Stille und die aktive Kontaktpflege in der Nachbarschaft (nicht um dort gleich schon wieder etwas „an den Mann zu bringen“, sondern um Neues zu entdecken und zu lernen).

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Ungleiche Geschwister

In mancher Hinsicht stehen sich Marienfrömmigkeit und Bibel-Fundamentalismus sehr nahe, auch wenn Vertreter der letzteren Richtung mit der Muttergottes eher auf Kriegsfuß stehen. Es gibt aber trotz aller Gegensätze auch eine Reihe interessanter Parallelen:

Beide Male wird nicht nur eine Nebensache (hier Maria, da die Bibel) ins Zentrum des Glaubens gerückt, zum unverzichtbaren Glaubensgegenstand gemacht und mit quasi-göttlichen Qualitäten ausgestattet: Maria durch die Lehre von der „unbefleckten Empfängnis“, die besagt, dass sie absolut rein und von der Erbsünde ausgenommen war, die Bibel durch die Lehre von der „Irrtumslosigkeit“, durch die sie zum hundertprozentig reinen Gotteswort stilisiert wird, aus dem alles problematisch-menschliche (etwa kulturell bedingte und zeitgebundene Vorstellungen) dann abgeblendet werden.

Beide Male werden diese Behauptungen der jeweiligen Dogmen durch umfangreiche Theoriebildungen abgesichert (freilich nicht begründet), die sich in Zirkelschlüssen bewegen. Man setzt das zu Beweisende als gegeben voraus und versucht dann die ganze historische Wirklichkeit so zu deuten, dass sie ins Bild passt.

Beide Male scheint das ursprüngliche Ziel gewesen zu sein, die Göttlichkeit Jesu zu betonen, und man hat dazu entweder seine biologische Abstammung oder die literarische Urkunde so verklärt, dass man meinen könnte, sie sei selbst Teil der Dreieinigkeit geworden: Vater, Sohn und Heilige Schrift oder eben Gott Vater, Maria und Jesus. Man hat die Verteidigungslinie von Jesus weg auf eine Art Zwischengröße verlegt.

Beide Male geht der Kult auf Kosten der Pneumatologie: Wo Maria oder die Bibel Mittlerrollen übernehmen, da wird der Geist zur Nebensache und dient eher der Legitimation der Zusatzmythen als eine eigenständige Rolle zu spielen. Und auch die Christologie bekommt eine Schlagseite, weil im Blick auf Jesus dadurch in der Regel die Göttlichkeit die Menschlichkeit dominiert und aufsaugt. Der Mittler zwischen Gott und den Menschen, anders gesagt: der eigentliche Zugang, ist nun für die einen Maria und für die anderen die Bibel.

Maria hat dabei emotional und ästhetisch bessere Karten als die eher spröde Bibel. Und sie hat den Papst auf ihrer Seite, dem wie der Bibel ein Anspruch auf Unfehlbarkeit angehängt wurde. Abgesehen davon überwiegen aber die Ähnlichkeiten für mich.

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wahrhaft nahrhaft

In den letzten Tagen haben mich die Gemeinsamkeiten von Glauben und Essen beschäftigt. Neben den zahlreichen biblischen Verknüpfungen (wie z.B. Jesu Selbstbezeichnung als „das Brot des Lebens“, der Mahlgemeinschaft oder dem Manna-Wunder) gibt es da auch in unserer eigenen Erfahrung ein paar nette Parallelen:

  • Es ist in beiden Fällen ein grundlegendes, essen:zielles menschliches Bedürfnis,
  • man sollte jedoch nicht alles schlucken, was einem vorgesetzt wird;
  • mit den richtigen Zutaten kann es ein Genuss sein;
  • Hausmannskost und Haute Cuisine – beides ist möglich und hat seinen Platz;
  • es macht mehr Spaß in Gesellschaft und
  • man tut gut daran, sich bewusst Zeit dafür zu nehmen.
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Der Preis der Angst

Zehn Jahre nach dem 11. September attestierte diese Woche der Politikwissenschaftler Dominique Moisi den Amerikanern im Interview mit der Süddeutschen eine „Kultur der Angst“, eine Erkrankung des öffentlichen Klimas und politischen Lebens:

Amerika ist kränker als gedacht, die Gesellschaft gespaltener als befürchtet. Und Barack Obama wohl auch nicht so außergewöhnlich, wie viele gehofft haben.

