Die Angst vor dem Dammbruch (2)

Seit den Tagen Speners und Zinzendorfs hat der Pietismus eine Selbstbeschreibung, die neben den drei reformatorischen „sola“ einerseits auf Differenz und Kontrast nicht nur zur säkularen Gesellschaft (die entstand damals gerade erst), sondern auch zur verweltlichten Kirche setzt (ähnlich wie, ich sagte es schon, die Täufer und zuvor im Mittelalter das Mönchtum). Was als Öffnung und Erneuerung begonnen hatte, wurde bald zu einer theologisch und politisch konservativen Strömung. Der autoritäre Friedrich-Wilhelm I. von Preußen, bekannt als „Soldatenkönig“, kam zum Beispiel glänzend klar mit den hallischen Pietisten.

Das andere Element war das Streben nach Reinheit. Im 19. Jahrhundert kam der Puritanismus der Heiligungsbewegung aus den USA nach Europa, Anfang des 20. Jahrhunderts dann der Fundamentalismus, ein Denken, das sich bei uns häufig hinter dem Schlagwort „Bibeltreue“ versteckt. Im Unterschied zum vorkritischen Bibelverständnis des alten Pietismus (das durchaus noch Offenheit für – freilich moderate – Bibelkritik entwickelte) wurde in den USA unter dem Eindruck der radikalen historischen Kritik und der Ausbreitung des philosophischen Atheismus im 19. Jahrhundert eine dezidiert antimoderne und antiliberale Theologie entfaltet.

Nun kann man an der Moderne und an der liberalen Theologie mit guten Gründen Kritik üben und tatsächlich geschieht das ja beispielsweise im Zuge des postmodernen Diskurses. Der theologische Fundamentalismus jedoch hat sich mit seinem Absolutheitsanspruch in einem geschlossenen Weltbild eingemauert, aus dem kaum ein Weg mehr nach draußen führt. 100 Jahre vor der Veröffentlichung der Fundamentals hatte Friedrich Schleiermacher noch gefragt: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: Das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Die konservative Bewegung aus Pietismus und Erweckung entwickelte einen starken reaktionären Flügel, der mit der immer pluralistischeren Gesellschaft, die ihn umgab, zunehmend fremdelte. Es entstanden die Subkulturen, die Schleiermacher so gern verhindert hätte.

Die apologetischen Abwehrschlachten um die vermeintliche Irrtumslosigkeit der Schriften des Alten und Neuen Testaments (theologisch ein Rückgriff auf das Schriftverständnis der Orthodoxie, von der man sich doch eigentlich längst gelöst hatte) verbrauchten viel Energie und erzeugten Fraktionszwänge: Um des lieben (innerevangelikalen) Friedens willen fielen (und fallen) viele Gemäßigte den bibeltreuen Hardlinern nicht öffentlich in den Rücken.

Der Damm gegen die Moderne hielt indes nicht besonders gut, weil die Fluten (um im Bild zu bleiben) aus ganz unterschiedlichen Richtungen hereinbrachen – oder schon längst hereingebrochen waren: Abgesehen von einigen rühmlichen Ausnahmen verschliefen das Gros der bürgerlichen Erweckten – wie der übrige Protestantismus auch – weitgehend die soziale Frage und das Entstehen einer neuen Schicht, der Arbeiterklasse. Der Unternehmersohn Friedrich Engels geißelte als Neunzehnjähriger den aufs Persönliche und Jenseitige beschränkten Glauben seines pietistischen Vaters, und Goethe nannte Friedrich Wilhelm Krummachers erweckliche Predigten „narkotisch“.

Im Revolutionsjahr 1848 hatte man sich zudem mehrheitlich auf die Seite der Reaktion geschlagen. Krummacher etwa wurde 1853 Hofprediger in Potsdam, der junge Bismarck hatte Kontakt zur Erweckung in Pommern. Der Nationalismus, wie der Kapitalismus eine durch und durch moderne Ideologie, hatte im zweiten Kaiserreich ein genauso leichtes Spiel wie jener, und auf seinen Fersen folgte schließlich der Nationalsozialismus: die Evangelische Allianz zählte keineswegs zu Hitlers engagiertesten Gegnern (etwas anders der Gnadauer Verband, der zumindest deutliche Distanz zu den „Deutschen Christen“ suchte). Vielleicht verstellte die Fixierung auf die private Reinheit und Heiligung ja auch den Blick für die soziopolitischen Entwicklungen – zumindest hatte „Bibeltreue“ an sich keine automatisch immunisierende Wirkung gegen die großen Verführungen des Zeitgeistes gebracht. Die Autoritätskritik der 68er-Bewegung (und nach ihr die Friedensbewegung und dann wieder die Grünen) löste daher auch im Wesentlichen wieder nur die üblichen konservativen Chaosängste und Abwehrreflexe aus.

Wenn also heute die Gefahr eines „Dammbruchs“ beschworen wird, dann muss man sehen, dass diese Art der „Bibeltreue“ Christen nur bedingt zur Ideologiekritik befähigte und dass die konservativen Christen auf evangelischer Seite sich, wenn es darauf ankam, gar nicht so gravierend von den „liberaleren“ Kräften unterschieden. Oder noch einmal anders formuliert: Dass es mit der „Reinheit“, wenn überhaupt, nur auf einigen ganz bestimmten Feldern funktionierte. Man muss das nicht als Unglück werten. Mir fällt dazu ein kritischer Gedanke von Miroslav Volf ein:

Wir wollen eine reine Welt und drängen die „Anderen“ aus unserer Welt hinaus; wir wollen selbst rein sein und tilgen die Andersartigkeit aus unserem Selbst. Der „Wille zur Reinheit“ enthält ein ganzes Programm zur Ordnung unserer sozialen Welten – von den inneren Welten des Selbst zu den äußeren unserer Familien, Nachbarschaften und Nationen […]. Es ist ein gefährliches Programm, regiert von einer Logik, die reduziert, ausscheidet und abtrennt.

Diese Logik ist keineswegs auf Evangelikale beschränkt (sie wurden freilich auch selbst immer wieder von anderen Gruppen ausgegrenzt, was fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist), aber Evangelikale sind, wenn man das gesamte Spektrum betrachtet, eben auch keineswegs frei davon. Und gerade da, wo sie sich von diesem Ordnungsprinzip lösen, setzt die Verunsicherung ein: Es droht eine Identitätskrise, wenn der Binnenpluralismus bestimmte Grenzen überschreitet.

