Beitrag zum Lorenzer Kommentargottesdienst vom 26. Mai 2019
(Die Wahl lief noch, als der Kommentargottesdienst mit OB Dr. Maly gestern stattfand. Die Ergebnisse sind hier also nicht berücksichtigt. Die Grundentscheidungen haben sich allerdings auch nicht geändert über Nacht. Hier also mein Text zum Nachlesen)
Der frühere britische Großrabbiner Rabbi Sacks erzählte vor einigen Monaten davon, wie er einen amerikanischen Freund fragte: „Wie ging es dir am Tag der Wahl von Donald Trump?“ Der antwortete sarkastisch: „Wie dem Mann, der an Bord der Titanic in sein Whiskyglas starrt und sagt: »Ich hatte zwar um Eis gebeten, aber das…«“
Was bringt uns diese Wahl: Europe on the Rocks? Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Briten: Jener Nation, die seit gut zwei Jahren für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hat und seither Zaungast ist – mit einer Hinterbacke schon draußen und der anderen noch drin. Nirgendwo sonst ist das Thema der EU-Mitgliedschaft so schrill diskutiert worden wie auf der Insel. Noch immer kann niemand sagen, wie die Entscheidung endgültig ausfällt. Der Blick vom Rand der EU (und womöglich des Abgrundes der Isolation) eröffnet vielleicht eine Perspektive, die manches klarer hervortreten lässt. Der Historiker Timothy Garton Ash hat kürzlich im „Guardian“ erklärt, wie „Europa“ (gemeint ist die EU) an den Punkt gekommen ist, an dem wir heute stehen.
Das ist die List der Geschichte: Die Saat des Triumphes wurde im Augenblick der größten Katastrophe ausgestreut, 1939, aber die Saat der Krise im Augenblick des Triumphes, 1989. Im Rückblick können wir erkennen, dass viele der Probleme, die Europa heute heimsuchen, ihren Ursprung in der anscheinend triumphalen Wende nach dem Fall der Berliner Mauer haben. Ein paar Menschen mit Weitblick warnten damals. Der französische politische Philosoph Pierre Hassner schrieb, dass wir uns just in dem Augenblick, in dem wir den Triumph der Freiheit feiern, daran erinnern sollten, dass „die Menschheit nicht von Freiheit [„liberty“!] und Universalität allein lebt, dass das Bestreben, das zu Nationalismus und Sozialismus führte, die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Identität und die Sehnsucht nach Solidarität und Gleichheit, zurückkehren werden, so wie sie das immer getan haben“. Und genauso kam es.
Christian WiedigerAchtzig Jahre nach Kriegsbeginn und dreißig Jahre nach dem Ende des kalten Krieges steht Europa 2019 wieder am Scheideweg. Das Gefälle zwischen Nord und Süd, West und Ost droht zur Kluft zu werden. Der Rechtspopulismus profitiert von diesem Riss und hat an vielen Orten gefährliche Ausmaße erreicht. Das Eigene wird überhöht und verklärt, das Fremde dämonisiert, Dialog durch Propaganda erstickt. Ihre Wortführer sind Unschuldslämmer und Racheengel in einer Person. Die Mächtigen in Washington, Moskau und Peking nutzen indes die Schwäche und Uneinigkeit aus, um in Europa eigene Interessen durchzusetzen. Welche gute Nachricht haben Christen in dieser schwierigen Lage anzubieten?
„Komm herüber und hilf uns“
Mit diesem Satz wird Europa in der Bibel eingeführt, ohne dass der Begriff jemals fällt. Es ist der „mazedonische Ruf“, der den Apostel Paulus in der Apostelgeschichte durch eine nächtliche Vision ereilt. Er kommt aus einer Region Europas, in der sich heute viele Krisensymptome zeigen: Die Balkanroute mit ihren Grenzzäunen und Elendslagern, wo Frontex patroulliert, wo seit der Finanzkrise verarmte Griechen und noch viel ärmere Nordmazedonier sich mit ihrem Nationalstolz überbieten. Am anderen Ende der EU, von Britannien aus betrachtet.
