Ich habe hier schon eine ganze Weile nichts mehr zur Klimathematik geschrieben, weil es genug gute und wichtige Beiträge anderswo gibt. In den letzten Tagen hat es mich aber doch wieder gepackt. Die Widersprüche sind es, um es genau zu sagen.
Bittere Wahrheit
Bento glänzt nicht mit intellektuellem Anspruch, aber Fridays for Future erscheint immerhin in der Menüzeile. Auf den Zug ist man offenbar aufgesprungen. Nun hat sich Helene Flachsenberg dort über den CO2-Rechner des Bundesumweltamtes beschwert, weil der ihr eine schlechte Klimabilanz erstellt hat. Der Grund: Ein Langstreckenflug nach New York. Damit hat sie alles, was sie im Alltag eingespart hat, mit einer einzigen Reise wieder in die Luft gepustet.
Dass ich zu meinem Geburtstag etwas Besonderes erleben wollte, und dann auch noch in die USA, diese Hochburg von Industrialisierung und Kapitalismus reiste, erscheint mir auf einmal grenzenlos egoistisch. Wie die größtmögliche Frechheit, die ich unserem Planeten antun konnte.
So klagt die Autorin über das schlechte Gewissen, dass ihr „gemacht“ wird. Und eine Art Sündenbock findet sie auch, nämlich RWE mit seinen Kohlekraftwerken. Überhaupt, die Konzerne und das irre Märchen vom nachhaltigen Konsum…
Vielleicht hätte sie, bevor sie in die Tasten griff, doch besser Felix Ekards feinen Text auf Zeit Online lesen sollen. Wie übel Langstreckenflüge (freilich Fliegen überhaupt) zu Buche schlagen, ist ja wirklich keine Neuigkeit. Da reißt man quasi mit dem Hintern wieder ein, was man mit den Händen an CO2-Einsparungen aufgebaut hat:
Selbst wer regional und bio einkauft, in einem gedämmten Mehrfamilienhaus wohnt und jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, der liegt, sobald ein, zwei Flugreisen in ferne Länder dazukommen, weit über dem deutschen Durchschnitt von elf Tonnen pro Kopf und Jahr.
Der CO2-Rechner ist einfach nur ein Spiegel. Flachsenberg gefällt schlicht das Bild nicht, das sie darin abgibt: Ein bisschen wie der Frust, wenn das große Stück Sahnetorte die Diät und die Joggingrunde zur Makulatur macht – und man plötzlich auf die perfiden Tricks der Bäckerinnung oder der Hersteller von Personenwaagen schimpfen würde.
Glaubwürdigkeit ist gefragt
Natürlich ist und bleibt es eine politische Aufgabe, die Energie- und Verkehrswende voranzutreiben. Aber das entbindet uns als einzelne doch nicht von der Verantwortung für unsere Gewohnheiten. Auch nicht im Urlaub. Im Grunde müssen wir alle jetzt schon anfangen, so zu leben und zu reisen, dass es so klimaverträglich wie irgend möglich ist. Und an einen Punkt kommen, wo es für uns in Ordnung ist, dass uns der Verzicht schmerzt (und wir es aushalten, statt auf RWE zu schimpfen). Umso mehr, als man täglich in den sozialen Medien Freunde und Bekannte sieht, die hier- und dorthin zu ihren Sehnsuchtsorten jetten und im nächsten Moment wieder Zitate von Greta Thunberg liken, ohne sich dabei viel zu denken.
Vielleicht sollte, wer künftig als Tourist in ein Flugzeug steigt – egal wohin – eine Schamfrist einhalten, bevor sie/er wieder Greta-Zitate und grüne Slogans postet. Vierzig Tage Glaubwürdigkeitsfasten wären ganz ok. Für einen Interkontinentalflug vielleicht drei Monate. Nicht aus fremdinduzierter Scham, wie Flachsenberg insinuiert, sondern um ein so wichtiges Anliegen nicht durch die eigene Doppelbödigkeit in Misskredit zu bringen.
Dazu meine nächste, wirklich ernst gemeinte Frage: Sollten wir als Pfarrkollegien und Gemeindegruppen künftig noch nach Israel, in die USA oder auf FreshX-Tagungen in Nordengland fliegen? Oder rechtfertigen Begegnung, ökumenisches Lernen und Kulturaustausch die Wunden, die das Reisen schlägt?
Reisen wie zu Omas Zeiten?
Ich habe nachgesehen, wie lange ein Bahnfahrt von Erlangen nach London dauert: Sie ist in unter acht Stunden möglich. Mit dem Flugzeug kann man das (CheckIn, Wartezeiten und die Transfers von und zum Flughafen eingerechnet) in etwas mehr als der Hälfte der Zeit schaffen. Für Glasgow oder Dublin (Ziele, die für mich interessant sind) erweitert sich die Reisezeit entsprechend um weitere 5 bis 8 Stunden. Also nichts für einen Kurztrip übers Wochenende.
Andererseits ist der Gedanke an Wochendendausflüge über tausend Kilometer und mehr ein relativ junges Phänomen: Als ich mit 16 das erste Mal nach England reiste, kam Fliegen nicht in Frage. Abgehalten hat es uns damals nicht. Dahin heißt es nun zurückzukehren. Ich lerne so manches von meinen Kindern. An diesem Punkt können wir die Lernrichtung zwischen den Generationen vielleicht mal umkehren: Nicht nur alte Gemüsesorten anbauen und essen, sondern auch Reisen wie die Großeltern damals in den Sechzigern. Statt immer gleich in die Luft zu gehen.
Den kommenden Sonntag prägt Kernmotiv der Jesustradition: Der gute Hirte. Ausflüge in die Kunstgeschichte und Ikonographie bieten sich an, wie auch alle möglichen Idealisierungen (etwa: Jesus bzw. kirchliche Amtsträger als empathische Seelsorger). Oder deren Dekonstruktion: Die zeigt dann auf, was für einen gänzlich unromantischen Knochenjob Hirten haben und was für rabiate Wesen Schafe sein können. So wie in diesem ausgesprochen krassen Beispiel:
Bei johanneischen Texten stellt sich die Frage, welche Entsprechungen sie in den synoptischen Evangelien haben. Zwei davon haben mich die letzten Wochen über beschäftigt. Sie sind etwas weniger offensichtlich als das bekannte Gleichnis vom verlorenen Schaf oder die Klage über die Schafe ohne Hirten vor der Aussendungsrede. Aber ich denke, sie sind nicht weniger bedeutsam.
Der Name Gottes und die Sammlung Israels
Ich beginne wir mit der ersten Bitte des Vaterunsers: „Geheiligt werde dein Name“. Woran hängt die Integrität des Namens Gottes? Brauchen wir strafbewehrte Blasphemieparagraphen, die seinen Verächtern das Lästern verbieten? Tanzverbote an Karfreitag oder Allerheiligen? Oder geht es um die Gedankenlosen, denen der Ausruf »Oh mein Gott« allenfalls beim Anblick eines XXL-Eisbechers über die Lippen kommt?
In der Bibel macht sich Gott einen Namen, indem er ein unterdrücktes Volk aus der Sklaverei führt. Die Offenbarung seines Namens ist die Antwort auf das Klagen und Stöhnen der Israeliten, das schon gar keinen konkreten Adressaten mehr kennt. Israels Gott setzt mit seinem Eingreifen ein Zeichen in der Welt der Ausbeuter und Unterdrücker. Und als sein Volk bei der erstbesten Gelegenheit den eben geschlossenen Bund bricht, erinnert Mose Gott an die Zusage, die er den Vätern »bei seinem Namen« gegeben hat (Ex 32,13). Würde Gott sich zurückziehen, hätten die Pharaos dieser Welt gewonnen und jeder Widerspruch (geschweige denn Widerstand) wäre verstummt.
Die großen Bußgebete der Exilszeit in Nehemia 9 und Daniel 9 schlagen ähnliche Töne an: »Herr, vernimm das Gebet und handle! Mein Gott, auch um deiner selbst willen zögere nicht! Dein Name ist doch über deiner Stadt und deinem Volk ausgerufen.« (Dan 9,19). Gerhard Lohfink hat daraus den Schluss gezogen, dass es bei der Bitte um Heiligung des Namens um die Sammlung des zerstreuten und verirrten Gottesvolkes geht. In Ezechiel 36,22-24 erscheint das im Zusammenhang mit der Bundeserneuerung, in Ez 20,41.44 heißt es kurz und bündig:
Wenn ich euch aus den Völkern herausführe und aus den Ländern sammle, in die ihr zerstreut seid, werde ich mich vor den Augen der Völker an euch als heilig erweisen. (…) Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich um meines Namens willen so an euch handle.