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Die Angst vor dem „Dammbruch“ (1)

Vor einer Weile wurde ich gefragt, warum das Thema Homosexualität für viele konservative Christen, darunter auch viele Evangelikale, so ein Reizthema ist. Die Verständigung in der Sache scheint dadurch erschwert zu werden, dass jede Bewegung und jeder Perspektivenwechsel einen „Dammbruch“ auslösen könnte – der Begriff fällt in diesem Zusammenhang mit schöner Regelmäßigkeit.

Um diese Sorge zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Ursprünge des Pietismus, der als eine Art „dritte Kraft“ zwischen den verkopften Dogmatikern der altprotestantischen Orthodoxie und einer damals zunehmend indifferenten, bequemen und selbstgefälligen Volkskirche entstand (und von beiden Seiten argwöhnisch beäugt wurde):

Die Pietisten pflegten eine innige Christus- und Herzensfrömmigkeit und leisteten sich bewusst eine gewisse dogmatische Unschärfe. Denn sie verbanden einen konfessionellen (d.h. eben auch: theologischen) Pluralismus mit dem praktischen Einsatz für das Evangelium, ohne in dieser relativen Weite jener Versuchung zur Reduktion des geschichtlichen Glaubens auf das Zeitlose, Allgemeine und Vernünftige zu erliegen, die das wichtigste Kennzeichen der Aufklärung war. Aus der Mystik fand der Gedanke der Entwicklung und des Wachstums im Glauben wieder zurück in die Herzen, aus der Aufklärung die (durchaus neue) Idee, dass so etwas wie moralische Vollkommenheit tatsächlich möglich und erreichbar sein könnte.

Philipp Jacob Spener verstand die Gründung seiner kleinen Gruppen als die Sammlung derer „die mit Ernst Christen sein wollen“ und darin auch als Vollendung der lutherischen Reformation: Kirche als Kontrastgesellschaft. In den großen Gestalten dies Pietismus begegnet uns (nicht untypisch für die Zeit des Absolutismus und der Aufklärung) ein gerüttelt Maß Sendungsbewusstsein, das aber stets mit Strenge und Disziplin gepaart war: mit Opferbereitschaft, großem moralischem Ernst, dem Streben nach „Heiligung“, Missionseifer und nicht zuletzt der Bereitschaft zum Leiden.

Entsprechend entwickelte sich das Selbstbild der frommen „Konventikel“: Wir sind die „Entschiedenen“ („Wiedergeborenen“, „Erweckten“) und keine bloßen „Taufscheinchristen“ – die Worte „Glaube“ und „Christ“ sind nun ohne einen verschärfenden Zusatz nicht mehr eindeutig genug, das ist längst fest im Jargon verankert. Man sah sich in Analogie zur Botschaft der Exilspropheten als „heiligen Rest“ des Gottesvolkes, der dem Untergang entgeht. Kennzeichen der Zugehörigkeit zu diesem „Rest“ war für die Erfahrung der „Bekehrung“, und für manche gehörte noch ein mühevoller „Bußkampf“ dazu. Hier und da entwickelte sich ein gewisser Rigorismus: Wesley und die Methodisten setzten sich ein Leben in völliger Sündlosigkeit zum Ziel, das die Heiligungsbewegung im Laufe des 19. Jahrhunderts nach Deutschland reimportierte. Aus der von den Reformatoren beschworenen Reinheit der Lehre war die Reinheit des geheiligten Lebens geworden.

Mit dieser Identität des Kontrasts, zu der sich das Ideal der Reinheit gesellt, knüpft der Pietismus auch an die radikale Reformation der Täufer an – und er legt das Fundament für das Selbstverständnis der Freikirchen des 19. Jahrhunderts. Um nicht missverstanden zu werden: Das Muster gibt es freilich auch in so manchen anderen Bewegungen – und es gibt umgekehrt natürlich nicht wenige Evangelikale, die deutlich anders „ticken“. Man muss diese allgemeine Charakteristik also mit Vorsicht lesen.

Die Frage lautet nun: Wie wirkt diese Konstruktion sich aus? Mehr dazu in Kürze.

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Der (un)freie Wille und die Mächte

In der westlichen Christenheit (und unter ganz anderen Vorzeichen neuerdings in der Neurobiologie) war die Frage nach der Willensfreiheit immer ein heißes Eisen. Es ist unendlich viel dazu gesagt, geschrieben und verworfen worden; aber mir scheint, oft hat man auch entscheidende Aspekte vernachlässigt. Die Ostkirche hat – vielleicht auch deshalb – bis heute kaum nachvollziehen können, worum man im Westen seit Augustinus erregt diskutierte.

So lange Gott und der Mensch die einzigen Akteure auf dem Feld sind, steht man vor der unbefriedigenden Alternative, ob nun der eine oder der andere seinen Willen bekommt, oder ob man beides irgendwie noch sinnvoll zusammendenken kann – was meistens misslingt und sehr unanschaulich wird. Über das Paradox, das Paulus im Philipperbrief (2,12-13) schon formuliert hatte, kommt man selten hinaus (neurobiologischer Determinismus ist freilich noch viel plumper, da bleibt selbst das menschliche Bewusstsein nur ein Epiphänomen – eine Art weißes Rauschen im Hirn, das Theorien wie den neuobiologischen Determinismus hervorbringt).

Ganz anders, wenn wir die „Mächte und Gewalten“ in die Überlegung mit einbeziehen: Dann wird sofort deutlich, dass niemand auf neutralem Territorium sein Leben beginnt, sondern ungefragt schon immer in einer mehr oder weniger stark belasteten und belastenden Umgebung beginnt und mit einer gewissen Hypothek startet, die nun freilich nicht in erster Linie rein individuelle Schuld und persönliche Haftung bedeutet, sondern das – um es mit Walter Wink zu sagen – im Schatten des Todes steht, und zwar ziemlich konkret:

Wir sind tot, insofern wir mit ungerechten Mustern groß geworden sind. Wir sind Stück für Stück gestorben, indem uns wesensfremde Erwartungen aufgezwungen wurden. Wir starben, als wir zu Komplizen unserer eigenen Entfremdung und der anderer wurden. Wir starben, als wir anfingen, unsere Fesseln zu lieben, zu rationalisieren, zu rechtfertigen und uns sogar für sie stark zu machen.

