Von Hirten und Sammlern

Den kommenden Sonntag prägt Kernmotiv der Jesustradition: Der gute Hirte. Ausflüge in die Kunstgeschichte und Ikonographie bieten sich an, wie auch alle möglichen Idealisierungen (etwa: Jesus bzw. kirchliche Amtsträger als empathische Seelsorger). Oder deren Dekonstruktion: Die zeigt dann auf, was für einen gänzlich unromantischen Knochenjob Hirten haben und was für rabiate Wesen Schafe sein können. So wie in diesem ausgesprochen krassen Beispiel:

Bei johanneischen Texten stellt sich die Frage, welche Entsprechungen sie in den synoptischen Evangelien haben. Zwei davon haben mich die letzten Wochen über beschäftigt. Sie sind etwas weniger offensichtlich als das bekannte Gleichnis vom verlorenen Schaf oder die Klage über die Schafe ohne Hirten vor der Aussendungsrede. Aber ich denke, sie sind nicht weniger bedeutsam.

Der Name Gottes und die Sammlung Israels

Ich beginne wir mit der ersten Bitte des Vaterunsers: „Geheiligt werde dein Name“. Woran hängt die Integrität des Namens Gottes? Brauchen wir strafbewehrte Blasphemieparagraphen, die seinen Verächtern das Lästern verbieten? Tanzverbote an Karfreitag oder Allerheiligen? Oder geht es um die Gedankenlosen, denen der Ausruf »Oh mein Gott« allenfalls beim Anblick eines XXL-Eisbechers über die Lippen kommt?

In der Bibel macht sich Gott einen Namen, indem er ein unterdrücktes Volk aus der Sklaverei führt. Die Offenbarung seines Namens ist die Antwort auf das Klagen und Stöhnen der Israeliten, das schon gar keinen konkreten Adressaten mehr kennt. Israels Gott setzt mit seinem Eingreifen ein Zeichen in der Welt der Ausbeuter und Unterdrücker. Und als sein Volk bei der erstbesten Gelegenheit den eben geschlossenen Bund bricht, erinnert Mose Gott an die Zusage, die er den Vätern »bei seinem Namen« gegeben hat (Ex 32,13). Würde Gott sich zurückziehen, hätten die Pharaos dieser Welt gewonnen und jeder Widerspruch (geschweige denn Widerstand) wäre verstummt.

Die großen Bußgebete der Exilszeit in Nehemia 9 und Daniel 9 schlagen ähnliche Töne an: »Herr, vernimm das Gebet und handle! Mein Gott, auch um deiner selbst willen zögere nicht! Dein Name ist doch über deiner Stadt und deinem Volk ausgerufen.« (Dan 9,19). Gerhard Lohfink hat daraus den Schluss gezogen, dass es bei der Bitte um Heiligung des Namens um die Sammlung des zerstreuten und verirrten Gottesvolkes geht. In Ezechiel 36,22-24 erscheint das im Zusammenhang mit der Bundeserneuerung, in Ez 20,41.44 heißt es kurz und bündig:

Wenn ich euch aus den Völkern herausführe und aus den Ländern sammle, in die ihr zerstreut seid, werde ich mich vor den Augen der Völker an euch als heilig erweisen. (…) Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich um meines Namens willen so an euch handle.

Wer nicht sammelt, zerstreut

Die messianische Sammlung des Volkes Gottes und das Kommen des Reiches Gottes sind bei Jesus nicht voneinander zu trennen. Das bringt mich zum zweiten Text, der für mich zum Umfeld des guten Hirten gehört. In Mt 12,30 sagt Jesus recht schroff: »Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut«. Das war die Anklage des Ezechiel gegen die schlechten Hirten, dass sie nicht auf die Herde achten, sondern auf sich selbst und ihre Bedürfnisse fixiert sind. Wenn Jesus schließlich für seine und seiner Nachfolger Sendung das Bild der Ernte verwendet, geht es auch da um eine Sammlung, nicht nur um eine Aussaat (die Bitte um Arbeiter in der Ernte ist in Mt 9,36-38 mit dem Verweis auf die „Schafe ohne Hirten“ verbunden). Zweifellos geht Jesus dabei sehr unorthodox vor – so hatten das die wenigsten Zeitgenossen erwartet.

Aber die Transformation der Macht- und Lebensverhältnisse in der Welt geht – äußerlich wie innerlich, geistig wie praktisch – nicht ohne eine gemeinschaftliche Anstrengung, nicht ohne eine dazugehörige Bewegung, die sich bewusst als solche versteht und die sich am Handeln Gottes orientiert. Es geht, um das gleich dazu zu sagen, allerdings sehr wohl ohne Hierarchien und mit einem geringeren Grad von Institutionalisierung als in manchen Kirchentümern heute.

Damit Gottes Wille geschieht (um gleich noch die dritte Bitte ins Spiel zu bringen), müssen also Menschen vorhanden sein, die ihn aus freien Stücken, bewusst und planvoll tun. Das können wir nicht, wie im neoliberalen Zeitalter üblich, ausschließlich den einzelnen aufbürden und es damit ins Private und Individuelle (praktisch heißt das oft auch: ins Beliebige) verlagern. Sprich: Wir können uns mit der Vereinzelung das Glaubens nicht abfinden oder sie zum neuen Ideal erheben.