Wer nicht sammelt, zerstreut
Die messianische Sammlung des Volkes Gottes und das Kommen des Reiches Gottes sind bei Jesus nicht voneinander zu trennen. Das bringt mich zum zweiten Text, der für mich zum Umfeld des guten Hirten gehört. In Mt 12,30 sagt Jesus recht schroff: »Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut«. Das war die Anklage des Ezechiel gegen die schlechten Hirten, dass sie nicht auf die Herde achten, sondern auf sich selbst und ihre Bedürfnisse fixiert sind. Wenn Jesus schließlich für seine und seiner Nachfolger Sendung das Bild der Ernte verwendet, geht es auch da um eine Sammlung, nicht nur um eine Aussaat (die Bitte um Arbeiter in der Ernte ist in Mt 9,36-38 mit dem Verweis auf die „Schafe ohne Hirten“ verbunden). Zweifellos geht Jesus dabei sehr unorthodox vor – so hatten das die wenigsten Zeitgenossen erwartet.
Aber die Transformation der Macht- und Lebensverhältnisse in der Welt geht – äußerlich wie innerlich, geistig wie praktisch – nicht ohne eine gemeinschaftliche Anstrengung, nicht ohne eine dazugehörige Bewegung, die sich bewusst als solche versteht und die sich am Handeln Gottes orientiert. Es geht, um das gleich dazu zu sagen, allerdings sehr wohl ohne Hierarchien und mit einem geringeren Grad von Institutionalisierung als in manchen Kirchentümern heute.
Sammeln – zwischen Uniformierung und Individualisierung
Nun haben bestimmte Formen der Versammlung an Ausstrahlung und Bindungskraft verloren. In den evangelischen Kirchen ist das vor allem der traditionelle Sonntagsgottesdienst. Ich habe dazu letzte Woche ein paar Gedanken und Beobachtungen gepostet. Zugleich habe ich die Diskussion um das neue Buch von Erik Flügge verfolgt. Der legte uns Protestanten nahe, das Thema gottesdienstliche Versammlung mehr oder weniger abzuhaken. Aus Mangel an Beteiligung, wie er deutlich macht. Im DLF-Streitgepräch hielt Reinhardt Mawick dagegen. Er verteidigt den Wert des Gottesdienstes, relativiert die schlechten Zahlen zum Gottesdienstbesuch und verweist auf die Bedeutung von Kasualgottesdiensten, Kirchenmusik und Kirchenräumen. Der Kommunikationsberater Flügge regt an, den Zusammenhalt und die Orientierung der evangelischer Kirchenmitglieder über prominente, medial präsente Identifikationsfiguren (»Star-Christen« quasi, oder eben Influencer und Follower) neu organisieren.
Ist das noch genug Sammlung oder schon die Kapitulation vor der spätmodernen Vereinzelung? Belebt Flügge gar den alten kulturprotestantisch-liberalen Traum aus dem 19. Jahrhundert wieder: Die Vorstellung, die Kirche würde die Gesellschaft so weit verbessern, bis sie in ihr (als einem säkularen Gottesreich) aufgeht? Und wenn er das doch nicht will, wie bleibt die kritische Kraft des Glaubens auf Dauer lebendig, wenn sich jegliches konkrete Miteinander auflöst?
Auch eine kleine Herde kann viel Kraft kosten… FOYN
Nicht Sammeln ist keine Lösung
Kirche im Sinne Jesu, da sind sich viele einig, ist berufen »Kontrastgesellschaft« zu sein. Als solche ist sie nicht ohne Begegnung, Zusammenhalt und Kooperation zu denken. Die Formen, in denen das gelebt wird, wandeln sich. Die Lebensstile differenzieren sich aus, die Lebensrhythmen haben sich gewandelt. Digitale Kommunikation ist nicht mehr wegzudenken – auch wenn nicht jede(r) davon Gebrauch macht. Dass profilierte „Events“ wichtig sind, hat sich auch herumgesprochen (und wer am Karfreitag bei Gott im Berg war, konnte sich davon überzeugen).
Es wäre einfach zu billig, sich unter Berufung auf die veränderten Verhältnisse von der Aufgabe des Sammelns zu verabschieden. Schon das Nichtsammeln leistet der Auflösung Vorschub. Freilich haben wir in den verfassten Kirchen vielfach verlernt, Bewegung zu sein und Menschen zu einer Bewegung zu sammeln. Stattdessen haben wir uns darauf verlassen, dass unsere institutionellen Strukturen (bzw. deren Reste) noch tragfähig genug sind, und die meiste Kraft in deren Erhaltung investiert, statt uns auf Veränderung und Neues einzustellen. Darauf (auf das Konventionelle und Institutionelle) scheint mir auch die Argumentationslinie von Marwick abzuzielen, wenn er sakrale Handlungen, Räume und Musik hervorhebt: Da kommen die Menschen noch zur Kirche und ersparen es der Kirche, sich auf den Weg in fremdes, ungesichertes Terrain zu machen.
Andere Anforderungen
Indes – Sammeln zur Bewegung, so wie Jesus das getan hat, das stellt andere Anforderungen an die Hirten von heute. Im Blick auf Gott ist Sammeln Chefsache, das lässt er sich nicht nehmen. Unter den Gliedern der Gemeinde gibt es unterschiedliche pastorale (also „hirtliche“) Rollen und Funktionen. Sie können das göttliche Sammeln nur im konstruktiven Zusammenwirken abbilden. Da kann es also nicht darum gehen, es „den Profis zu überlassen“ – Klerikalismus heißt dieses Problem im kirchlichen Kontext. Die Aufgabe der Hauptamtlichen wäre es allenfalls, so viel Beteiligung zu ermöglichen, wie es nur geht. Und dabei selbst aus dem Weg zu gehen, um Horizonte offen zu halten und Zugänge zu markieren. Innerhalb der Kirche eine Unterscheidung zwischen „Hirten“ auf der einen und „Schafen“ auf der anderen Seite zu pflegen, ist nicht besonders zielführend.
Das macht den guten Hirten aus, dass er sich selbst zurücknimmt. Dass er sich nicht über andere erhebt oder mit anderen konkurriert. Jede(r) von uns kann sich mal (ver)irren. Was für ein Glück, wenn dann andere da sind, die uns helfen, den Anschluss an den einen, guten Hirten wieder zu finden.
Ein Dienstag im September um kurz nach sieben am Morgen: Ich stehe auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof. Ein paar Strahlen der Morgensonne glitzern in den Tränen, die mir herunterlaufen. „Hoffentlich spricht mir jetzt niemand an und fragt, was mir fehlt“, denke ich, als ich dem ausfahrenden EuroCity nachblicke. Drinnen sitzt mein Sohn, der vermutlich auch einen Kloß im Hals hat. Der Zug bringt ihn nach Frankfurt und von dort fliegt er nach Japan. Neuntausend Kilometer weit weg. Ein Jahr lang werden wir einander jetzt nicht mehr direkt in die Augen schauen oder in den Arm nehmen. Ich senke den Blick und gehe die Treppe Richtung Ausgang hinunter.
So ist das, wenn Kinder flügge werden. Es ist großartig und es ist schrecklich. Du bist stolz und es bricht dir das Herz. Wenn sie dann wiederkommen, sind sie gewachsen: Stärker, unabhängiger, selbstsicherer. Sie setzen sich ein Weilchen auf den Nestrand, dann fliegen sie wieder los.
Aber es beginnt alles mit dem Loslassen.
Flügge werden
Die Konfirmation ist einer der ersten Schritte in die Selbständigkeit für Euch wie für Eure Familien. Irgendwann folgt der Schulabschluss, der Auszug von zuhause, das erste selbstverdiente Geld, oder die Gründung einer neuen, „eigenen“ Familie. Zwischendrin ist die eine oder andere Schrecksekunde oder Schramme zu überstehen. Bruchlandungen gehören schließlich auch zum Erwachsenwerden. Aber das wisst Ihr ja schon, seit Ihr Laufen und Radfahren könnt.