Politisches Kapital aus der Angst wollen vor allem die Republikaner schlagen. Wer die Paranoia nicht mitmacht, gilt schnell als Verräter. Den Preis zahlen die Bürger, wie die Financial Times konstatiert: Rache ist nämlich teuer. Und die zockenden Investmentbanker sind insgesamt gesehen gefährlicher als Terroristen.

Gleichzeitig berichtete das ZDF, dass die berüchtigte und viel strapazierte „German Angst“ auf dem Rückzug sei, auch wenn es weiterhin Besorgnis erregende Entwicklungen in der Welt gibt. Unsere Landsleute sind so optimistisch wie seit 10 Jahren nicht mehr, trotz Fukushima, Schwarzgelber Tristesse und Schuldenkrise. Die Vereinigten Staaten der Angst liegen jedenfalls nicht zwischen Rhein und Oder.

Und um allen Kulturpessimisten noch etwas mehr Wind aus den Segeln zu nehmen, haben neueste Untersuchungen ergeben, dass bei uns auch die Geburtenrate gestiegen ist – auf 1,6 Kinder pro Frau. Deutschland schafft sich nicht ab. Aber vielleicht eben seine (notorische?) Angst. Wenn wenigstens hier niemand mehr politisches Kapital daraus schlagen kann, ist das für alle gut.

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Testosteronbiotope

Den nachfolgenden Text habe vor einer ganzen Weile für die Zeitschrift dran geschrieben. Weil die Ausgabe von damals die inzwischen in den Ablagen und Archiven schlummert, poste ich es hier als einen Beitrag zur „Helden-Diskussion“ der letzten Tage, nur ganz leicht überarbeitet.

Manchmal scheint das Klischee zu sein: Brave Männer kommen in die Kirche, böse überall sonst hin. Das Dauerthema „Identität der Geschlechter“ ist in unseren Gemeinden ständig präsent, selbst wenn es nicht ausdrücklich angesprochen wird. Generell stehen wir vor der Frage, wie wir mit einer zwar nachlassenden, aber an vielen Stellen eben noch spürbaren doppelten Schieflage umgehen: Oft noch relativ wenige Frauen in Leitungsfunktionen und oft gleichzeitig zu wenige Männer in den Gottesdiensten und bestimmten Arbeitsbereichen, denn nicht nur ein Kindergärten und Grundschulen, auch in den Kindergottesdiensten dominieren die Frauen. Kleine Jungs und junge, tatkräftige Frauen – beide finden zu wenig Vorbilder und Identifikationsfiguren. Ein Thema gegen das andere auszuspielen hilft also nicht weiter. Wenn ich im Weiteren hier über die Frage schreibe, was mit den Männern los ist, dann darf das nicht als indirekte Klage über eine „Verweiblichung“ der Gemeinden verstanden werden.

Sind christliche Männer also nur fromme Weicheier, die „echte“ Männer abschrecken, oder „flüchten“ die eher vor der Überzahl der Frauen? Ein Freund ist beruflich aus der Gemeinde in die Wirtschaft gewechselt. Dort trifft er viele Männer, die ein großes Bedürfnis haben, über den Glauben zu reden. Aber die Gemeinden in seiner Region sprechen sie einfach nicht an.

Die Bibel gibt uns keine direkten Anweisungen, was zu tun ist, um mehr Männer zu „erreichen“. Aber vielleicht sollten wir der Frage nachgehen, ob wir das Evangelium so weit privatisiert haben, dass viele Männer finden, für ihre Lebenswirklichkeit spielt es keine Rolle – es sei denn, sie sind (und das ist jetzt nicht ironisch gemeint) gerade im Erziehungsurlaub.

Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen an sich sind unerheblich:

Frauen werfen nicht so gut. Sie sind weniger aufgeschlossen für One-Night-Stands, neigen nicht so stark zu körperlicher Aggression und masturbieren seltener. Die anderen Differenzen fallen, statistisch gesehen, kaum ins Gewicht (Aus „Frauen sind auch nur Männer“ in: Zeit Wissen 01/2007).

Die sozial konstruierten und historisch geformten Rollen – und im Zusammenhang damit die verschiedenen Lebenswelten – sind der Knackpunkt: Wir haben ja auch herzlich wenig „Karrierefrauen“ in den Gemeinden, die keinen sozialen Beruf haben. Karriere machen fordert oft einen unangemessenen Tribut: Gesundheitlich, familiär und spirituell. Unsere Karrieremodelle an sich sind krank, für Männer und Frauen.