Damals, Mitte des ersten Jahrhunderts, landeten dort keine Flüchtlingsboote. Aber in Philippi, einer römischen Militärkolonie, entstand die erste christliche Gemeinde in Europa. Ihre Patronin war – auch das ein Novum – eine Frau. Der neue Glaube kam – wie die Europa der griechischen Mythologie – aus Vorderasien, und nun war er dem Machtzentrum des Imperiums einen Schritt näher gekommen.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass Paulus im Brief an die Philipper gerade die Demut, Gewaltfreiheit und Niedrigkeit Christi, des designierten Weltenherrschers, so in den Mittelpunkt stellt. Es war keine Invasion, sondern ein sanftes Einsickern. Eine alternative Gemeinschaft war entstanden. Und nach dem Prinzip des Sauerteigs breitete sie sich aus. Unter den Augen der misstrauischen Obrigkeit, die schon den Gründer beim ersten Anlass ins Gefängnis geworfen hatte. Man kann hier durchaus eine Gegenerzählung zum Imperialismus der Römer entdecken. Oder zur „Imperialen Lebensweise“ des globalen Kapitalismus, der Ausbeutung von Mensch und Natur durch den globalen Norden zu Lasten des Südens, die uns das Zeitalter des „Kapitalozän“ beschert hat.
„Komm herüber und hilf uns!“ – lässt sich daran im Jahr 2019 noch irgendwie anknüpfen im weithin postchristlichen Europa?
Nach 1939 (und erst recht nach 1945) waren es die Amerikaner, die herüber kamen und halfen: Entnazifizierung, Marshallplan, liberale Demokratie, militärische und politische Kooperation in Nato und UN. Das öffnete die Tür für die Aussöhnung mit Frankreich und die Gründung der EU.
1989 kam die Hilfe aus Moskau, das seine Satellitenstaaten aufgab und sich friedlich aus Mitteleuropa zurückzog, statt auf Demonstranten in Danzig oder Leipzig einprügeln und schießen zu lassen.
2019 regieren Donald Trump und Wladimir Putin. Beide haben hinreichend unter Beweis gestellt, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten ist. Woher dann? Von innen? Von außen? Von oben?
Hilfe ist unterwegs
Nun, vielleicht kommt die Hilfe gerade von unten. Von der Erde. Aus dem Boden, der Atmosphäre, der dünnen „kritischen Zone“ auf der Oberfläche unseres Planeten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit greift die Erde in unsere Pläne und Diskussionen ein. Sie ist nicht nur duldsames Material und passive Kulisse, sondern ein eigenständiger Akteur. Bühne und Kulissen erweisen sich als unerwartet lebendig und mischen sich ein in das Stück, das wir aufführen. Unsere objektivierenden Vorstellungen von „Natur“ und „Umwelt“ geben das nicht angemessen wieder. So hat es Bruno Latour, Winzersohn aus dem burgundischen Beaune und leidenschaftlicher Europäer, in seinem „Terrestrischen Manifest“ formuliert.
In religiöse Sprache übersetzt lautet die Botschaft der Erde: „Tut Buße. Ändert eure Lebensweise. Ihr könnt nicht weitermachen wie bisher.“ Alle gemeinsam leben wir über die Verhältnisse unseres Planeten. Die Reichen und Mächtigen entziehen den Armen dabei inzwischen buchstäblich die Luft zum Atmen und den Boden unter den Füßen. So kann es nicht weitergehen. Greta Thunberg und die Jugendlichen von „Fridays for Future“, unterstützt von Eltern und Wissenschaftler*innen, haben daraus die Konsequenzen gezogen. Aber es ist nicht einfach nur so, dass wir den Planeten retten müssen, er hat auch das Potenzial, uns zu retten aus unseren Sackgassen und internen Konflikten. Ulrich Beck hat das kurz vor seinem Tod ganz ähnlich beschrieben: Es geht um eine Metamorphose der Welt.