Es ist gut, dass das Flüggewerden im Glauben den anderen Schritten in die Erwachsenenwelt vorangeht. Wegen der Schrammen und Schrecksekunden einerseits. Und auf der anderen Seite, weil das Euch den Mut zum Absprung geben kann. Denn es ist keine ungefährliche Welt, in die Ihr Euch aufmacht.
Dass diese Welt nicht nur schön, sondern auch schrecklich ist, hat mit uns Älteren zu tun. Wir – die Generationen vor Euch – haben es nicht geschafft (und oft auch gar nicht ernsthaft genug versucht), sie für Euch in einen guten Zustand zu bringen. Wenn der Begriff „Erbsünde“ heute irgendeine Bedeutung hat, dann vielleicht die: Dieser Planet hat Fieber, und es wird gerade ziemlich schnell schlimmer. Hass und Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit machen vielen Menschen das Leben zur Hölle (freilich ist Nürnberg im Vergleich zu Aleppo oder Kabul eine Art Insel der Seligen. Aber die meisten haben inzwischen verstanden, dass das mit den Inseln nicht mehr funktioniert). Und wir sind allesamt verletzlich und verführbar. Allzu leicht lassen wir uns mitreißen von der Angst und der Gier anderer.
Wer garantiert also, dass Ihr das besser macht? Und wenn es keine Garantie dafür gibt, solltet Ihr es überhaupt versuchen – oder doch besser gleich die Hände in den Schoß legen, Euch ins Unvermeidliche fügen und all den Lindners und Poschardts Recht geben, die gerade in jeder Talkshow erzählen, dass Ihr auch nicht besser seid als sie?
Kraftvolle Erinnerung
Vor über 2.500 Jahren gab es eine in vieler Hinsicht ähnliche Situation. Das Volk Israel befand sich im babylonischen Exil. Die ältere Generation, allen voran der König, hatte sich im Polit-Poker verzockt. Jerusalem wurde zerstört, die Menschen wurden verschleppt in den heutigen Irak. Der Tempel, das sichtbare Zeichen für Gottes Nähe, war ein Trümmerhaufen. Mitten in dem Schlamassel wuchs eine neue Generation auf. Bürger zweiter Klasse, ohne Perspektive, an einem gottverlassenen Ort.
Aber dann spricht Gott. Durch einen Propheten, eine Stimme der Hoffnung. Mitten in der totalen Sackgasse. Das sind seine Worte:
Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Die Adler, die am Himmel ihre Kreise ziehen, sind so ein Sehnsuchtsbild, das auch uns abgebrühte Menschen des digitalen Zeitalters in den Bann schlägt. Ein Jahr nach meinem Bahnsteig-Erlebnis waren meine Frau und ich ein paar Tage an der Westküste Schottlands. Fast jeden Abend saßen wir auf einer Klippe gut hundert Meter über dem Atlantischen Ozean. Meine Frau suchte das Wasser nach Walen ab. Ich war weniger geduldig und lief umher. Und dabei sah ich sie: Ein Seeadler-Paar ließ sich vom Wind mühelos weit in die Höhe tragen, um kurz darauf pfeilschnell herabzustoßen und dann wieder fast ohne Flügelschlag zu steigen und zu steigen, bis ich sie aus den Augen verlor. Ein paar Minuten waren sie in der Nähe, dann zog es sie zurück zu ihrem Nistplatz.
„Die Adler kommen!“ Wer den Herrn der Ringe und/oder den Hobbit gelesen bzw. gesehen hat, erinnert sich an diesen Ausruf. Wenn die Adler kommen, wendet sich das Blatt zum Guten. Immer. Die Adler sind in Tolkiens Märchen die Himmelsboten. Aber Jesaja sagt uns: „Ihr müsst nicht auf die Adler warten. Ihr könnt selber welche werden. Wartet auf Gott!“
Was uns müde macht
Sehen wir uns kurz das Gegenbild zu den Adlern an: Müde Krieger. Erschöpfte Kerle. Das vermeintlich „starke Geschlecht“ am Ende seiner Kräfte. Die, die nie zugeben würden, dass sie nicht mehr können, können nicht mehr – ob sie es zugeben oder nicht. Die große Müdigkeit hat sie befallen.
Wer Euch bei der Konfifreizeit oder der Kirchenübernachtung erlebt hat, könnte meinen, dass Müdigkeit und Erschöpfung so ziemlich das Letzte sind, über das Ihr Euch Gedanken machen müsstet. Aber so einfach ist es nicht. Das liegt an der Welt und der Zeit, in der wir leben.
Vor ein paar Jahren schrieb ein Philosoph aus Berlin, Byung Chul Han, ein kleines Buch mit dem Titel „Müdigkeitsgesellschaft“. Was uns heute – oder viele von uns, früher oder später – so müde macht, ist nicht Armut oder äußere Unfreiheit, sondern das Gegenteil, sagt er: Ein „Zuviel“ an positiven Dingen macht krank. Anders krank als früher, als es der Mangel war oder die Infektion von außen. Heute kommen die Störungen von Innen – Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität sind Zustände, gegen die man nicht impfen kann. Und wer in der Leistungsgesellschaft nicht mehr können kann, wird depressiv. Dazu muss man nicht erst alt werden.
Immer mehr, immer weiter?
Die Leistungsgesellschaft ist längst auch ein Freizeitphänomen. Ich habe ja gestern davon erzählt, dass viele meiner Freunde irgendwann Marathon laufen wollten. Marathon reicht inzwischen vielen nicht mehr. Jetzt muss es schon ein Triathlon sein. Denn warum nur Laufen, wenn man auch noch Schwimmen und Radfahren kann dazu? Wie viel kann ich aus mir herausholen? Wie weit lässt sich die Grenze des Möglichen dehnen? Der Überfluss an Möglichkeiten und Angeboten erzeugt erst den Schaffensdruck. Der wächst sich aus zur Erschöpfungsdepression, neudeutsch: Burnout. Aus Hyperaktivität wird Hyperpassivität. Einigen meiner Freunde ist das so ergangen. Es hat ihren (und meinen) Glauben auf eine harte Probe gestellt, dass Gott und alles Gute und Schöne für ihn sie diesen Momenten gefühlt Lichtjahre weit weg war.
Niemand von uns sollte meinen, dass so etwas nur den denen passiert, die nicht clever oder cool genug sind. Es kann jeden treffen. Denn im Gegensatz zu Gott sind wir Menschen endliche Wesen. Diese Wahrheit hat in der Leistungsgesellschaft, die liebend gern „yes we can“ ruft, kaum einen Platz.
Paradoxerweise wachsen die Flügel des Glaubens in dem Moment, wo wir uns bewusst machen, dass wir nicht Gott sind und es auch nicht werden müssen. Wo wir uns mit unserer Endlichkeit anfreunden, weil uns der unendliche und unermüdliche Gott so geschaffen hat. Wo wir um Kraft bitten und sie uns schenken lassen, statt wie die Duracell-Hasen ohne Unterbrechung zu rödeln. „Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele“, schreibt Herr Han. Da hilft dann auch kein Energy Drink mehr.
Vom Gas gehen
Glaube ist keine Steigerung, sondern eine heilsame Unterbrechung. Die Fähigkeit, zu zögern und sich zu unterbrechen, unterscheidet den Menschen vom Roboter. Das wird in der Welt, in die ihr gerade hineinwachst – der künstlichen Intelligenz, selbstfahrenden Autos und was nicht alles – ein lebenswichtiger Unterschied werden. Der Sabbat und der Sonntag erinnern uns daran, dass wir solche Unterbrechungen brauchen. Und zwar nicht, um etwas zu leisten, zu produzieren oder zu konsumieren. Sondern um wieder leer zu werden von dem, was uns sonst pausenlos besetzt.
„Die auf den Herrn harren“ – was für ein altertümliches Wort! Das „Harren“, von dem hier die Rede ist, ist eine Art konzentriertes Warten. Also Ausharren und Stillhalten können, nicht auf jeden Reiz anspringen, sich nicht dauernd ablenken zu lassen. Aber auch: Nichts liefern zu müssen, um Likes und Follower zu ernten, oder Euren Wert bestätigt zu bekommen. Frei werden von dem Druck, den wir uns selbst schon machen noch längst bevor andere es tun.