Predigtinhalte bewegen sich in der Regel im Bereich persönlicher Moral (Ehrlichkeit, Treue etc.) und wenn es dann wirklich mal „politisch“ wird, geht es um Familie oder Abtreibung – schon wieder ein „Frauenthema“. Über Arbeit und Beruf wird selten gesprochen, und wenn, dann geht es wieder oft um Moral, und für „typisch männliche“ Sünden (die haben zumindest in der Regel des Klischees mit Sex zu tun) gibt es dabei deutlich weniger Verständnis. Wirtschaftsethik fehlt dagegen, auch wenn Kapitalismuskritik seit der Finanzkrise schon mal im Nebensatz einer Predigt erscheint.

Unsere dominierende Metapher für Gemeinde ist die Familie. Nur bedeutet Familie im 21. Jahrhundert „Kernfamilie“ (wenn nicht gar „Rumpf-Familie“), also emotionaler Nahbereich. Das war im ersten Jahrhundert und bis vor wenigen Generationen noch ganz anders, auch wenn wir damals wie heute dieselben Begriffe verwenden. Viele Männer fühlen sich, gerade wenn sie einen Job mit Verantwortung haben, in der eigenen Familie aber schon fremd (ähnlich wie Kaufleute im Mittelalter, die Monate auf Reisen waren), folglich erst Recht in der Gemeinde.

Erschwerend kommt dann noch die ausgesprochen intime Lobpreiskultur dazu, mit viel Herz und erkennbar weniger Anforderung an den Intellekt. Das romantisierende Motto „In Love with Jesus“ mag für Frauen ja noch ohne Peinlichkeiten abgehen, aber auf die meisten Männer wirkt es schon etwas gewöhnungsbedürftig. Sie sitzen (zumindest in der Öffentlichkeit) auch nicht so gern „auf dem Schoß des Vaters“. Und das müssen sie auch nicht, denn in der Bibel wird die Liebe zu Gott weder zu romantischem Geturtel verklärt noch auf Babyniveau verniedlicht.

Im Griechischen ist ekklesia – das in unseren Bibeln mit „Kirche“ übersetzt wird – ein Begriff aus der Politik. Wir sind nicht nur Gottes Familie, sondern sein Volk. Diese weitere Dimension fehlt heute an vielen Stellen, wo das Evangelium auf Lebenshilfe im Beziehungsbereich reduziert wird. Dabei war es mal eine Botschaft, deren Träger wegen Hochverrats als Staatsfeinde hingerichtet wurden.

Heute beschränken sich viele Gemeinden auf das Private und Intime, sie ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück – ein Trend, der geschichtlich gesehen in Freikirchen und im Pietismus besonders ausgeprägt ist. Und wegen manch missglückter Politisierung zur Rechten und Linken legt man in vielen Gemeinden Wert darauf, überhaupt nicht politisch zu sein, nach dem Motto, wer nichts macht, macht auch nichts falsch. Nur geht das doch gar nicht: Wenn wir zu den meisten politischen und gesellschaftlichen Themen schweigen, sagen wir damit indirekt, dass sie Gott egal sind. Und diese Botschaft wird sehr wohl verstanden!

Christliches Machotum oder fromme Cowboy-Erlebnispädagogik ist für mich keine ausreichende Lösung. Damit schafft man künstlich Reservate in einer immer noch widrigen Umgebung. Vermutlich helfen uns auch die autoritätslastigen, patriarchalischen Männerideale vom „Haupt der Familie“ nicht weiter, die bei vielen die normale Überforderung im Spannungsfeld Familie-Beruf-Gemeinde noch potenzieren.

Das Problem sind nicht die Männer („zu weich“, „zu hart“, „zu oberflächlich“) und auch nicht die Frauen („zu viele“, „zu stark“, „zu emanzipiert“). Das Problem ist, dass wir Glauben privatisiert, moralisiert und in einer ganz bestimmten intimen Tonlage emotionalisiert haben. Wir brauchen daher keine Testosteronbiotope, sondern einen grundlegenden Kulturwandel in den Gemeinden, der auch vielen Frauen gut tun wird: Wir müssen uns auf unsere komplizierte und unheile Welt einlassen, uns Fragen stellen, auf die man nicht sofort eine Antwort und die passende Bibelstelle dazu weiß. Sonst nehmen Männer uns – völlig zu Recht – nicht ganz ernst.