Tot, weil uns all das entmenschlicht und uns die Kraft zur Gegenwehr raubt. Und just in dieser Situation wendet sich das Evangelium an den Rest von Wahrheitsliebe, gesundem Empfinden für Gerechtigkeit, Sehnsucht nach Heilwerden, Hoffnung auf ein besseres Leben und leiser Ahnung, dass uns irgendwo ein lebendiger Gott hört und sieht, und spricht uns auf unsere Freiheit an (oder spricht sie uns zu), dass wir unser wahres Ich darin finden, wenn wir nein sagen zu dem, was unsere Menschlichkeit (und die anderer vergiftet) und erstickt. Als erinnerte Gott uns an eine innere Bastion der Freiheit, die eben noch nicht endgültig besetzt ist von den Kräften, die unsere Vorstellung und Wahrnehmung, unsere Gefühle und Reflexe (nicht immer ohne unsere tatkräftige Mitwirkung) zum Zwecke systemkonformen Funktionierens manipulieren.

Aus diesem Ausgeliefertsein an die Mächte können wir uns, weil es viel zu tief sitzt, nicht aus eigener Kraft befreien. Aber diese Befreiung geschieht eben auch nicht über unsere Köpfe hinweg, ohne unsere Beteiligung (bei dem Gedanken intoniert der prädestinatianische Chor normalerweise schrill: „Pfui, Synergismus!“). Es geht also nicht um eine Art Ellbogendrücken zwischen Gott und dem Individuum darüber, wer die Lorbeeren dafür erntet, dass jemand im „Himmel“ landet, sondern um Gottes befreiendes Eingreifen in die Machtsphären unseres Lebens, das uns ermächtigt, unsere innere und äußere Freiheit zu gebrauchen, und das sich nicht nur auf die Innerlichkeit des Einzelnen beschränkt.

Um auf den Streit zwischen Erasmus und Luther zurückzukommen: Der humanistische Optimismus im Blick auf menschliche Freiheit ist psychologisch naiv und ökonomisch blind – da wo wir die Zwänge nicht mehr wahrnehmen, haben wir sie meist so verinnerlicht, dass sie Teil unserer Persönlichkeit geworden sind. Aber – und das wäre die kritische Rückfrage an Luther – vielleicht ist der Mensch ja auch nie freier und mehr Mensch, als in dem Moment, in dem er sich Gottes gewaltlosem Aufstand gegen die Mächte anschließt?

Denn wenn Luther in de servo arbitrio den menschlichen Willen mit einem Lasttier vergleicht, das entweder von Gott oder dem Satan geritten wird, bringt er zwar mit dem Stichwort „Teufel“ eine dritte Kraft ins Spiel. Trotzdem schlägt er damit bei näherem Hinsehen andere Töne an als das neue Testament. Zum einen ist der Bezug zwischen dem Stichwort „Teufel“ und den handfesten soziokulturellen und -politischen Realitäten, auf die das Wortfeld von den Mächten anspielt, eher vage (politische Theologie war nicht unbedingt Luthers Stärke, wie seine Hilflosigkeit im Bauernkrieg zeigte). Zum andern scheint mir die Parallele zu schematisch, wie der rein passiv gedachte Mensch sich Gott oder anderen Mächten gegenüber verhält.

Anders gesagt: Gott und seine Herrschaft sind nicht einfach nur das spiegelbildliche Gegenteil aller anderen Formen destruktiver Herrschaft. Freilich kann auch Paulus von „Knechtschaft“ sprechen, aber dann steht im Hintergrund des Vergleichs eben das System der römischen Sklavenhaltergesellschaft, die Menschen im Zuge ihrer Eroberungskriege und aus wirtschaftlichen Gründen gewaltsam versklavt, ausbeutet, psychisch verkrüppelt und politisch mundtot macht. Das gipfelt schließlich darin, dass Rom den Sohn Gottes wie einen aufständischen Sklaven kreuzigt. Das Sklavensystem degradiert und entmenschlicht den Menschen, es beraubt ihn seiner Würde, während ein Pferd oder Esel immer ein mehr oder weniger heiles Pferd oder Esel bleibt, egal, wer es reitet (es sei denn, wir lehnen die Nutztierhaltung generell ab).

Diese Befreiung ist gewiss nicht aus eigener Kraft und ohne Verbündete möglich; Gottes Tat geht unserer Antwort ja schon zeitlich voran; aber selbst wenn es völlig absurd wäre, quantitativ aufrechnen zu wollen, wer dazu wie viel beiträgt, muss man die qualitativ andere menschliche „Beteiligung“ ja nicht kategorisch auf Null setzen. Neben den Aussagen zu Herrschaft und Knechtschaft stehen bei Paulus ja auch immer wieder Sätze, die kaum noch eine klare Unterscheidung zwischen menschlichem Selbst und göttlichem Geistwirken zulassen. Zu unübersichtlich, fürchte ich, um es so radikal zu vereinfachen.

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Beat the System

Auf dem Emergent Forum haben wir über Macht und Ohnmacht nachgedacht, und in diesem Zusammenhang auch über die biblischen Beschreibungen von Macht im menschlichen Zusammenleben, die stets ambivalenten Charakter haben und sich weder auf ihre materielle Seite reduzieren noch komplett spiritualisieren lassen.

Walter Wink schlägt vor, den Begriff „Kosmos“ dort, wo er im Neuen Testament negativ verwendet wird (als Sammelbegriff für alle Formen kollektiven Widerstands gegen den guten Schöpfergott), statt mit „Welt“ (mit der wir immer auch alles Gute und Schöne der Schöpfung assoziieren wie auch die von Gott geliebte Menschheit), sondern mit „System“. Denn „Sünde“ oder Bosheit ist bei weitem nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein systemisches.