Sammeln – zwischen Uniformierung und Individualisierung

Nun haben bestimmte Formen der Versammlung an Ausstrahlung und Bindungskraft verloren. In den evangelischen Kirchen ist das vor allem der traditionelle Sonntagsgottesdienst. Ich habe dazu letzte Woche ein paar Gedanken und Beobachtungen gepostet. Zugleich habe ich die Diskussion um das neue Buch von Erik Flügge verfolgt. Der legte uns Protestanten nahe, das Thema gottesdienstliche Versammlung mehr oder weniger abzuhaken. Aus Mangel an Beteiligung, wie er deutlich macht. Im DLF-Streitgepräch hielt Reinhardt Mawick dagegen. Er verteidigt den Wert des Gottesdienstes, relativiert die schlechten Zahlen zum Gottesdienstbesuch und verweist auf die Bedeutung von Kasualgottesdiensten, Kirchenmusik und Kirchenräumen. Der Kommunikationsberater Flügge regt an, den Zusammenhalt und die Orientierung der evangelischer Kirchenmitglieder über prominente, medial präsente Identifikationsfiguren (»Star-Christen« quasi, oder eben Influencer und Follower) neu organisieren.

Ist das noch genug Sammlung oder schon die Kapitulation vor der spätmodernen Vereinzelung? Belebt Flügge gar den alten kulturprotestantisch-liberalen Traum aus dem 19. Jahrhundert wieder: Die Vorstellung, die Kirche würde die Gesellschaft so weit verbessern, bis sie in ihr (als einem säkularen Gottesreich) aufgeht? Und wenn er das doch nicht will, wie bleibt die kritische Kraft des Glaubens auf Dauer lebendig, wenn sich jegliches konkrete Miteinander auflöst?

Auch eine kleine Herde kann viel Kraft kosten…
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Nicht Sammeln ist keine Lösung

Kirche im Sinne Jesu, da sind sich viele einig, ist berufen »Kontrastgesellschaft« zu sein. Als solche ist sie nicht ohne Begegnung, Zusammenhalt und Kooperation zu denken. Die Formen, in denen das gelebt wird, wandeln sich. Die Lebensstile differenzieren sich aus, die Lebensrhythmen haben sich gewandelt. Digitale Kommunikation ist nicht mehr wegzudenken – auch wenn nicht jede(r) davon Gebrauch macht. Dass profilierte „Events“ wichtig sind, hat sich auch herumgesprochen (und wer am Karfreitag bei Gott im Berg war, konnte sich davon überzeugen).

Es wäre einfach zu billig, sich unter Berufung auf die veränderten Verhältnisse von der Aufgabe des Sammelns zu verabschieden. Schon das Nichtsammeln leistet der Auflösung Vorschub. Freilich haben wir in den verfassten Kirchen vielfach verlernt, Bewegung zu sein und Menschen zu einer Bewegung zu sammeln. Stattdessen haben wir uns darauf verlassen, dass unsere institutionellen Strukturen (bzw. deren Reste) noch tragfähig genug sind, und die meiste Kraft in deren Erhaltung investiert, statt uns auf Veränderung und Neues einzustellen. Darauf (auf das Konventionelle und Institutionelle) scheint mir auch die Argumentationslinie von Marwick abzuzielen, wenn er sakrale Handlungen, Räume und Musik hervorhebt: Da kommen die Menschen noch zur Kirche und ersparen es der Kirche, sich auf den Weg in fremdes, ungesichertes Terrain zu machen.

Andere Anforderungen

Indes – Sammeln zur Bewegung, so wie Jesus das getan hat, das stellt andere Anforderungen an die Hirten von heute. Im Blick auf Gott ist Sammeln Chefsache, das lässt er sich nicht nehmen. Unter den Gliedern der Gemeinde gibt es unterschiedliche pastorale (also „hirtliche“) Rollen und Funktionen. Sie können das göttliche Sammeln nur im konstruktiven Zusammenwirken abbilden. Da kann es also nicht darum gehen, es „den Profis zu überlassen“ – Klerikalismus heißt dieses Problem im kirchlichen Kontext. Die Aufgabe der Hauptamtlichen wäre es allenfalls, so viel Beteiligung zu ermöglichen, wie es nur geht. Und dabei selbst aus dem Weg zu gehen, um Horizonte offen zu halten und Zugänge zu markieren. Innerhalb der Kirche eine Unterscheidung zwischen „Hirten“ auf der einen und „Schafen“ auf der anderen Seite zu pflegen, ist nicht besonders zielführend.

Das macht den guten Hirten aus, dass er sich selbst zurücknimmt. Dass er sich nicht über andere erhebt oder mit anderen konkurriert. Jede(r) von uns kann sich mal (ver)irren. Was für ein Glück, wenn dann andere da sind, die uns helfen, den Anschluss an den einen, guten Hirten wieder zu finden.

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