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Gewinnen und verlieren

Bei Richard Rohr bin ich noch auf einen interessanten Gedanken gestoßen, der das Thema Helden/Antihelden von letzter Woche etwas weiter führt:

In der ersten Lebenshälfte bekämpfen wir den Teufel und haben die Illusion oder den schmeichelhaften Eindruck, dass wir ab und zu „gewinnen“; in der zweiten Lebenshälfte verlieren wir immer, weil wir unweigerlich mit Gott kämpfen. Die ersten Schlachten festigen das Ego und schaffen einen standhaften Soldaten; die zweiten Schlachten bringen dem Ego Niederlagen bei, weil Gott immer gewinnt. Kein Wunder, dass viele den standhaften Soldaten so schwer loslassen können; kein Wunder, dass so wenige den Glauben haben, um erwachsen zu werden. Das Ego hasst es, zu verlieren, selbst gegen Gott.

Hier erscheint die Fähigkeit, mit Niederlagen umzugehen und sich Siege nicht zu Kopf steigen zu lassen, als ein entscheidendes Merkmal für den Übergang zur spirituellen Reife. Die Projektion eines plumpen Heldenideals auf Jesus führt dagegen zu solchem Quatsch, wie ihn die Süddeutsche gerade aufgespießt hat. Da sagt der Künstler Stephen Sawyer zum Beispiel:

Männer brauchen Helden. Einen, der das verkörpert, was sie gern wären. Der Jesus, der vor über 2000 Jahren auf die Erde kam, war für mich ein echter Held. Er war klüger, stärker und sah meiner Meinung nach auch besser aus als ich.

Wenn man das liest und sieht, dann bekommt man wieder ein Gespür dafür, warum es im Judentum und im Islam ein Bilderverbot gibt. Eigentlich auch im Calvinismus, aber Neocalvinisten wie Mark Driscoll gehören auch zu denen, die (dann eben verbal) die krassesten Macho-Projektionen abliefern. Vom Calvi- zum Chauvinismus ist es offenbar nur ein kleiner Schritt, jedenfalls verrät Sawyer im Interview, dass Nationalstolz und Religion für ihn eng verwandt sind: Mein Gott ist der coolste und stärkste. Das entspricht in etwa dem Reflexionsniveau eines Achtjährigen.

Ob man überhaupt sagen kann, die Christenheit sei verweiblicht, ist eine interessante Frage. Ich habe vor einer Weile ein paar Gedanken dazu hier gepostet.

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Weisheit der Woche: gefährliche Unschuld

Die erste Naivität ist die ernsthafte und gefährliche Unschuld, die wir manchmal an jungen Eiferern bewundern, aber sie ist auch der Grund, warum wir ihnen nicht folgen, wenn wir schlau sind, und warum wir sie nicht zu Leitern wählen und ihrer Leitung folgen sollten. Wahrscheinlich ist es nötig, viele Zweifel auszublenden, wenn wir jung sind: das ist eine gute Überlebenstechnik. Aber solche Weltbilder sind nicht wahr, und sie sind auch keine Weisheit.

Richard Rohr, in: Falling Upward

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Abenteuerliche Argumente?

Seit einer Weile lese ich Michael Frosts und Alan Hirschs neues Opus Faith of Leap. Es ist mit dicken Vorschusslorbeeren von Scot McKnight ausgestattet, und weil ich die letzte Begegnung mit dem stets anregenden Michael Frost in Kapstadt noch im Hinterkopf hatte, habe ich mich in dieses Manifest christlichen Abenteurertums vertieft. Wer die beiden kennt, wird auch da, wo sie sich nicht explizit zitieren, ihre Themen sofort wieder erkennen: Erstens die Mission als der Gedanke, um den sich alles dreht, zweitens die von dem Ethnologen Victor Turner formulierten Themen Liminality und Communitas, also die Notwendigkeit von Grenzerfahrungen für a) das Wachstum im Glauben und b) die Bildung einer verschworenen Gemeinschaft. In dem neuen Buch stellen sie das alles nun unter das Leitmotiv des Abenteuers und des Heldentums.