Auch hier geht es ums Loslassen: Ansprüche, Erwartungen, Ungeduld, Angst…
Dafür ist Gott euer Komplize und Ihr könnt seine Komplizen sein. Das heimische Nest zu verlassen, ist einfach. In dieser verrückten Welt nicht die Hoffnung und die Lebensenergie zu verlieren, nicht einfach von ihren Kräften und Strömungen mitgerissen zu werden, ist eine gewaltige Herausforderung. Statt zu fliegen, kommt man schnell auf dem Zahnfleisch daher.
… und plötzlich fliegst du!
Menschen sind paradoxe Sehnsuchtswesen. Wir sind endlich und vergänglich, aber auf etwas Unvergängliches und Unendliches hin angelegt. Ich glaube, diese Sehnsucht, über uns hinauszuwachsen, hat Gott in uns hineingeschaffen:
Die Sehnsucht nach Erlösung und Heilung der Welt, die so eindrücklich im Zentrum eures Vorstellungsgottesdienstes stand.
Die Sehnsucht, liebevoll angesehen werden und mich zeigen zu können, wie ich bin.
Die Sehnsucht, etwas beizutragen zu dieser Welt, das wirkt und bleibt; für etwas leben zu können, das größer ist als ich selbst.
Gestern habe ich vom Atem Gottes gesprochen, von Heiligen Geist. Er ist der Wind unter Euren Adlerflügeln. Interessanterweise haben die ersten Christen am ersten Pfingsten genau das getan, bevor Sturm und Feuer, Mut und Begeisterung ausbrachen: Warten, ausharren, und dabei durchlässig und empfänglich werden.
Gottes Geist – die Kraft, die Jesus von den Toten auferweckt hat – ist ein Vorgeschmack auf die Neuschöpfung dieser kaputten Welt. Ich muss als Christ nicht „alles aus mir herausholen“. Ich kann etwas Größerem in mir Raum geben. Nur so wachse ich über mich hinaus, ohne dabei innerlich hohl zu werden.
Das letzte Jahr war die Übungsrunde – jetzt fliegt ihr selber. Wie die Adler – von der Erde, aber nah am Himmel. Gottes Atem in Euch und Sein Wind unter Euren Flügeln.
Und all die Grenzen, die am Boden gezogen werden – Mauern – Stacheldrähte – Checkpoints (sozial – politisch – ethnisch – religiös/konfessionell), werden in ihrer Kleinlichkeit und Vergänglichkeit sichtbar.
Das ist der Sinn und Nutzen von Kirche und Gottesdiensten, darum brauchen wir einander: Einander immer wieder daran zu erinnern, dass wir zum Fliegen geschaffen sind. Und dass wir es mit Gottes Hilfe und in seiner Kraft auch können. Hier könnt Ihr immer landen. Und immer wieder losfliegen.
habe ich den gesammelten Werken von Walter Benjamin entnommen. Vielleicht findet Ihr es auch so anregend wie ich:
Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Das Rascheln im Blätterwalde vertreibt ihn. Seine Nester – die Tätigkeiten, die sich innig der Langenweile verbinden – sind in den Städten schon ausgestorben, verfallen auch auf dem Lande. Damit verliert sich die Gabe des Lauschens, und es verschwindet die Gemeinschaft der Lauschenden.
Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten. Daß wir es wissen oder zu wissen glauben, das ist fast immer nichts als der Ausdruck unserer Seichtheit oder Zerfahrenheit. Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten.
Langeweile ist ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns wenn wir träumen. Dann sind wir in den Arabesken seines Futters zuhause.
Die Tage saß ich mit Leuten zusammen, die in unserer Region „andere“ Gottesdienste machen. Also nicht traditionell (in Bayern: G1) und auch nicht im Lobpreis/Predigt Schema (das erschien den Anwesenden als „freikirchlich“). Manche sind ganz neu gestartet, an anderen Stellen gibt es das schon fast 30 Jahre. Es war ein reger Austausch und irgendwann stellten wir fest, dass seit ein paar Jahren die wertende Unterscheidung zwischen „Hauptgottesdienst“ und „zweitem Programm“ endlich flächendeckend vom Tisch ist.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass das vor 30 Jahren (als die ersten von uns anfingen) noch ganz anders aussah. Da wurde jedem, der etwas anderes wollte, Hochmut unterstellt: Wer etwas Neues möchte, dem sei das Herkömmliche ja wohl nicht gut genug – und so weiter. Man brauchte schon ein dickes Fell, um das an sich abtropfen zu lassen, zumal der Vorwurfauf dem Fuß folgte, das würde die Einheit der Kirche beschädigen.
Die gute Nachricht lautet also: Nach drei Jahrzehnten ist der Kulturkampf darüber, wie viel liturgische und stilistische Unterschiedlichkeit wir uns gönnen, halbwegs abgeschlossen. Die Einheit hängt nicht an der Uniformierung.
Dreißig Jahre sind andererseits fast ein komplettes Berufsleben. Alle, die sich heute mit Zukunftsfragen von Kirche befassen – andere Gemeindeformen, Digitalisierung, Christen als soziokulturelle Minderheit – werden wohl einen langen Atem brauchen. Mit ein bisschen Glück dauert es ja vielleicht nur 20, 25 Jahre.
So gesehen ist es sicher kein Zufall, dass Geduld und Beharrlichkeit prominente biblische Tugenden sind.
Zehn Jahre auf dem kontemplativen Weg liegen hinter mir. Ich frage mich hin und wieder, ob ich ohne die Entdeckungen, die ich dabei gemacht habe, heute überhaupt glauben könnte – geschweige denn Pfarrer sein. Verschiedentlich habe ich hier über Erfahrungen geschrieben. Vieles hat sich vertieft und gefestigt, also versuche ich heute eine Zwischenbilanz. Und am Ende versteht Ihr vielleicht, was das mit dem Fliegen und dem Hosenboden auf sich hat.
Wie beim Labyrinth: weniger verwirrend, als es auf den ersten Blick scheintAshley Batz
Die äußeren Stationen
sind schnell erzählt und wer mag, kann sie überspringen. Angeregt von Stans Möhringer, der Beauftragten für Meditation im Dekanat Erlangen habe ich mich 2009 zu den Jesuiten nach St. Andrä in Kärnten gewagt zu Wanderexerzitien. Da ist man den größten Teil des Tages in Bewegung, während man schweigt, und anders hätte ich den Einstieg wohl auch kaum geschafft. 2012 habe ich dann zehn Tage im oberfränkischen Gries verbracht, 2014 auf Straßenexerzitien in München, 2015 und wieder in den letzten Tagen dann war ich im Haus HohenEichen in Dresden-Hosterwitz.
Immer bei Jesuiten. Und immer gern, weil ich das theologische Niveau und das weite, gastfreundliche ökumenische Herz der Verantwortlichen so schätze.
Behutsam mit mir selbst
Auf dem kontemplativen Weg lerne ich, die vielen Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, immer wieder unaufgeregt ziehen zu lassen und nicht ins Grübeln zu geraten. Wir reden ja gelegentlich vom „Kopfzerbrechen“, aber viele Dinge und Angelegenheiten sind das gar nicht wert. Stattdessen rauben sie mir die Kraft für das, was wirklich wichtig ist.
Die Indifferenz gegenüber den Gedanken macht mich aufmerksam auf Gefühle und Stimmungen. Im Wald von HohenEichen lagen diesmal viele umgestürzte Bäume. Ich bin der Ursache dafür (Dürre, Sturm…) gedanklich nicht groß nachgegangen. Das führt in der Regel weg aus dem Hier und Jetzt in andere Zeiten oder andere Orte. Aber ich habe die Traurigkeit bemerkt, die der Anblick bei mir auslöst. Und im Betrachten, im Gewärtig-Sein der Traurigkeit zogen einige traurige Erlebnisse aus letzter Zeit vorbei. Nach einer Weile löste sich die Trauer und erschien auch nicht wieder. Beim nächsten Waldspaziergang standen andere Eindrücke und Stimmungen im Vordergrund. Das Schauen ging allmählich ins Lauschen über – auf eine andere Präsenz, die alles berührt und wandelt, was sich in mir regt. Rilke hat das in seinem Stundenbuch wunderschön ausgedrückt, ich habe es früher schon einmal zitiert:
Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Bildnis fasst, der drängt die Lärmenden aus dem Palast wird anders festlich, und du bist der Gast den er an sanften Abenden empfängt.