Und nachdem spätestens im 21. Jahrhundert alles global verflochten ist, kann Wink die unterschiedlichsten Phänomene und Mechanismen unter den Begriff des „Herrschaftssystems“ (engl.: domination system) fassen. Es ist erstaunlich, wie anders bestimmte Abschnitte aus der Bibel plötzlich klingen, etwa diese düster-nüchterne Analyse im Epheserbrief:

Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Drahtzieher und Machtzentren, gegen die Kontrolleure dieses finsteren Systems, gegen ein Klima der Bosheit. (Eph 6,12)

Der Gegensatz zwischen Gott und Kosmos ist nirgends schroffer formuliert als im Johannesevangelium:

Wenn das herrschende System euch hasst, dann wisst, dass es mich schon vor euch gehasst hat. Würdet ihr mit dem System kooperieren, würde das System euch dafür lieben. Aber weil ihr dem System den Rücken gekehrt habt – weil ich euch dem System entwunden habe! – darum hasst euch das System. (Joh 15,18-19)

Das alte System setzt euch unter Druck; aber habt Mut: Ich habe das System überwunden. (Joh 16,33)

Und ganz ähnlich heißt es im ersten Johannesbrief:

Liebt nicht das Herrschaftssystem und was dazu gehört! Wer das System liebt, hat die Liebe zum Vater nicht. Denn alles an diesem System – die Unersättlichkeit einer entfremdeten Existenz, das Fixiertsein auf Äußerlichkeiten, seine großspurige Arroganz – ist nicht vom Vater, sondern stammt aus dem Herrschaftssystem. Dieses System und seine perverse Gier vergeht; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt ins kommende Zeitalter hinein. (1.Joh 2,15-17)

Paulus kann daher im Blick auf seinen apostolischen Auftrag schreiben:

Wir leben zwar in diesem Herrschaftssystem, kämpfen aber nicht mit den Mitteln des Systems; Die Waffen, die wir bei unserem Feldzug einsetzen, sind nicht systemimmanent, aber sie haben durch Gott die Macht, eingefahrene Denk- und Reaktionsmuster zu durchbrechen; mit ihnen reißen wir alle ausgeklügelten Berechnungen nieder, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen. Wir nehmen alles Denken gefangen unter den Gehorsam, wie ihn der Messias uns vorgelebt hat; (2.Kor 3,3-5)

Und von da aus lässt sich nun darüber nachdenken, wie sich das im Arbeits- und Gemeindealltag denn nun praktisch auswirkt…

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Die Individualisierung des Problems

Letzten Samstag am Emergent Forum hat Walter Faerber über Spiritualität als Widerstand gesprochen und kam dabei auf die Geschichte vom besessenen Gerasener zu sprechen. In der Fragerunde wollte dann jemand wissen, ob der Mann denn nun bloß ein Tourette-Syndrom hatte oder ob er (meine Worte) von einer Art immateriellem Kobold angefallen worden war, der nun seinen Schabernack mit ihm trieb – das „klassische“ Verständnis von Dämonen eben.

Diese Alternative ist meiner Meinung nach gänzlich unbefriedigend – keine Seite wird dem gerecht, was hier alles beschrieben wird. In beiden Fällen wäre es das persönliche Problem eines einzelnen: entweder ein psychischer Knacks, vielleicht aufgrund traumatischer Erfahrungen, vielleicht eines Stoffwechselproblems im Gehirn, oder es ist eben ein spiritueller Parasit, den man sich unwillkürlich, leichtfertig oder gar schuldhaft einhandelt wie Fußpilz oder Zecken.

In Wirklichkeit beleuchtet das Evangelium die sozialen Realitäten, die im Hintergrund dieser Störung der Persönlichkeit stehen, ganz deutlich: Die permanente (offene oder latente) Gewaltandrohung durch den römischen Militärapparat, die nicht minder rabiaten Rachephantasien der Unterworfenen und Ausgebeuteten, die nicht unproblematische Nachbarschaft zwischen Juden und Heiden am Nordrand des Sees, der subversive Symbolismus, wenn eine „Legion“ Schweine am Ende absäuft – vermutlich lässt sich die Liste noch beliebig fortsetzen. All das ist in dem Geschehen auf dem Friedhof sichtbare, hörbare und mit Händen zu greifende Wirklichkeit.

Denn die Wahrheit über unsere Welt, den kollektiven Wahnsinn, den niemand wahr haben will – nicht einmal die Opfer –, dürfen eben nur die Narren oder die Besessenen ungestraft aussprechen. Heute kann man dafür in der Psychiatrie landen, wie der heiß diskutierte Fall Mollath momentan zeigt, in dem, so steht zu befürchten, ein Netzwerk von Veruntreuung und Vertuschung als der Wahn eines Einzelnen abgetan wurde. Wenn das nicht „dämonisch“ ist (in dem Sinne, dass wir hier verfolgen können, wie parasitäre Bosheit unsere Institutionen so weitreichend korrumpiert, dass sie einzelne Menschen und ganze Gruppen zu zerstören), was dann?

Wenn wir hier also auf den Trick hereinfallen und zulassen, dass das Problem individualisiert und der Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit so weit verengt wird, dass die wahren Verursacher im Dunkeln bleiben, dann werden wir zu Komplizen dieser Vertuschung und wir verstetigen das Leid. Gott bewahre uns davor, die Bibel weiterhin mit solchen Scheuklappen zu lesen!

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Von der Ausgrenzung zur Umarmung

Kaum ein Buch, das ich besser kenne, als dieses – kaum eines, das ich allen, die eine tiefgründige und gut geschriebene Auseinandersetzung mit so manchen Schicksalsfragen unserer Zeit schätzen, bedenkenloser empfehlen würde. Miroslav Volfs theologischer, aber eben nicht rein akademischer Bestseller Exclusion and Embrace ist seit ein paar Tagen (wenngleich noch nicht überall) auf Deutsch erhältlich.

Volf ist schon aufgrund seiner Lebensgeschichte jemand, der ein weites Herz und ein umsichtiges Urteilsvermögen hat. Er ist gebürtiger Kroate, Sohn eines Pfingstpastors, groß geworden in einem Umfeld, in dem sowohl der Atheismus als auch der Islam immer schon präsent waren. Er promovierte bei Jürgen Moltmann in Tübingen und ging dann in die USA, wo er zunächst am progressiv-evangelikalen Fuller Seminare und seit einigen Jahren an der Eliteuni in Yale systematische Theologie lehrt.