Beim Lesen der ersten 100 Seiten habe ich drei unterschiedliche Reaktionen bei mir beobachtet: Erstens Zustimmung zu den wesentlichen Inhalten, zweitens leichte Ermüdung durch den Stil – es wirkt, anders als bei The Shaping of Things to Come, weniger aus einem Guss, man meint fast, die beiden live zu hören, ohne die Stimmen unterscheiden zu können: Einer sagt was, der andere kommentiert, ergänzt, wirft noch einen anderen Aspekt ein, dann antwortet wieder der erste und es geht im assoziativen Zickzack weiter. Da wird man – ich wenigstens – als Leser schon mal etwas ungeduldig, zumal auch noch zahlreiche Zitate den Textfluss hemmen. Drittens fand ich es seltsamerweise einfach emotional anstrengend. Wie gesagt, im Ziel stimme ich ja zu, aber irgendwie scheint mir da bisher zu sehr Appell und Belehrung und zu wenig Inspiration und Verführung drin zu sein. Und manche Beispiele (zum Beispiel von Cortez, der die Schiffe verbrennen lässt) fand ich einfach unglücklich gewählt.

Nun war ich im (zentralen?) Kapitel, The Hero’s Journey. Die beiden wählen wieder einen interessanten Anmarsch. Ausgangspunkt ist das Buch „Hero with a thousand Faces“ von Joseph Campbell. Campbell hat die traditionelle Mythologie verschiedener Kulturen untersucht und dabei ein Grundschema oder eine Art archetypischen Mythos (auch Monomyth genannt) (re?)konstruiert. Ob Campbell sich in der Literaturwissenschaft damit durchgesetzt hat, wird nicht erläutert, wäre aber eine interessante Frage. Die Versuche, die verschiedenen religiösen Traditionen auf ein gemeinsames Schema oder einen gemeinsamen wesentlichen Inhalt zu reduzieren bzw. in eine Meta-Religion (ob Hegel oder Baha’i) aufzuheben, sind ja auch alle recht problematisch gewesen.

Dann beschreiben die beiden ausführlich, wie Disney Campbells Schema rezipiert und seit über 20 Jahren ungemein erfolgreich vermarktet hat. Schließlich verweisen sie auf C.S. Lewis Äußerungen zum Thema „Mythos“, für den in Christus der vollkommene Mythos ganz zur historischen Tatsache geworden ist. Stark verkürzt lautet die These des Kapitels also: Im Grund verweisen alle Mythen auf das Evangelium und im Grunde sehnen sich alle Menschen, Christus als dem archetypischen Helden nachzueifern und ähnlich zu werden. Das ist, wenn ich es richtig sehe, ein primär anthropologisches Argument, gar nicht so verschieden vom größten Romantiker unter den Theologen, Friedrich Schleiermacher, der Jesus zwar nicht als den Prototypen des Abenteurers, sondern des mit Gott unmittelbar verbundenen Menschen ansah.

Etwas verunglückt fand ich die kurzen Ausführungen zu geistlichen Übungen. Da haben die beiden etwas nicht verstanden, fürchte ich, wenn sie kritisieren, dass es keine „Übungen“ zum Thema Risiko gebe, und dass in der Literatur kein Zusammenhang zwischen geistlichen Übungen und konkreter, einsatz- und risikofreudiger Nachfolge hergestellt werde. Geistliche Übungen sind dazu da, sich in Zeiten relativer Stabilität fit zu halten, um plötzlich auftretenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Ganz ähnlich wie man im Sport dosiert und maßvoll auf einen Wettkampf hin trainiert, aber eben in dem vollen Bewusstsein, dass der Wettkampf, in dem man dann alles gibt, nicht die Alltagssituation sein kann. Man könnte aber umgekehrt gerade das Gebet als Abenteuer entdecken, so wie Henri Nouwen das getan hat, und damit den unnötigen Gegensatz aufheben:

… das Gebet zieht uns weg von der Beschäftigung mit uns selbst, ermutigt uns, vertrautes Gelände zu verlassen, und fordert uns heraus, eine neue Welt zu betreten, die unser Herz und Verstand mit seinen engen Grenzen nicht fassen kann. Gebet ist daher das große Abenteuer, weil der Gott, mit dem wir eine neue Beziehung eingehen, größer ist als wir und alle unsere Berechnungen und Vorsichtsmaßnahmen missachtet.