Sehen, was ist
Angesichts der »Widersinne« könnte statt Versöhnung auch Streit entstehen. Dann nämlich, wenn ich dem Reflex nachgebe, sofort zu werten und zu entscheiden: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Ich übe nun, erst einmal aus- und innezuhalten. Zu sehen, was ist. Und zu warten, was wird. Ich denke, das kann auch eine Lektion aus dem Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen sein: Erst einmal warten und genau hinsehen, nicht schon gleich loshasten und alles ausreißen, was ich für Unkraut halte. Wieviel Schaden entsteht aus diesem Übereifer, alles sofort zurechtzustutzen, was mich gerade stört! Und wieviele Überzeugungen, die ich mit großem Ernst und Leidenschaft vertreten habe, habe ich inzwischen wieder ad acta gelegt? Was zeigt sich, wenn ich still halte? Was steckt zum Beispiel noch alles in der Wut, die irgendwer oder irgendwas bei mir auslöst? Und wie ändert sich das, wenn ich mir die Zeit dafür gebe, noch etwas länger hinzusehen?
Mit Gleichgültigkeit hat das freilich nichts zu tun. Das Buzzword Ambiguitätstoleranz macht derzeit die Runde. Vielleicht ist es gut, daran zu erinnern, dass diese Offenheit für den Widersinn vor allem eine innere Haltung ist, die man üben kann und kultivieren muss. Also nicht in erster Linie ein intellektuelles Konzept, das man zur Kenntnis nimmt und das sich so eben mal einfordern oder anknipsen lässt. Natürlich kann man nicht alles immer offen und unentschieden lassen. Aber wenn Überzeugungen reifen dürfen, tragen sie vielleicht auch länger und weiter.
Momentan werde ich oft gefragt, wie es mir nach einem guten halben Jahr auf der neuen Stelle geht. Das kann zum Vergleich verleiten: War es früher besser? Oder wäre ich vielleicht anderswo besser aufgehoben? Beim vorletzten Aufenthalt in HohenEichen habe ich über die Geschichte von Maria und Martha meditiert und den Satz Jesu: »Maria hat das gute Teil erwählt«. Jesus sagt nicht »besser«, er wählt nicht den Komparativ. Und ich stelle für mich fest, es geht gut. Hier und jetzt. Das reicht völlig aus für die nächste Zeit.
Warten, was wird
Der kontemplative Weg wird für mich von biblischen Worten und Bildern gesäumt. Zum Beispiel, dass Gott mir den Tisch deckt im Angesicht meiner Feinde – Menschen und Situationen, die mir zusetzen. „Lade sie doch ein“, lautete die überraschende Antwort meines geistlichen Begleiters in einem solchen Moment. Das hat gut funktioniert. Ich muss gar nicht kämpfen. Und sagt nicht Ex 14,14 – »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein« – quasi dasselbe? Mit diesem Wort begannen vor 14 Tagen die Exerzitien in HohenEichen.
Manchmal kehren in der Stille alte Themen und Fragestellungen zurück. Anfangs fand ich das irritierend. Nun merke ich mehr und mehr, dass es sich wie in einer Spirale verhält: Die Beschäftigung mit den Dingen findet auf einer anderen Ebene statt. Andere Sichtweisen und Lösungen werden damit möglich.
Oft ist Kontemplation ein Ausharren. Treu dabei zu bleiben, wenn Druck von außen und innen spürbar ist. Immer wieder das wandernde oder leidende Herz zurückzuholen. Aber das allein wäre zu wenig. Es ist ein erwartungsvolles »Harren« auf den einen, lebendigen Gott. Und als solches steht es, gerade in schwierigen Zeiten, unter einer großen Verheißung:
… die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Jesaja 40,31
Atemzüge und Flügelschläge
Es ist ein bisschen paradox. Ich sitze mit vollem Bodenkontakt in der Gegenwart und Wirklichkeit. Und dann schwingt sich mein Herz ganz unvermutet auf. Es lässt sich fast mühelos bis zu einem Punkt tragen, von dem aus sich meine Situation wie Puzzleteile ordnen und zusammenfügen lässt. Das hat nichts mit Überheblichkeit und Überlegenheit zu tun. Aber viel mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Jeder aufmerksame Atemzug ist wie ein Schlag mit geschenkten Flügeln eines Adlers, der im warmen Aufwind seine Kreise zieht.
Zurück zum Anfang: Die Redewendung „Fly by the seat of your pants“ bedeutet im Englischen so etwas Ähnliches wie „sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen“. Von außen betrachtet sieht der kontemplative Weg recht undramatisch aus. Innerlich ist das freilich eine ganz andere Sache – das wussten schon die Wüstenväter. Und wenn ich ab und zu erzähle, dann merke ich, wie allein schon der Gedanke an Stille bei manchen Unbehagen auslöst. Oder diese Mischung aus Faszination und flauem Magen, die bei mir am Anfang stand.
Es kann wundersam beflügelnd sein, sich auf den Hosenboden zu setzen.
Der Unterschied zwischen der politischen Theologie von Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz u.a. und einer (neu)rechten politischen Theologie, die wieder bei Carl Schmitt anknüpft, liegt in der Differenz zwischen apokalyptischer und eschatologischer Orientierung:
Apokalyptiker sehnen den Endkampf zwischen Gut und Böse herbei. Eschatologiker hingegen sind von einer Theologie der Hoffnung erfüllt. Sie arbeiten nicht an der Apokalypse, sie verstehen sich vielmehr als geduldige Mitarbeiter am kommenden Reich Gottes.
Was das Motiv vom „Endkampf“ bewirkt, hat sich am Freitag in Christchurch gezeigt. Trotzdem ist das mit den Begriffen, die Schieder hier benutzt, so eine Sache. Wir haben es ja durchaus mit verschiedenen Apokalypsen zu tun: Die rechte Apokalypse ist der angebliche Verrat der globalen Eliten an Volk und Nation. Das rechtfertigt den Ausnahmezustand, fördert eine identitäre „Resakralisierung des Politischen“ und dient als „Radikalisierungsmanual“, erklärt Schieder. Sein Gegenmodell des „Eschatologischen“ trifft sicher auch auf die oben genannten Protagonisten zu, die politische Theologie in den Siebzigern sozial- und institutionenkritisch betrieben.
Fingierte und reale Apokalypsen
Ich bin trotzdem nicht ganz zufrieden mit dieser Differenzierung. Zumindest nicht im Blick auf die Gegenwart. Denn da reden wir ja nicht nur vom rassisch-völkischen Wahn und seinen halluzinierten Abendlandsapokalypsen, sondern von mess- und in groben Zügen auch berechenbaren Apokalypsen, die uns ins Haus stehen – wenn wir nicht gegen die Klimakatastrophe unternehmen, die schon längst im Gang ist. Wo buchstäblich die Elemente der Welt aufbegehren gegen menschliche Gier und politische Verantwortungslosigkeit. Hier ist Geduld ein problematischer Begriff, weil die Zeit tatsächlich drängt. Ungeduldige Beharrlichkeit ist da schon eher angesagt.
Politisch-kulturelle Veränderungen lassen sich umkehren, und viele arbeiten daran ja mit großem Eifer und in unterschiedlichen Richtungen. Sind ökologische Kipppunkte aber erst einmal überschritten, kommt jegliches Umdenken zu spät. Ulrich Beck bezeichnete das kurz vor seinem Tod in Die Metamorphose der Welt schon einmal mit dem Wort „Katastrophismus“. Damit verband er die Hoffnung, es könne ein emanzipatorischer Katastrophismus werden. Ob sie sich erfüllt, ist noch nicht entschieden.
„Die Frage stellt sich, ob mit dem Auftauchen und der Beschreibung des Attraktors des Terrestrischen politisches Handeln wieder sinnhaft und richtungsweisend werden kann – und so der Katastrophe zuvorkommt.“
Bruno Latour
Hier nehmen wir diesen Faden von Latour und Beck auf: Con:Fusion 2019
Ausnahmezustände
Entsprechend ist die auch Botschaft der Jugendlichen von Fridays for Future, die (verhältnismäßig junge) Politiker wie Christian Lindner oder Paul Ziemiak und ihre herablassenden Sprüche festgefahren und fossil aussehen lässt, eine Botschaft des Ausnahmezustands. Symbolisch wird das Thema Ausnahme an der Schulpflicht durchgespielt. Vor allem aber werden drastische Schritte eingefordert, um einen noch drastischeren Verlauf der schon im Gang befindlichen Katastrophe noch abzuwenden. Freilich mündet das, anders als bei Carl Schmitt und seinen neurechten Wiedergängern, nicht in den Ruf nach dem starken (und natürlich weißen) Mann. Der hat die Katastrophe mit seiner imperialen Lebensweise ja überhaupt erst herbeigeführt.