Wenn Sie das für ein esoterisches Konzept oder für rührselige Ökoromantik halten, nehmen Sie doch die Bibel zur Hand: Mitten in der Offenbarung des Johannes erscheint dort eine namenlose Frauengestalt, die unter Gefahren ein Kind zu Welt bringt und schließlich vor dem imperialen Drachen fliehen muss, der dort wütet. Es ist eine surreale Szene, aber uns erscheint ja gerade vieles Wirkliche surreal. Der Drache speit ihr einen Wasserschwall hinterher, aber dann schluckt die Erde das Wasser einfach weg und rettet so die Frau.
Schon die Urchristenheit konnte sich der Erde als Verbündete vorstellen. Warum dann nicht wir, bei allem, was wir heute über unsere Verbundenheit mit unseren Mitgeschöpfen wissen? Die von Paulus gepriesene Demut heißt im Lateinischen humilitas. Da steckt humus, Erdboden, drin.
Den Umbruch meistern
Wenn Europa sich neu finden und erfinden will, dann wäre das die Achse, an der alles andere auszurichten ist. All die anderen Gegensätze und Polaritäten sind von da aus neu zu bedenken und zu bewerten: Links und Rechts in der Politik, das Globale und das Lokale in Kultur und Identität, das Progressive und das Reaktionäre in der Gesellschaft.
So wie Europa seit dem 19. Jahrhundert Antworten auf die soziale Frage gegeben hat, wie es im 20. Jahrhundert totalitäre Systeme und Nationalismen überwunden hat, so hat wird ihm jetzt die Bewältigung der geosozialen Probleme der Klimakrise und des Artensterbens zugemutet.
Europa hat die Chance, der Welt ein Beispiel zu geben, wie dieser epochale Umbau in Kooperation geschehen kann statt in Konkurrenz. Wie Erdverbundenheit ohne Abschottung oder Zerschlagung der Weltordnung möglich ist, Fortschritt und Wandel ohne Entwurzelung und Entwertung des Gewachsenen. Dabei nutzen ihm auch seine vermeintlichen Schwächen. Latour schreibt:
Durch eine unglaubliche Bastelarbeit ist es der Europäischen Union gelungen, auf vielfache Weise die Überlappung, Überlagerung, den overlap der verschiedenen nationalen Interessen zu materialisieren. Mit ihrem vielfältig verzahnten Regelwerk, das die Komplexität eines Ökosystems erreicht, weist sie den Weg. Genau diese Art Erfahrung ist gefragt, wenn wir den alle Grenzen überwindenden Klimawandel in Angriff nehmen wollen.
Das terrestrische Manifest S. 116
Zurück zur Seefahrt. Vielleicht kennen Sie den Witz über einen Offizier der kanadischen Küstenwache, der einen herannahenden US-Marineverband über Funk aufforderte, den Kurs 15 Grad nach Süden zu ändern.
Der Kapitän der Amerikaner lehnte ab und forderte seinerseits das Gegenüber auf, 15 Grad nördlich abzudrehen. Der Kanadier blieb unbeirrt und forderte erneut 15 Grad Kurskorrektur.
Dem Kapitän des US-Flugzeugträgers platzte der Kragen. Er verwies auf Größe und Anzahl seiner Schiffe und deren Feuerkraft und drohte mit Konsequenzen.
Der Kanadier antwortete nur: „Dies ist ein Leuchtturm. Sie sind dran.“
Die Erde ist unser Leuchtturm. Sie weist uns den Weg, aber sie beugt sich nicht unseren Wünschen und Befehlen. Man muss kein Christ sein, um dieses Zeichen zu verstehen. Aber viele Christen würden sagen: Der Turm steht nicht zufällig da. Gott hat das so eingerichtet, weil er das Leben und die Menschen liebt.
Und diesen ebenso wunderlichen wie wunderbaren, kriselnden Kontinent.
Grandios und kenntnisreich wie immer. Danke Peter!
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