Ich bin gespannt, wie es weitergeht in den nächsten Kapiteln. Meine Fragen im Augenblick sind:

  1. Abenteuer und Heldentum sind ja nun keine zentralen biblischen Kategorien. Mut schon eher. Setzt sich hier die neoromantische Tendenz aus „der Wilde Messias“ fort, wo solche Begriffe dazu dienen, wieder Interesse und Leidenschaft zu wecken und Abstumpfung und Gewohnheitstrott zu durchbrechen?
  2. Sollte man das Evangelium als den wahren Ur-Mythos etikettieren, der die Sehnsüchte aller Menschen bewusst oder unbewusst lenkt und allen anderen Mythen zugrunde liegt? Oder muss man das Evangelium eher als Anti-Mythos lesen und Jesus oder Paulus als Anti-Helden, die zwar dem Risiko nicht aus dem Weg gehen, wohl aber anders kämpfen und Erfolg anders verstehen als Odysseus oder König Artus?
  3. Sind moderne, areligiöse Kunstmythen wie Tolkiens Herr der Ringe oder die zahllosen pseudo-archaischen Retortensagen und Destillate, die Hollywood verfilmt hat, nicht in vieler Hinsicht noch ein ganz anderer Fall, den man gesondert betrachten müsste?
  4. Wie verhalten sich Held und Gemeinschaft zueinander? Ist es das Ziel antiker Heldensagen, jeden einzelnen Menschen zur Nachahmung anzuleiten oder gar anzutreiben oder drückt sich da eher das Bewusstsein aus, dass eine Gemeinschaft zwar immer wieder Helden braucht, die über sich hinauswachsen und sie retten, dass aber der Held gewissermaßen immer eine stellvertretende Aufgabe an seiner Gemeinschaft hat, so wie die großen Richter des Alten Testaments?
  5. Kann man Heldentum planen und machen, oder ist es eher so, dass man sich die wahren Abenteuer gerade nicht aussucht, sondern oft gegen seinen Willen berufen und ins kalte Wasser geworfen wird? Müsste man von da aus nicht eher fragen, wo wir schon längst im kalten Wasser schwimmen oder einen Ruf gehört haben, als darüber, wie man Grenzerfahrungen der Liminalität „künstlich“ herbeiführt?
  6. Widerspricht das Ideal der ständigen oder wiederholten Schwellenzustände nicht der Weisheit, die sich in vielen archaischen Übergangsriten ausdrückt, dass nämlich das Ziel die erneute Eingliederung in den sozialen Kontext ist, aber in einer neuen, veränderten Rolle, nämlich als Erwachsener? Anders gefragt: Läuft der gedankliche Ansatz dieses Buches auf eine Art permanente Adoleszenz hinaus und entspricht damit einer eher problematischen Tendenz unserer Zeit, die das Erwachsen- (und damit letztlich auch das Altwerden) so weit wie möglich hinausschieben möchte?
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Unüberwindlich

Reinhard Mey hat in einem seiner legendären Songs einmal drüber philosophiert, dass sein Hund in vieler Hinsicht das bessere Leben hat, nur die Kühlschranktüre kriegt er nicht auf…

Man sagt ja, dass Hunde in etwa die Intelligenz eines Kleinkinds erreichen können. Den Kühlschrank bekommen meine Kinder in der Tat schon lange auf, aber eine andere Tür hat sich im Laufe der Jahre als unüberwindliches Hindernis herausgestellt: Die der Spülmaschine.

Benutztes Geschirr, wenn es nicht wider alle Gesetze der Physik trotz verzehrten Inhalts bleischwer auf der Tischplatte lastet, schafft es eigentlich immer nur dank elterlicher Hilfe in den Geschirrkorb. Und gespültes Geschirr wird auch erst wieder angetastet, wenn es jemand in den Schrank geräumt hat.

Ich werde das zu nutzen wissen: Demnächst bewahren wir die Süßigkeiten in einer Box im Geschirrspüler auf. Da sind sie vor allen nichtautorisierten Zugriffen absolut sicher.

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Frietes und Fietsen

Ich war eine Woche in den Niederlanden. Meine Frieten-Ration für die nächsten vier Jahre habe ich in dieser Zeit verdrückt und dabei ein paar neue Worte der sympathischen Sprache gelernt: Bromfietsen etwa, die im anarchischen Straßenverkehr von Amsterdam ähnlich wie in Rom hunderte von atemberaubenden Beinahe-Unfällen produzieren – jedenfalls sieht es für den unbedarften Beobachter so aus. Inzwischen habe ich auch den Unterschied zum Snorfiets gelernt: Das eine ist ein Moped, das andere ein Mofa (bis 25 km/h).