Von der Ausgrenzung zur Umarmung ist erstens deshalb so lesenswert, weil sich Volfs Lebensweg (zum Beispiel ethnische Säuberungen im früheren Jugoslawien, Rassenunruhen in den USA ) in seinen Überlegungen zum Thema Ausgrenzung widerspiegelt, weil er sich zweitens auf der Höhe der Zeit mit Philosophie und Kulturtheorie beschäftigt, wenn es um die Frage nach Macht, Wahrheit und Gerechtigkeit geht, und weil er drittens an den entscheidenden Stellen seiner Argumentation auf die biblische Überlieferung zurückgreift und dabei nicht einfach nur „Belegstellen“ zitiert, sondern ein tiefes Verständnis der Texte an den Tag legt, das zu überraschenden Einsichten führt.

In jeder Hinsicht ein Augenöffner. Also, am Besten gleich zugreifen!!

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Pragmatismus schlägt Dogmatismus

Immer für eine Überraschung gut, so oder so, ist der amerikanische TV-Prediger Pat Robertson. Nun hat er Anhänger wie Kritiker mit der unmissverständlichen Aussage verblüfft, die Erde sei keine 6.000 Jahre alt – diese Behauptung hielt sich lange in christlich-fundamentalistischen Kreisen.

Und auch der Grund für den Meinungsumschwung wird deutlich: Wer Sachen behauptet, die wissenschaftlich widerlegt sind, der verliert die nachfolgende Generation, konstatiert Robertson kurz und bündig. Und tatsächlich haben die konservativen Evangelikalen in den USA ein gravierendes Nachwuchsproblem.

Das Spannende an dieser Sache ist, dass es hinter allem irritierenden Dogmatismus einen noch robusteren Pragmatismus gibt. Der schlägt vielleicht erst spät zu, aber dann setzt er sich durch. Bevor der Glaube ausstirbt, wird er halt doch modernisiert. Ein bisschen wenigstens. Vom Kreationismus dürfte sich Robertson damit noch nicht unbedingt verabschiedet haben. Aber seine Nachfolger erledigen das dann vielleicht demnächst.

Der ernüchternde Aspekt bleibt freilich der: So lange diese Jungs Oberwasser hatten, haben sie alles Störende abgeblockt. Wenn sie nun geschwächt sind, werden sie umgänglich – ein allzu menschlicher Mechanismus, der nicht auf bestimmte theologische Richtungen beschränkt sein muss.

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Tödlicher Perfektionismus

Moralisches Vollkommenheitsstreben, schreibt Walter Wink, entstand erst so richtig durch die Kombination des religiösen Egalitarismus im Protestantismus und des rationalen Egalitarsmus aus der Aufklärung. Dort wurde der Gedanke menschlicher Selbstvervollkommnung zum kulturellen Ideal und zur Obsession. Perfektionismus ist also ein Zug des modernen Protestantismus wie auch der westlichen Welt im allgemeinen.

Wenn Jesus in Mt 5,48 sagt: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“, dann meint er jedoch etwas anderes. Was genau, das zeigt die Parallele in Lukas 6,36: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“. Jesus lenkt die Aufmerksamkeit dabei weg von uns selbst hin zu unserem Umgang mit anderen – den Feinden (oder auch den „Sündern“, den Schwachen), die der Barmherzigkeit bedürfen. Es geht darum, alle Reinheitsideale aufzugeben und die in die Arme zu schließen, die gänzlich unvollkommen sind. Das ist zugleich das Bedrohlichste, was wir uns wohl vorstellen können.

Es konfrontiert uns mit allen möglichen inneren Widerständen und Unmöglichkeiten. Den Feind zu lieben und damit Gottes radikale Inklusivität nachzuahmen, erfordert es, dass wir uns Gott stellen und uns von ihm verwandeln lassen, und dass wir damit rechnen, auf diesem Weg immer wieder über unsere Vorurteile, blinden Flecken und Antipathien zu stolpern. Es wird nur dann gelingen, wenn unser Hunger und Durst nach Gerechtigkeit uns dazu dringt, immer wieder die Gräben und Fronten zu überwinden.

Wer dagegen das Spiel des Perfektionismus spielen will – Vollkommenheit mit dem Blick nicht auf den anderen, sondern als Pflege der eigenen sündlosen Perfektion – der muss alles, was er an sich selbst hasst, vertuschen und das eigene Böse unterdrücken. Freilich erscheint es dann in Form von Projektionen wieder: Wir erkennen das, was wir an uns selbst nicht sehen dürfen, in anderen und bekämpfen es dann, indem wir auf sie losgehen. Das führt in eine symbolische Beziehung zu den Feinden – Wink schreibt:

Der Perfektionismus hat einen heimlichen, uneingestandenen Bedarf an Feinden. Perfektionisten sind nur im Vergleich vollkommen. Sie brauchen jemanden, auf den sie herabsehen können. (Engaging The Powers, S. 270)

Die Wirklichkeit wird in Gut und Böse unterteilt, und alles Gute sehen Perfektionisten in sich selbst und den Ihren, alles Böse in den anderen. So führt die falsch verstandene Vollkommenheit zum genauen Gegenteil dessen, worum es Jesus eigentlich geht. So landet sogar ein Christentum, das ständig von Gnade redet, am Ende womöglich in demselben Reinheitswahn und bei einer Vorstellung von Heiligkeit, die im Ausschluss des anderen besteht und damit in den Fußstapfen derer, die Jesus verurteilten und hinrichten ließen.

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Das größte politische Mysterium aller Zeiten

Walter Wink wundert sich, und er ist wohl kaum der einzige:

Wie ist es möglich, dass buchstäblich Milliarden von Menschen es zulassen, hereingelegt und abgezockt zu werden von kleinen elitären Zirkeln, die sich auf Armeen stützen, die bei weitem nicht ausreichen um die Weltbevölkerung zu unterdrücken? Bestimmt ist das das größte politische Mysterium aller Zeiten: das regelmäßige Versagen der Massen, ihre zahlenmäßige Überlegenheit auszunutzen, um ihre Unterdrücker abzuschütteln. (Engaging the Powers, S. 87)

Über Hintergründe und Ansätze zu einer Antwort werden wir uns am Samstag hier unterhalten.