Haben sich Forscher, Volksvertreter und Aktivisten beim Klimawandel eher vornehm im Entdramatisieren geübt, während von Rechts Gefahren ebenso unablässig wie hemmungslos beschworen und dramatisiert werden? Viele waren besorgt, nicht zu radikal zu wirken. Die Auto-, Kohle- und Agrarlobby konnte ihr Wunschpersonal derweil in den einschlägigen Ministerien platzieren. Aber nun besteht die Hoffnung, dass der Widerstand lauter, breiter und entschlossener werden könnte.
Dem Schlamassel ins Auge blicken
Schieders Unterscheidung eschatologisch/apokalyptisch trifft also im Zeitalter der Verstockung auf die Frage nach dem „Woher“ zu. Sie greift aber noch zu kurz im Blick auf das „Wohin“. Da liegt noch Arbeit vor uns. Inspirierend erscheint mir etwa diese Analyse von Wolfgang Palaver. Von René Girard angeregt schreibt er über Wege, einer rechten Politik der Angst beizukommen. Er verweist auf eine Spiritualität, die Menschen dezentriert und damit Toleranz fördert, und einem „reiterativen Universalismus“, der Gott auf vielfältige Weise am Werk sieht in der Welt. Das lässt sich mit der Klima-Thematik gut verbinden.
Vielleicht möchten einige von Euch diesen Faden aufnehmen und weiterspinnen. Im September haben wir von Emergent Deutschland aus Con:Fusion 2019 geplant. Als kleinen Beitrag zur großen Aufgabe. Wir brauchen ja nicht nur eine neue Theorie, sondern wir müssen einander Mut machen. Und wir brauchen auch einen spirituellen Ort, wo Klage laut werden darf, Abstumpfung geheilt wird, so dass schließlich wieder Neues gedeihen kann.
Nicht nur in der Politik, auch in der politischen Theologie stehen wir vor neuen Aufgaben.
Vor 20 Jahren oder etwas mehr bekam ich eine Einladung in eine Gruppe älterer Damen, die allesamt traditionell kirchlich waren. Das einzige, woran ich mich aus dem Gespräch noch erinnere, war der große Kummer in der Runde, dass wir Jungen die wunderbaren Lieder von Paul Gerhardt verschmähten und lieber irgendetwas Neueres sangen. Er schien die Freude darüber in den Schatten zu stellen, dass junge Menschen Gottesdienste feiern und sich für den überlieferten Glauben begeistern.
Kürzlich wurde ich wieder eingeladen, freilich nicht in dieselbe Gruppe, doch die Altersstruktur war vergleichbar. In dieser Runde traf ich auf ein bemerkenswertes Interesse an neuen Formen von Gottesdienst und Gemeindeleben. In einer Welt, die sich so tiefgreifend verändert hat, fanden einige, hinke die Kirche doch ganz schön hinterher. Und als ich einwarf, dass manche Leute sich wünschen, dass alles in der Kirche so bleibt wie immer (weil ja alles andere nicht mehr ist, wie es immer war), war die Reaktion ein energisches Kopfschütteln.
Die Sache mit den Paul-Gerhardt-Liedern lässt sich mit dem Begriff „Minimalskandal“ aus Nils Minkmars heutigem Kommentar im Spiegelganz treffend beschreiben. Dahinter, diagnostiziert Minkmar, verbirgt sich eine schwache Identität. Im Blick auf die Politik hierzulande notiert er: »Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass die ganze Republik zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, so veränderungsphobisch gaben sich Politik und Öffentlichkeit in diesem Jahrhundert.« Es gibt auch kirchliche Verlautbarungen, die exakt so gestrickt sind.
Mit diesem Ansatz, das hat mich der Abend mit der Frauengruppe gelehrt, kann man nicht mal mehr Seniorinnen hinter dem Ofen vorlocken. Die Frage nach neuen Formen von Gottesdienst und kirchlichem Leben ist immer auch eine Frage nach der Identität, die, öfter als wir es uns eingestehen, an Musikstile, liturgische Traditionen und Gewänder, sakrale Gebäude und institutionelle Ordnungen gekoppelt ist. Um Minkmar noch einmal für den Bereich der Politiker und Parteien zu zitieren: »…augenblicklich steht zu befürchten, dass sie die [Identität] in ihrer Vergangenheit suchen, in Kruzifix-Aktionen und Sozialpolitik statt, wie es Willy Brandt so meisterlich sagte, „auf der Höhe der Zeit“ zu sein.« Da hätten die Ladies zustimmend genickt, das kennen sie von Kirchens auch. Und an ihren Kindern und Enkeln sehen sie, was es bewirkt hat.
Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich in den letzten Jahren zu hören bekam, dass Veränderungen in den Kirchen nach Möglichkeit zu vermeiden seien, um die Älteren nicht zu irritieren. Die Hürden, die man den Jüngeren damit in den Weg stellt, wurden dagegen nur selten thematisiert, oft beschränkt auf Fachtagungen zum Thema Jugendarbeit und andere Nischen. Aber es geht längst nicht mehr um einzelne Generationen, sondern ums Ganze.
Bruno Latour hat in „Jubilieren“ den ebenso schönen wie provozierenden Gedanken zum Umgang mit religiösen Traditionen im Spiel von Wiederholung und Abwandlung formuliert: » … es geht nicht darum, einen Schatz unbeschädigt durch die Zeit zu transportieren, sondern die Truhen zu füllen, um sie erneut insgesamt – banco! – aufs Spiel zu setzen.«
Dass Großmütter (sie waren es zumindest mehrheitlich…) damit kein Problem haben, ist für mich ein Zeichen der Hoffnung. Jede Gemeinde braucht solche Stimmen!
Eine Urnenbeisetzung letzte Woche. Die Februarsonne wärmt die Gesichter. Schneeglöckchen recken sich ihr entgegen. Auf den Pfützen am Boden schwimmt noch das Eis der letzten Nacht.
Wir versammeln uns um das Grab. Und mit uns ein Buchfink. Er sitzt direkt über uns, ungewohnt nahe, auf dem Zweig einer Tanne.
Und dann singt das kleine Wesen aus vollen Hals. Inzwischen sind alle Worte gesagt und alle Blumen abgelegt. Als letzte steht die Witwe des Verstorbenen noch da. Sie lauscht dem fröhlichen Gezwitscher, und dann schaut sie auf und sagt: „Wie schön er singt. Als hätte ihn jemand bestellt“.
Und auch ich denke mir: Den kleinen Musikanten hat uns einer geschickt. Und er hat mit seiner Lebensfreude die Herzen erreicht.
Ich habe kürzlich in kleiner Runde den Vorschlag gemacht, etwas Ähnliches in Nürnberg auszuprobieren. Zu meiner Überraschung bekam ich zu hören: Fahrräder können wir nicht segnen, nur Fahrradfahrer*innen. Dinge zu segnen sei doch unevangelisch. Am Ende würde jemand auch wieder Fahnen und Waffen segnen wollen.
Klar, ich kenne das Argument: Wir segnen nicht die Sparkassenfiliale, die eingeweiht (!) wird, sondern die Mitarbeiter*innen dort. Und so weiter.
Andererseits geht für mein Empfinden etwas Entscheidendes verloren, wenn ich einfach nur die Leute segne. Und zwar deshalb, weil ich sie nicht aufspalten kann in ihre unterschiedlichen Rollen. „Radfahrer“ ist ja nur ein Aspekt unter vielen, wenn es um die ganze Person geht. Und in der Regel nicht einmal der Entscheidende.
In der Segnung der Fahrräder aber geht es aber genau darum, eine bestimmte Art der Fortbewegung zu fördern und zu stärken. Eine bestimmte Haltung gegenüber der Mitwelt und den Mitmenschen. Wer sich mit Muskelkraft fortbewegt statt mit dem SUV durch die Gegend zu brettern, schont einerseits die Ressourcen. Andererseits macht man sich damit auch verletzbar: Es besteht die Gefahr, von anderen über den Haufen gefahren zu werden. Das Symbol für all diese Zusammenhänge ist der Helm, das Rad, der Roller, Rollator, Rollstuhl, Skateboard, oder was sonst noch Räder hat.