Der Erlanger fühlt sich im Fietsengewimmel der Grachtenstadt schnell zuhause und freut sich, dass man nun jedem Nürnberger, der sich über das Fahrradaufkommen und die laxe Interpretation der StVO in der Hugenottenstadt mokiert, nun sagen kann, er solle mal ein Wochenende am Ij verbringen, dann würde ihn hier nichts mehr aufregen. Verschrottet werden Räder dort erst, wenn die Klingel kaputt ist. Die braucht man nämlich ständig.

Sehr entspannt ist dagegen der Autoverkehr in Holland. Dicke Premium-Karossen finden sich dort deutlich seltener als bei uns, was beweist, dass Audi, BMW und Mercedes allen Grund haben, sich vor einem Tempolimit auf heimischen Autobahnen zu fürchten. Gleichwohl fährt es sich so viel stressfreier und spritsparender, dass man der Regierungskoalition den Mut wünscht, sich von der Autolobby möglichst flott zu emanzipieren und etwa für Dienstwagen Steuervorteile zu streichen und scharfe Grenzwerte in Leistung und Verbrauch durchzusetzen.

Von einer Mediamarkt-Tüte habe ich gelernt, dass deren Slogan auf Niederländisch „ik ben toch niet gek“ heißt. Und bin in der Folge auf Buurtal von Alexandra Kleijn gestoßen – ein Blog, der sich um die Verständigung zwischen Deutschen und Niederländern kümmert. Dabei spielt auch das Essen eine wichtige Rolle. Wer demnächst im Nordwesten Urlaub machen will, kann sich da schon mal schlau machen in Sachen Sprache, Küche und Kultur.

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Anstößig oder anständig?

Ein Bekannter hat auf Facebook einen geharnischten Leserbrief an seine Regionalzeitung veröffentlicht, in dem er sich über die „Dekadenz“ der „Slutwalks“ (Deutsch etwa: „Schlampenmärsche“) am Samstag beschwert. Wir haben dann darüber eine Weile kontrovers diskutiert.

Bei diesen Demonstrationen ging es um ein Zeichen gegen sexuelle Gewalt und den Hinweis darauf, dass die (Mit-)Schuld an Vergewaltigungen und Übergriffen häufig immer noch den Opfern zugeschoben wird. Der Begriff „Schlampe“ gibt hier also die Mentalität des Vergewaltigers wider, der seine Tat damit vor sich selbst rechtfertigt und dreist behauptet, das Opfer wollte es im Grunde ja so haben. So hatte es ein Polizist in Toronto formuliert, als er Studentinnen riet, sie sollten sich „nicht wie Schlampen“ anziehen, um nicht zum Opfer sexueller Gewalt zu werden

Anne Wizorek, die Organisatorin der Slutwalks erklärt im Interview auf Zeit Online, grenzwertige und bisweilen vielleicht auch anstößige Kleidung gehöre zur Logik des Protests. Nicht nur wegen des großen Medienechos, auch um der Sache willen. Zugleich räumt sie ein:

ein Großteil der Leute kommt in Alltagsklamotten, denn auch darum geht es: Es ist eine Illusion, dass man sich an irgendwelche Kleiderregeln halten kann, und dann würde man nicht vergewaltigt.

Mit Sodom-und Gomorrha-Rhetorik einzusteigen ist da doch eher unpassend. Über den Stil kann man vielleicht streiten, das Anliegen muss man auf jeden Fall würdigen. Und anerkennen, dass es ohne die schrille Optik vermutlich kein so großes Echo erzeugt hätte (zu dem freilich auch empörte Leserbriefe so oder so beitragen…)

Ich habe mich eher an den Auftritt des Heiligen Franziskus vor dem Bischof von Assisi erinnert oder an die bewusst anstößige Aktion des Propheten Jesaja, der drei Jahre „nackt und barfuß“ durch Jerusalem lief. Wenn es damals schon Leserbriefe gegeben hätte, wie wären die wohl ausgefallen?