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Weisheit der Woche: Ätzende Treue

Es geht schon schwer auf das Emergent Forum 2012 zu und ich habe zur Einstimmung Walter Winks „Powers“-Trilogie wieder aus dem Regal geholt. Der Friedensaktivist findet durchaus markige, ja militante Worte, wenn es um die Konfrontation mit überpersönlichen Mächten geht, die sich im Blick auf das Wohl des Ganzen (einer Gruppe, der Schöpfung, der Menschheit) parasitär verhalten, indem sie Menschen zu Objekten machen und zerstören. Dass Jesus und die ersten Christen so heftigem Widerstand ausgesetzt waren, hat für ihn damit zu tun, wie sie das Evangelium verstanden:

Die Treue zum Evangelium besteht nicht darin, dass wir seine Slogans wiederholen, sondern darin, dass wir den vorherrschenden Götzenkult in seine [des Evangeliums] zersetzenden Säuren werfen.

Walter Wink, in: Naming The Powers, S. 111

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Die „Häresie der Glaubensgewissheit“

Ich bin beim Vorbereitung für eine Unterrichtseinheit mit Konfirmanden letzte Woche auf ein wunderbares kleines Buch von Hans Urs von Balthasar († 1988) gestoßen, der im katholischen Milieu vor drei Jahrzehnten so eine Art Rob Bell war, auf den die Hardliner und Traditionalisten sich mit allen Kräften einschossen. Es heißt Kleiner Diskurs über die Hölle, und wer Love Wins/Das letzte Wort hat die Liebe sympathisch fand, aber gerne noch mehr gelesen hätte, könnte hier auf seine Kosten kommen.

Das Buch ist leicht lesbar geschrieben – und es ist sogar kürzer (wahrscheinlich hat es einfach nur weniger Absätze und Leerzeilen) als das von Bell. Erfreulicherweise hat von Balthasar neben der Bibel auch die ganze Palette der Kirchenväter und der Mystiker parat, aus deren Werken und Worten er souverän zitiert.

Dass Ignatius von Loyola in seine „Geistlichen Übungen“ eine Betrachtung zur Hölle integriert hat, deren Ziel das Staunen über Gottes Barmherzigkeit ist, gerade weil mir die eigene Gerechtigkeit fehlt, hält er beispielsweise für richtig und wichtig. Allerdings hat das gerade ohne Seitenblick auf andere zu geschehen, und damit auch im „letzten Ernst“.

Bedenklich wird es dagegen, wenn man den Seitenblick riskiert und aus der drohenden existenziellen Möglichkeit der Hölle einen objektivierten theologisch-wissenschaftlichen Gegenstand macht, wie es seit Augustinus immer wieder der Fall war, nämlich die Hölle der anderen:

Denn in diesem Augenblick verwandelt sich alles: die Hölle ist nicht mehr die je-meinige, sondern sie ist das, was „den andern“ blüht, während ich ihr gottlob entronnen bin. Und ich kann mich fleißig und fromm auf die Heilige Schrift berufen [er zitiert Offb. 21,8; 1.Kor 6,9f.]

… Aber, sagt sich der theologisierende Monsignore, mir scheint, ich falle unter keine dieser Kategorien. Und schon ist ihm das Gebet auf den Lippen: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie Räuber, Betrüger, Ehebrecher – oder wie dieser Zöllner da“ (Lk 18,11). Man bevölkre dann die Hölle mit allerhand Ungeheuern: Ivan dem Schrecklichen, Stalin den Entsetzlichen, Hitler dem Wahnwitzigen und all seinen Spießgesellen, was gewiss auch eine ansehnliche Gesellschaft ergibt, der man im Himmel lieber nicht begegnen möchte.

Es kann als ein die Theologiegeschichte durchziehendes Motiv gelten, dass dort, wo man die Hölle mit einer „massa damnata“ von Sündern füllt, man durch irgendeinen bewussten oder unbewussten Trick sich (vielleicht vorsichtig, aber doch getrost) auf die andere Seite stellt.

Von Balthasar zeichnet dann knapp nach, wie sich von Bonventura über Luther zu Calvin und seinen Nachfolgern eine immer absolutere Gewissheit (im Gegensatz zum Akt des Vertrauens „hat“ man die dann eben auch) entwickelt, die es möglich macht, den anderen, un- oder „schwachgläubigen“ Teil der Menschheit als der Hölle verfallen zu denken. Das passt im Übrigen erstaunlich gut zu Iain McGilchrists Analyse, die ich vor einer Weile hier skizziert habe.

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Gott, die Gewalt und das Leben

Viel Staub aufgewirbelt hat vor ein paar Wochen der Republikaner Richard Mourdock, der für den US-Senat kandidierte und im Zuge dessen erläuterte, warum er Abtreibungen nach einer Vergewaltigung für rechtlich nicht zulässig hält. Hier sein Statement:

„I struggled with it myself for a long time, but I came to realize life is that gift from God. I think that even when life begins in that horrible situation of rape, that it is something that God intended to happen.“

Ich habe lange mit mir gerungen, aber mir wurde klar, Leben ist ein Geschenk Gottes. Ich denke, selbst dann, wenn es in der schrecklichen Situation einer Vergewaltigung entsteht, wollte Gott, dass es geschieht.“

Für eine Frau, die vergewaltigt und als Folge davon schwanger geworden ist, ist so ein Satz eine Zumutung. Ihr kann man nur sagen, dass Gott es auf keinen Fall wollte, dass sie vergewaltigt wurde. Alles andere wäre verantwortungslos. Daher völlig zu Recht die heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit auf Mourdocks Worte.

Nun sind wir hier aber auch wieder bei der Frage, inwiefern Gott – und sei es auch nur mittelbar – zum Komplizen von Gewaltverbrechen gemacht werden darf. Es gibt eben eine unselige Tradition im Christentum, die Gott durch unbedachte Rhetorik in zum Mitwisser oder gar Auftraggeber von Gewalt macht. Das ist das große Manko der Opfer-Analogie, dass sie in diese Richtung neigt, insofern sie suggeriert, Gott mache ein solches blutiges Opfer zur Bedingung für seine Vergebung.