Dualismus oder Symbol?
Unser neuzeitlicher Dualismus von Geist und Materie kommt uns hier leicht in die Quere. Entweder segne ich einen Gegenstand oder eine Person, das Rad oder die Fahrerin.
Aber wie im Abendmahl auch ist ein Gegenstand nicht immer einfach nur ein Gegenstand. Er kann auch Symbol sein. Brot und Wein sind Symbole der Tischgemeinschaft unter Menschen und der Gastmahle Jesu. Im Abschiedspassa vergegenwärtigt Jesus den Auszug aus Ägypten, seinen Tod am folgenden Tag und das Mahl der Erlösten auf dem Zion aus Jesaja 25. Und damit gibt er diesem Abschied (und unserer Erinnerung daran) seine spezifische Bedeutung.
Ich bemühe die lutherischen Formel „in, mit und unter“ nicht so oft. Aber so stelle ich mir die Segnung der Fahrräder vor: Menschen kommen zusammen, verbunden in ihrer Verwundbarkeit als Verkehrsteilnehmer und ihrer Absicht, achtsam mit den Mitgeschöpfen umzugehen. Dazu bringen sie ihren fahrbaren Untersatz mit. „Drahtesel“ können zwar nicht sprechen wie Bileams Eselin, aber natürlich ist das eine Geste, eine stumme Aussage, wenn ich mit Rad und Helm erscheine. In, mit und unter Menschen, Helmen, Rädern, guten Vorsätzen und mitunter traumatischen Erfahrungen suchen wir Gott. Und wenn dabei symbolisch (und das heißt: nicht magisch) auch die Räder gesegnet werden, haftet an ihnen die Erinnerung an Gott, dessen Schutz wir suchen und dessen Liebe uns verpflichtet.
Zeichen setzen
Ein sakraler Raum ist seltsamerweise für die meisten von uns kein befremdlicher Gedanke. Manchmal gehen wir auch an symbolträchtige Orte und feiern dort einen Gottesdienst. Oft wollen wir damit auch atmosphärisch etwas bewirken, indem wir Zeichen setzen. Das Fahrrad und der Helm (und in verschärfter Form das Ghostbike) sind nichts anderes als mobile Zeichen – Mahnmale und Mutmacher. Wir kleben keine Christophorusplaketten drauf, aber wir machen ein Kreuz aus ein paar Tropfen Öl. Obwohl das bald wieder verschwunden ist – eine flüchtige Angelegenheit.
Nennt mich meinetwegen katholisch – ich würde es gern machen. Ich würde (in dem hier beschriebenen Sinne) auch Rettungswagen segnen, Seenotkreuzer und Blauhelme. Um Gottes und der Menschen willen. Das sind nicht einfach nur irgendwelche Dinge.
Was Worte doch alles ausrichten: Gute Worte richten auf und machen Mut, geben Energie und sind der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Liebeserklärungen, Komplimente, Aufmunterungen, oder gar Visionen wie die des Mose von Milch und Honig oder Martin Luther Kings Traum. Böse Worte zerstören Beziehungen, Vertrauen, Selbstwertgefühl, sie können uns sogar den Lebensmut rauben, wenn wir sie verinnerlichen.
Dass durch Worte etwas wird, was noch nicht war, das verbindet uns Menschen mit Gott. In der biblischen Schöpfungsgeschichte spricht Gott, und etwas wird, und Gott sieht dann, dass es gut ist. Am Anfang was das Wort: Er ruft die Welt und uns ins Leben. Jeder einzelne Mensch ist gewissermaßen so ein Wort Gottes. „Menschen“, hat Edward Schillebeeckx einmal gesagt, „sind die Worte, in denen Gott seine Geschichte erzählt.“
Ist ein Wort erst einmal in der Welt, dann führt es ein Eigenleben. Seit wir es aufschreiben und mitschneiden können, kann uns unser Wort vorauseilen. Es überlebt sogar unseren Tod. Es wandert durch die Welt der Gedanken und Gespräche und verändert sich dabei. Manchmal erkennen wir dann nicht wieder, was wir gesagt haben sollen. Auch da geht es Gott wie uns: Vieles von dem, was er meint, kommt gar nicht an oder eben ziemlich verzerrt. Seine Worte auf zwei Beinen gehen eigene Wege.
„Rede, dass ich dich sehe“, hat Sokrates einmal gesagt. Was sich im Innersten einer Person verbirgt, das kann nur die Person selbst sagen. Auch das gilt für Gott und Menschen gleichermaßen. Gott läuft durch den Garten und ruft „Adam, wo bist du?“. Er braucht weder Brille noch Fernglas. Aber Adam will sich nicht zeigen, sich nicht erklären, also schweigt er erst einmal.
Manche unserer Probleme mit einander entstehen daraus, dass wir uns im Schweigen verstecken. Sich zu offenbaren heißt, sich verwundbar zu machen. Andere können meine Aussage über mich selbst verdrehen, verspotten oder verreißen. Dann überlege ich mir ganz genau, was ich von mir preisgebe. Manchen Zeitgenossen steht ja quasi auf die Stirn geschrieben: „Alles, was sie sagen, kann gegen sie verwendet werden“.
Den vielen unzuverlässigen Worten dieser Welt setzt Gott das eine entgegen. Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, schreibt der Evangelist Johannes. Es bringt Gnade und Wahrheit in die Welt. Gott erlaubt uns, tief in sein Herz zu blicken. Sünden können bekannt werden, weil die Vergebung gewiss ist und die Verurteilung nicht mehr zur Debatte steht.
In der Bergpredigt lehrt uns das Wort, wie wir mit unseren Worten umgehen sollen:
Redet nicht abfällig. Die Gewalt der Worte ist an sich schon Gewalt und oft auch noch der Auslöser für die Gewalt der Füße und Fäuste. Wer andere beschimpft, disst, verletzt und niedermacht, ob auf Twitter, ins Gesicht oder hinter ihrem Rücken, der steht im Widerspruch zu Gott. Konkretes Verhalten kann und muss man sehr wohl kritisieren, Jesus tut das ja auch. Aber die Würde der Person muss erhalten bleiben und die Tür zur Veränderung und Versöhnung offen.
Das ist viel verlangt, und Jesus setzt noch eins drauf: „Richtet nicht!“ Schreibt keinen Menschen ab, schließt keinen aus der Gemeinschaft aus. Du wirst an deinen eigenen Worte gemessen werden. Also entscheide dich jetzt für Barmherzigkeit oder für Härte. Was du über andere sagst, fällt auf dich zurück. Deine Worte kehren zurück und zerren dich vor Gericht.
Ein bisschen sind wir alle beschädigt durch das, was wir und andere gesagt haben. Manche brauchen viel Zeit und noch mehr Gespräche, um sich davon zu lösen, was ihnen unter die Haut gegangen ist.
Sprich nur ein Wort – das klingt wie das biblische Pendant zu dem Song von „Wir sind Helden“. Ein römischer Hauptmann bittet den jüdischen Heiler um Hilfe für seinen Diener. Und weil er die Macht der Worte kennt, reicht ihm ein Satz von Jesus. Du musst nicht zu mir nach Hause kommen. Gib mir bitte nur ein Wort.
Er bekommt es. Und ein Lob von Jesus obendrauf. So gut hatte das noch niemand verstanden mit den heilenden Worten.
Ab und zu gibt es diese Gespräche über das Bibelverständnis, die mich ratlos zurücklassen angesichts der Kluft, die zu überbrücken ist. Kürzlich erklärte mir mein Gegenüber, im Buch Hiob seien an einigen Stellen Erkenntnisse vorweggenommen, für die die Wissenschaft erst in den letzten Jahren den Beweis erbracht hat. Es ging um Quellen in der Tiefsee und Sternbilder, die auseinanderdriften. Das sei doch ein klarer Beweis für die göttliche Inspiration der Schrift.
Ich antwortete, dass die Tiefseequellen dem dreistöckigen Weltbild mit Erde, Himmelsgewölbe und Wasser auf allen Seiten entsprechen, das wir in Genesis 1 finden. Klar speist sich das Meer da auch von unten. Wir sprachen auch noch kurz und ergebnislos über Astronomie, dann wurden wir unterbrochen.