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Bücherstapel

Die Ferien sind in vollem Gang, das Tempo wird gemächlich, es ist Zeit und Musse da, die Nase in ein paar gute Bücher zu stecken, zumal ein dicker Knöchel und gelegentlich das Wetter den Bewegungsdrang hemmt. Irgendwie passen sie auch gut zusammen:

Wladimir Kaminer: Meine russischen Nachbarn. Der Mann begeistert durch hintergründigen Humor und den genialen lakonisch-undramatischen Stil. Fremde in Deutschland, von denen man eine Menge lernen kann. Zum Beispiel, sich selbst nicht so schrecklich ernst zu nehmen.

Richard Rohr: Falling Upward. A Spirituality for the Two Halves of Life Die zweite Lebenshälfte, oder besser: -aufgabe. es geht nicht ums Altern im biologische Sinne, sondern um das Wachstum und die Suche nach dem wahren Selbst. Ich muss zwar immer wieder die Gedanken in meine eigene theologische Matrix übersetzen (etwa die eher platonische Vorstellung, es gebe ein „wahres Selbst“, das einem vorgegeben ist, nun entdeckt werden muss und dessen Gunsten man ein falsches Selbst dann ablegt), aber es ist eine mutmachende Anleitung, Brüche und Scheitern nicht als Makel zu betrachten, sondern als unerlässliche Lernerfahrungen.

Michael Frost/Alan Hirsch: Faith of Leap. Embracing a Theology of Risk, Adventure & Courage das missionale Gegenstück zu Rohrs Buch über Spiritualität mit erstaunlich vielen Parallelen, zugleich natürlich den Themen, die bei Frost und Hirsch nie fehlen. Wer die schon kennt, kann das Buch auch recht zügig lesen.

wenn ich also in den nächsten Tagen etwas stiller bin, dann sind diese Autoren schuld 🙂

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Wutbürger 2.0?

Die Berichte von den Straßenschlachten in London haben mich an unseren Urlaub vor zwei Jahren erinnert, das inzwischen letzte von vielen Malen, die ich in London war. Seither habe ich mich zwar nach den Freunden dort zurückgesehnt, nicht aber nach der Stadt. Ich mag’s im Zweifelsfall lieber „arm, aber sexy“ wie Berlin.

Ich fand die Tage dort anstrengend. Nicht wegen der Hektik, Enge und Lautstärke der Metropole, sondern wegen dem krassen Kontrast von Arm und Reich. Von Prunk und Verschwendung auf der einen Seite und Armut und Perspektivlosigkeit auf der anderen. Meine Grundstimmung, als ich meinen Sohn durch die Straßen von Kensington begleitete, wo er die Luxuskarossen bestaunte, war – das wurde mir erst heute so richtig klar – Wut und Zorn. Sie blieben knapp unter der Oberfläche des Bewusstseins, aber ich empfand den Spaziergang als anstrengend und unerfreulich.

Auf bbc.com habe ich heute einen britischen Polizeioffizier sagen hören, die Ausschreitungen hätten keinen Grund, es sei ihnen kein Unrecht vorausgegangen. Wie blind muss man eigentlich sein, um zu übersehen, dass diese stetig wachsende Kluft – wunderbar beschrieben in diesem Artikel der SZ – schon die ganze Zeit Unrecht war? Nun ist aus der Kluft ein veritabler Abgrund geworden.

Leider haben wir Deutschen den Engländern viel zu gewissenhaft nachgeeifert und hier dieselbe wachsende Kluft geschaffen. Was uns jetzt noch fehlt, ist die Clique der Superreichen in ihrem prunkvollen Kokons aus Stahl, Designerkram und Personenschützern, die allen anderen schamlos vor Augen führen, dass sie zu den Verlierern gehören. Ich erinnere mich noch an eine Werbung in der Tube, die stolz verkündete, in London sei jeder zwanzigste ein Millionär. Wie viele von den anderen 95% an und unter der Armutsgrenze leben, davon stand da nichts.

Wenn man sich schon vor zwei Jahren als Tourist mit dem Zorn, der da in der Luft lag, innerhalb einiger Tage „infizieren“ konnte, wie muss es sein, wenn man dort lebt und nicht weg kann? Die Gewaltausbrüche sind gewiss nicht zu rechtfertigen, aber eben auch keine Überraschung. Und wenn hier kein Politikwechsel kommt, erleben wir in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht ganz ähnliche Dinge.

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