Es ist zum Beispiel eine Sache, zu sagen, dass der Tod Christi am Kreuz das fast zwangsläufige Resultat der Zuspitzung seines Verhältnisses zu den einflussreichen Gruppen im Judentum und den römischen Besatzern war – und insofern geschehen „musste“. Ähnlich wie es in anderen Martyrien alles andere als überraschend kam, dass Blut eines Unschuldigen vergossen wurde. Aber wir können kaum mehr sagen, als dass Gott das Leiden und den Tod Jesu weder angeordnet noch verübt, sondern bestenfalls in Kauf genommen hat, um damit ein Zeichen des Protests gegen Folter und Gewalt zu setzen und den ersten Schritt zu deren Überwindung zu tun – sofern wir Gewalt an sich nicht irgendwie heiligsprechen wollen. Zugleich verbietet sich aber auch der (oft auch zur Verteidigung der eben skizzierten Ansicht angeführte) falsche Umkehrschluss, Jesu Tod sei sonst ja lediglich ein dummer Zufall und damit sinnlos.

Nun hat Mourdock natürlich auch insofern Recht, als er das Leben als Geschenk Gottes bezeichnet. Wenn er – statt mit einem traumatisierten Opfer sexueller Gewalt – nun mit einem Menschen reden würde, der gerade erfahren hat, dass er alles andere als ein Wunschkind war, der also mittelbar selbst Opfer dieser Gewalt und ihrer Folgen ist, dann wäre es ebenso falsch, diesem Menschen den Eindruck zu vermitteln, er sei aufgrund dieser Vorgeschichte von Gott „nicht gewollt“.

Aber vielleicht liegt die Antwort auf die Frage nach dem Sinn unserer Existenz ohnehin weniger in der Vergangenheit (die sich in dem Fall einfach nicht schön reden lässt), sondern in der Gegenwart, indem die betroffene Person hier und jetzt Menschen hat (oder findet), in deren Leben sie eine wichtige Rolle spielt, und indem sie Gottes bestätigendes „Ja“ hier und jetzt erreicht und die Hoffnung auf eine Zukunft öffnet, in der schließlich alle Tränen abgewischt werden?

Der theologische Punkt, um den es mir hier geht: Wenn wir lernen, wie wir Gottes Handeln in der Weltgeschichte angemessen beschreiben können, dann finden wir vielleicht auch bessere Worte, wenn es um konkrete Lebensgeschichten geht. Und vielleicht schweigen wir dann auch an der richtigen Stelle.

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Glaube und Magie

Es ist eine weit verbreitete Anschauung, dass sich Religion aus magischem Denken heraus entwickelt haben soll. Ich persönlich fand da Peter L. Bergers Begriff der „mythischen Matrix“ besser. Gregory Bateson argumentiert in Wo Engel zögern genau umgekehrt: Magie ist degenerierter Glaube, weil sie aufhört, Einheit und Verbundenheit (ob nun zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mensch, oder Mensch und Natur) rituell zu bekunden und Wege sucht, das Selbst zu ändern. Bateson schreibt:

Das Kriterium, das Magie und Religion unterscheidet,, ist in der Tat der Zweck, und ganz besonders irgendein extravertierter Zweck […] Die Magie gilt als primitiver und die Religion als ihr Aufblühen. Im Gegensatz dazu halte ich die Magie etwa in Form des Sympathie- oder Analogiezaubers für ein Produkt der Dekadenz der Religion; ich halte die Religion in Große und Ganzen für den früheren Zustand. Ich kann für einen derartige Dekadenz weder im Gemeinschaftsleben noch in der Kindererziehung irgendeine Sympathie aufbringen.

Wenn also die Verzweckung von Religion (und „Spiritualität“) sie in Magie verwandelt, indem sie zum Instrument von Manipulation und Machtgewinn wird, zum Mittel der Selbststeigerung ohne die Mühe der Veränderung des Selbst, dann treffen wir diese fatale Neigung zur „Dekadenz“ nicht nur in der Esoterik an, die alte Rituale (je „archaischer“, desto attraktiver) als hippe Wellnessartikel kommerzialisiert und durch diese Kontextverschiebung entleert und zerstört. Bestimmte Verbindungen von Glaube und Wohlstand und Erfolg fallen dann in dieselbe Kategorie von „Zauberei“.

Oder anders gesagt: Liebe ist immer „zweckfrei“. Da, wo sie Mittel zum Zweck wird, ist sie keine Liebe mehr. Vielleicht grenzt Jesus sich deshalb so scharf von Menschen ab, die zwar ständig „Herr, Herr“ sagen, aber von dem selbstlosen Gott nichts begriffen haben, den sie vor ihren Karren spannen wollen?

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Das Evangelium und die Kritiker

Zu Evangelium. Gottes langer Marsch durch seine Welt kommen die ersten Rückmeldungen. Über viele positive habe ich mich gefreut, über kritische die letzten Tage nachgedacht. Auf amazon.de finden sich beispielsweise zwei Stimmen, die (unterschiedlich scharf im Ton) bemängeln, vor lauter Bewegung bliebe der „Inhalt“ auf der Strecke.

Vielleicht zeigen diese Reaktionen aber auch schön, warum dieses Buch wichtig sein könnte. Sebastian Rink etwa hat eine griffige Formel zur Hand und definiert das Evangelium als „Rechtfertigung des Sünders aus der freien Gnade Gottes“. Walter Faerber und ich bestreiten das ja gar nicht, wer das Buch zur Hand nimmt, wird dies als das Evangelium der Reformatoren wiederfinden. Nicht von ungefähr stammt das Zitat, das Sink anführt, aus der Leuenberger Konkordie, in der Lutheraner, Reformierte und Methodisten vor knapp 40 Jahren die Abendmahlsgemeinschaft beschlossen, also einen Streit aus dem 16. Jahrhundert beilegten.

Wir stellen allerdings in Frage, ob das die einzige und universal gültige Form des Evangeliums sein darf. Im Neuen Testament wie in der Geschichte der Christenheit spielt dieses Evangelium immer wieder eine Rolle, aber man kann auch eine ganze Reihe alternativer Formulierungen (zum Beispiel das Kommen der Gottesherrschaft) mit demselben Recht dagegen setzen. Oder besser noch daneben, und genau das ist unser Vorschlag.

Und der andere Aspekt, um den es uns geht, ist der: Die Fixierung auf Formeln, wie sie in der Kritik wieder erscheint, verdeckt das Problem, dass ein Evangelium, das nicht mehr lebendig verkörpert ist (und ja, hier geht Gottes und menschliches Handeln, wie schon in Jesus, ständig und unentwirrbar durcheinander), dass das körperlose Evangelium zeitloser Wahrheiten im Grunde schon kein Evangelium mehr ist sondern nur noch eine dogmatische Abstraktion.