Das funktioniert ohnehin nur unter zwei Bedingungen: Erstens muss der geschichtlich-kontextuelle Charakter biblischer Texte ausgeblendet werden, da es ja um vermeintlich zeitlose, absolute Wahrheiten geht. Zweitens lassen sich solche Übereinstimmungen immer nur punktuell finden. Sie dienen dann dazu, die Differenzen und Widersprüche an anderen Stellen zu negieren. Nach dem Motto: Irgendwann wird die Wissenschaft auch da noch ihre Meinung ändern und die Wahrheit anerkennen, die wir schon haben. Oder auch: Der naive Bibelleser, der alles wortwörtlich nimmt, ist klüger als alle Professoren dieser Welt. Dieses Überlegenheitsgefühl hat schon seinen trotzigen Reiz.
Aber was wäre das eigentlich für ein Gott, der zu den damaligen Menschen nicht so redet, wie sie es verstehen, sondern ihnen Botschaften schickt, die erst zweieinhalbtausend Jahre später einen Sinn ergeben?
Was ich zum Thema „Irrtumslosigkeit“ der Schrift denke, habe ich hier vor einer ganzen Weile schon festgehalten. In diesem Gespräch blieb die Differenz stehen, die Diskussion ging nur in meinen Gedanken noch weiter. Ich fürchte, dass die eigentliche Botschaft biblischer Texte – Gottes Zuneigung zu seiner Schöpfung in Genesis 1 oder bei Hiob das Rätsel menschlichen Leides und göttlicher Macht – bei der Suche nach solchen absoluten Wahrheiten und der Bestätigung eines fixen Dogmas in den Hintergrund rückt und gar nicht mehr richtig im Herzen des Bibellesers ankommt.
Dann wären die tiefen Quellen für den Glauben verschüttet. Denn die Bibel ist nicht die finale Beschreibung all dessen, was es objektiv über die Welt zu sagen gibt. Sie konkurriert nicht mit den Naturwissenschaften. Sondern sie erzählt eine Geschichte so subjektiver Dinge wie Ungewissheit und Vertrauen, Streit und Versöhnung, Sehnsucht und Freiheit.
Lutheraner sind unter den Kirchen der Ökumene nicht als große Asketen bekannt. Andere mögen heftig fasten und büßen, wir scheuen eher den Verdacht der Werkgerechtigkeit oder den Vorwurf einer zur Schau gestellten Frömmigkeit. Und verzichten ganz demütig (freilich keineswegs demonstrativ!) aufs Verzichten.
Wobei – nicht ganz. Denn vor allem, wenn Altar und Kanzel lila tragen, während der Advents- und Passionszeit, verzichten wir auf das österlich-frivole Halleluja. Und das ist – überschwänglich und ausgelassen wie wir nun mal sind – wirklich verdammt hart für den gewöhnlichen Lutheraner, sich den Jubel über Wochen hinweg zu verkneifen.
Wir wissen eben, was wirklich weh tut: Dieses kleine Wort zu verschweigen.
Aber nicht nur uns selbst gegenüber sind wir streng, sondern auch gegenüber Gott. Der ist ja der Adressat des entfallenden Halleluja. Ich frage mich manchmal, wie es ihm damit geht, dass wir auch mit auf seine Kosten fasten. Oder ob er sich still und heimlich ein bisschen amüsiert über unsere beeindruckende Enthaltsamkeit?
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg brachte mich gestern zum längeren Nachdenken. Worum geht es da eigentlich? Gleicher Lohn für gleiche Leistung ist ja auch heute ein Thema, das völlig zu Recht für Diskussionen sorgt. Das wäre trotzdem eine eher vordergründige Betrachtungsweise.
Ich habe mich gefragt, was das Gleichnis für den Gemeindeaufbau bedeutet. Da ist es ja oft genug so, dass die Arbeiter der ersten Stunde alle Schlüsselpositionen besetzen. Wer dann später dazustößt (weil er/sie jünger ist, neu zugezogen, oder bisher mit anderen Dingen befasst war), muss sich einfügen und hat geringere Spielräume. Die „Kerngemeinde“ hat das Sagen, die anderen müssen mit den Vorlieb nehmen, was an Zeit, Kraft, Geld und Gestaltungsspielraum übrig bleibt. Als gäbe es einen Frühbucherrabatt (bzw. -bonus), mit dem man sich die besten Plätze sichern könnte.
Und nun kommt Jesus daher mit einer Geschichte, in der Frühbucherbonus auf den Kopf gestellt wird. Die neu dazu kommen, haben genauso viel zu melden wie die alten Hasen. Verständlich, dass letztere verschnupft reagieren. War der ganze Stress umsonst?
Kirche ist keine Meritokratie
Was sie freilich nicht sehen (der Winzer allerdings schon), ist, dass die Kerntruppe viel zu klein ist, um die Lese auf dem Weinberg zu stemmen. Also nimmt er, wen er kriegen kann und zahlt den Neuen einen absurd großzügigen Lohn. Weil er will, dass sie bleiben. Weil ihre Familien genauso hungrig sind wie die der anderen. Weil er nicht Leistung bezahlt, auch nicht Zeit, sondern Menschen an sich bindet.
Wie wäre das: Kirche, in der die Newcomer sich nicht erst das Recht verdienen müssen, gehört zu werden. Die jeden, der neu mit anpackt, freudig aufnimmt. Die nicht Buch führt über Verdienste sondern fragt, was jeder braucht, um gut arbeiten zu können. In der keine Besitzstände gewahrt werden, weil dafür angesichts der vielen Arbeit, die vor uns liegt, einfach keine Zeit ist. In der die Neuen ihren Musikgeschmack, ihren Arbeitsstil, ihre Prägung und ihre Ideen ebenso selbstverständlich einbringen können wie die, die seit Jahr und Tag schon in dem Laden aktiv sind: Kirche ist keine Meritokratie, auch keine Meritokratie der Treuen und Beständigen. Und „das war schon immer so“ ist einfach nur die Vermeidung eines guten Arguments.
Ich bin ja selbst gerade einer dieser Neuen. Als Pfarrer ist das freilich noch einmal etwas ganz anderes als für „normale“ Gemeindeglieder. Ich kann, darf und muss vieles mitbestimmen. Meine Fragen und Vorschläge werden nicht so schnell vom Tisch gewischt wie die einer Konfirmandin oder eines neu Zugezogenen. Und ja – in jedem sozialen System braucht man Geduld und Fingerspitzengefühl, wenn man etwas verändern will.
Wie alle gewinnen
Aber es gibt eben auch diesen Spätbucherbonus, auf den die Kirche nicht verzichten darf. All die Neuen, die bei uns hereinschnuppern und andocken (oder es versuchen), sind ein Bonus, ein Geschenk. So, wie sie sind, und nicht erst, wenn sie sich mühsam assimiliert und wir ihnen alle Flausen ausgetrieben haben. In einer Gesellschaft, die immer bunter und vielfältiger wird, wären wir ohne die Fragen, die sie stellen, und die Irritationen, die sie auslösen, bald völlig betriebsblind. Unseren Beschreibungen vom Auftrag der Kirche, unsere Einschätzung des eigenen Beitrages dazu wären wertlos.
Im Gleichnis Jesu behandelt der Winzer die Newcomer so, als hätten sie schon immer dazugehört. Vielleicht gelingt uns dieses Kunststück ja auch. Genug zu tun gibt es allemal vor unserer Nase.
Eine unregelmäßig wiederkehrende Situation in meinem Alltag ist das Geräusch des Martinshorns auf der Straße oder des Rettungshubschraubers im Anflug auf die Klinik. Eine dieser Unterbrechungen, die Anlass geben zum Gebet. Was hätten die alten Iren gesagt? Mein Stoßgebet fällt so aus:
Himmlischer Tröster und Beistand! Blaulicht und Sirene ziehen vorüber Rotoren schlagen gegen den Himmel.
Retter kämpfen um ein Leben, die Zeit drängt jeder Griff muss sitzen.
Schenke klare Köpfe, beherztes Anpacken, freie Bahn und Rettungsgassen.
Lass uns – Gaffer, Weggucker und Irritierte – unsere Verwundbarkeit spüren und sachte weitergehen.
Jemand weint. Jemand hat Angst. Jemand leidet Schmerzen. Kyrie eleison.
PS: Wer seine Kenntnisse in erster Hilfe auffrischen möchte, kann sich hier umschauen
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