Der Herzschlag der Kirche

Der folgende Abschnitt aus Eberhard Jüngels Vortrag zur EKD-Synode 1999 in Leipzig ist beim runden Tisch Evangelisation diese Woche gleich zweimal zitiert worden und ich fand ihn so wortgewaltig, bewegend und schön, dass ich ihn heute nachgelesen habe und an dieser Stelle noch einmal wiedergeben will. Er hat auch zehn Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt:

Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche, Mängel bei ihrem evangelizzesthai würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen führen. Der Kreislauf des kirchlichen Lebens würde hypotonisch werden. Wer an einem gesunden Kreislauf des kirchlichen Lebens interessiert ist, muss deshalb auch an Mission und Evangelisation interessiert sein. Weithin ist die ausgesprochen missionarische Arbeit zur Spezialität eines ganz bestimmten Frömmigkeitsstils geworden. Nichts gegen die auf diesem Felde bisher besonders engagierten Gruppen, nichts gegen wirklich charismatische Prediger! Doch wenn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wieder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung.

Wenn die Christenheit atmen könnte, wenn sie Luft holen und tief durchatmen könnte, dann würde auch sie erfahren, dass „im Atemholen … zweierlei Gnaden“ sind. Sie würde beides, das Einatmens-Müssen und das Ausatmens-Können als eine Gnade erfahren, ohne die sie nicht leben könnte. Einatmend geht die Kirche in sich, ausatmend geht sie aus sich heraus. Die Bibel redet von Gottes Geist nicht selten wie von einem Wind oder einem Lufthauch, den man einatmen kann und von dem die Kirche erfüllt sein muss, um geistlich leben zu können. Die Kirche muss mit diesem geistlichen Atemzug in sich gehen, um sich als Kirche stets aufs Neue aufzubauen. Das tut sie vor allem in ihren liturgischen Gottesdiensten. Da ist sie um Gottes Wort und um den Tisch des Herrn versammelt, da ist sie gesammelt und konzentriert bei sich selbst. Doch wenn die gottesdienstlich versammelten „Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein geprediget und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden“ (CA VII), wenn die als Gemeinde versammelten Christen den durch Gottes Wort und Sakrament vermittelten Geist Gottes (CA V) nur für sich selber haben wollten, von ihm gar Besitz ergreifen, ihn nostrifizieren wollten, so würden sie an dieser göttlichen Gabe regelrecht ersticken. Im Atemholen sind nun einmal zweierlei Gnaden. Die Kirche muss, wenn sie am Leben bleiben will, auch ausatmen können. Sie muss über sich selbst hinausgehen, wenn sie die Kirche Jesu Christi bleiben will. Sie kann als die von seinem Geist bewegte Kirche nicht existieren, wenn sie nicht auch missionierende und evangelisierende Kirche ist oder wieder wird.

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6 Antworten auf „Der Herzschlag der Kirche“

  1. „Doch wenn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wieder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung.“
    Der Fehler liegt meines erachtens daran, das wir nicht Kirche sind, nicht das „Mission und Evangelisation“ nicht vorkommen.
    Vielleicht ist uns nicht aufgefallen, das sogenannte Kirche kein Herz hat?
    „Wenn die Christenheit atmen könnte, wenn sie Luft holen und tief durchatmen könnte, dann würde auch sie erfahren, dass “im Atemholen … zweierlei Gnaden” sind.“

    Eben!

  2. @ AmroeLasghue: Herzkrank ist nicht herztot. Jüngel sagt ja nicht, dass Mission nicht vorkäme, und er spricht bei aller Kritik der Kirche nicht ab, dass sie Kirche ist. Es lohnt sich, Jüngels Vortrag im Detail zu lesen, ganz besonders um allzu pauschale Urteile zu vermeiden und die verheißungsvollen Ansätze der letzten Jahre, in denen Gott am Werk ist, nicht zu übersehen.

  3. Jemand will mir also tatsächlich sagen, das, wenn man das HERZ Jesus hat, man Herzkrank sein kann?

    ich weiß es nicht. Aber in den Bereich komm ich hoffentlich nie rein

  4. Wenn das Leben nur so einfach wäre… Also, falls doch mal Symptome von Arhythmie etc. auftreten, einfach den ganzen Jüngel-Text nochmal lesen.

  5. Ganz große Worte. Hat mich echt angesprochen.
    Auch bei den evangelistisch gesinnten Kirchenmenschen (vielleicht sogar gerade da) ist die Gefahr sehr groß, nur noch einzuatmen und das Ausatmen dabei zu vergessen oder ganz nach hinten zu schieben. Statt gesunder Balance gibt es dann viel hypertonischen Aktivismus und Effekthascherei. Ich habe ganz oft den Eindruck, dass zu viele von denen, die Evangelisation sooo wichtig finden, sie selbst auch deshalb nicht wirklich praktizieren, weil gelebte Evangelisation den eigenen Wohlfühlfaktor so mindert.

    Manchmal ist es ja nicht so schön, wenn Blut fließt, aber hier: Wie soll denn ein Organismus (im Unterscheid zur Institution) ohne Blutumwälzung und ständigen Blutfluss leben?

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