Walter und ich lehnen ein Form/Inhalt-Schema ab, das eine „ewige“ und unwandelbare Substanz postuliert (die in Wahrheit immer einen historischen „Sitz im Leben hat“, der aber oft übersehen oder verschwiegen wird). Wenn die biblische Überlieferung, vielschichtig wie sie in sich längst schon ist, auf eine bestimmte lokale Kultur trifft, entsteht nicht nur eine Variation der Form, sondern die komplette „Gestalt„, die Gesamtkonfiguration wird eine andere. Sie steht damit gleichzeitig in Kontinuität und Diskontinuität zu anderen Gestalten bewegter Kirche und ihrer Verkündigung, die vor, neben und nach ihr existieren.

Die Sorge der Kritiker scheint mir zwischen den Zeilen zu sein, dass Vielfalt Beliebigkeit bedeuten würde, das Gegenmittel ihrer Wahl scheint mir die reduktionistische Fixierung zu sein. Dagegen würde ich sagen: Es gibt 7 Milliarden verschiedene Menschen und es gibt zahllose Versuche, den Begriff „Mensch“ zu bestimmen und zu beschreiben. Mehr oder weniger originell, geistreich oder geglückt, aber jetzt einen herauszugreifen und zum Maß aller Dinge zu machen ist auch keine Lösung. Im Alltag unterscheiden wir trotz allem ziemlich mühelos zwischen Menschen und anderen Spezies und können menschliches und unmenschliches Verhalten leidlich gut auseinanderhalten. Kein Grund zur Panik also.

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Lernender Glaube: Eine Theologie und Spiritualität der Entwicklungsfähigkeit

Vor längerer Zeit hatte ich ein Gespräch mit jemandem, der unsere Gemeinde verließ, weil dort Menschen meditieren. Sein Argument war, dass es derartiges auch in anderen Religionen gebe, ergo könne es nicht christlich sein. Er könne solche Dinge nicht mittragen oder tolerieren.

Immer wieder argumentieren Menschen genealogisch – sie verfolgen den eine Idee (oder in diesem Fall eine bestimmte Praxis) zurück zu ihren Ursprüngen, und wenn die nicht zweifelsfrei in der Bibel oder der Kirche zu lokalisieren sind, schlagen sie Synkretismusalarm: Reiner Glaube und Lehre werden kontaminiert, und das muss natürlich böse enden. Mit der Frage „Wer hat’s erfunden?“ lassen sich viele Dinge diskreditieren. Zugleich geht sie von einem starren Gegensatz aus: Alle Wahrheit ist „hier drinnen“ zu finden, „da draußen“ nichts als Lüge und Irrtum. Die fromme Variante des Not-invented-here-Syndroms.

Die Argumentation gibt es in verschiedenen Variationen. Zum Beispiel wird gern „hebräisches Denken“ gegen „griechisches Denken“ ausgespielt, wobei ersteres per Definitionen gut und letzteres schlecht ist. In Wirklichkeit ist alles viel komplizierter. Schon beim Apostelkonzil wurde die theologische Grundlage dafür gelegt, dass das Christentum den Raum der jüdischen Kultur überschreiten konnte. Der Fehler kam – wenn überhaupt – viel später, als man sich an dieser Herkunft nicht mehr erinnern wollte oder konnte. Und natürlich hat man bei der Kontextualisierung des Glaubens in griechisch-römischen Kulturkreis nicht auf Anhieb alles richtig gemacht und manche Ideen von Platon etwas zu optimistisch und unkritisch übernommen. Man muss also differenzierter hinsehen.

Interessant fand ich in diesem Zusammenhang eine Beobachtung von Michael Pflaum in seiner pastoraltheologischen Dissertation über Die aktive und die kontemplative Seite der Freiheit. Dort beschreibt er den Integrationsprozess neuer Elemente in die christliche Spiritualität am Beispiel der Wüstenväter. Konkret ging es um die Übereinstimmung mit der Natur, das Nachdenken über den eigenen Tod, die Gewissenserforschung, die Formulierung von Lebensregeln und Sentenzen, die drei Stufen oder Etappen des geistlichen Weges und andere Ideen oder „Sprachspiele“.

Diese Integration verlief keineswegs unkritisch. Die Mönche setzten Inhalte der Schrift und antike Übungen in eine durchdachte Beziehung zu einander und vertrauten dabei demütig auf die göttliche Gnade. Und deshalb ist grundsätzlich erst einmal nichts einzuwenden gegen eine theologisch verantwortete Integration von Einsichten der Philosophie oder Psychotherapie in christliche Theologie und seelsorgerliche Praxis.

Als Kriterien für eine „Unterscheidung der Geister“ nennt Michael Pflaum

  • die Verträglichkeit mit der Lehre Jesu
  • die Ausrichtung auf Gott und Bereitschaft, Leid anzunehmen
  • die intuitive Empfindung, dass mich ein Gedanke oder Text bereichert
  • Transparenz und Glaubwürdigkeit der Quelle/des Autors und positive Früchte

Theologische Arbeit folgt dem Muster der „Idiomenkommunikation“. Das ist ein Begriff aus der christologischen Zweinaturenlehre, der die Einheit der Person stärkt. Die menschliche „Natur“ Christi hat Anteil an den göttlichen Eigenschaften und umgekehrt. Auf die Theologie angewandt heißt das dann, dass man nicht nur mit Hilfe des Evangeliums zerstörerische Tendenzen der Gegenwartskultur erkennt, sondern dass auch die jeweilige Kultur zu einem neuen und vertieften Verständnis des Evangeliums führen kann:

Es kann nicht von einer Einbahnstraße vom Dogma zur Pastoral oder vom Evangelium zur Kultur ausgegangen werden. weil die eine Seite immer auch die andere miteinbegriffen hat, müssen beide Bewegungen, die Bewegung vom Göttlichen zum Menschlichen und die Bewegung vom Menschlichen zum Göttlichen, gerade auch in ihrer unhintergehbaren Divergenz als wesentlich erkannt werden. (S. 16)

Darauf lässt sich doch gut aufbauen. Ich bin gespannt auf den Rest des Buches.

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