Das Evangelium und die Kritiker

Zu Evangelium. Gottes langer Marsch durch seine Welt kommen die ersten Rückmeldungen. Über viele positive habe ich mich gefreut, über kritische die letzten Tage nachgedacht. Auf amazon.de finden sich beispielsweise zwei Stimmen, die (unterschiedlich scharf im Ton) bemängeln, vor lauter Bewegung bliebe der „Inhalt“ auf der Strecke.

Vielleicht zeigen diese Reaktionen aber auch schön, warum dieses Buch wichtig sein könnte. Sebastian Rink etwa hat eine griffige Formel zur Hand und definiert das Evangelium als „Rechtfertigung des Sünders aus der freien Gnade Gottes“. Walter Faerber und ich bestreiten das ja gar nicht, wer das Buch zur Hand nimmt, wird dies als das Evangelium der Reformatoren wiederfinden. Nicht von ungefähr stammt das Zitat, das Sink anführt, aus der Leuenberger Konkordie, in der Lutheraner, Reformierte und Methodisten vor knapp 40 Jahren die Abendmahlsgemeinschaft beschlossen, also einen Streit aus dem 16. Jahrhundert beilegten.

Wir stellen allerdings in Frage, ob das die einzige und universal gültige Form des Evangeliums sein darf. Im Neuen Testament wie in der Geschichte der Christenheit spielt dieses Evangelium immer wieder eine Rolle, aber man kann auch eine ganze Reihe alternativer Formulierungen (zum Beispiel das Kommen der Gottesherrschaft) mit demselben Recht dagegen setzen. Oder besser noch daneben, und genau das ist unser Vorschlag.

Und der andere Aspekt, um den es uns geht, ist der: Die Fixierung auf Formeln, wie sie in der Kritik wieder erscheint, verdeckt das Problem, dass ein Evangelium, das nicht mehr lebendig verkörpert ist (und ja, hier geht Gottes und menschliches Handeln, wie schon in Jesus, ständig und unentwirrbar durcheinander), dass das körperlose Evangelium zeitloser Wahrheiten im Grunde schon kein Evangelium mehr ist sondern nur noch eine dogmatische Abstraktion.

Walter und ich lehnen ein Form/Inhalt-Schema ab, das eine „ewige“ und unwandelbare Substanz postuliert (die in Wahrheit immer einen historischen „Sitz im Leben hat“, der aber oft übersehen oder verschwiegen wird). Wenn die biblische Überlieferung, vielschichtig wie sie in sich längst schon ist, auf eine bestimmte lokale Kultur trifft, entsteht nicht nur eine Variation der Form, sondern die komplette „Gestalt„, die Gesamtkonfiguration wird eine andere. Sie steht damit gleichzeitig in Kontinuität und Diskontinuität zu anderen Gestalten bewegter Kirche und ihrer Verkündigung, die vor, neben und nach ihr existieren.

Die Sorge der Kritiker scheint mir zwischen den Zeilen zu sein, dass Vielfalt Beliebigkeit bedeuten würde, das Gegenmittel ihrer Wahl scheint mir die reduktionistische Fixierung zu sein. Dagegen würde ich sagen: Es gibt 7 Milliarden verschiedene Menschen und es gibt zahllose Versuche, den Begriff „Mensch“ zu bestimmen und zu beschreiben. Mehr oder weniger originell, geistreich oder geglückt, aber jetzt einen herauszugreifen und zum Maß aller Dinge zu machen ist auch keine Lösung. Im Alltag unterscheiden wir trotz allem ziemlich mühelos zwischen Menschen und anderen Spezies und können menschliches und unmenschliches Verhalten leidlich gut auseinanderhalten. Kein Grund zur Panik also.

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8 Antworten auf „Das Evangelium und die Kritiker“

  1. Hi!

    So schlecht die Bewertungen bei Amazon auch ist, haben Sie mir doch er Lust zum lesen gemacht. Allen, ich brauche ein eBook. Auf Grund meiner Lebensumstände komme ich seid vielen Monaten nicht mehr dazu Papierbücher zu lesen und es deutet nichts darauf hin, das sich das ändern wird.

    VG

    Olaf

  2. Die „dogmatische Abstraktion“ ist für mich genau das, was uns Christen auf breiter Linie inkompatibel macht mit unserer Zeit. Und das einfach blind hinzunehmen ist schon ein starkes Stück.

    “Rechtfertigung des Sünders aus der freien Gnade Gottes” klingt ja ganz nach Luthers Ringen „um den gnädigen Gott“. Wenn das das Zentrum des Evangeliums ist, dann haben wir als Christen heute kaum Relevantes beizutragen.

  3. … ich habe immer dann Bauchweh, wenn irgendein abstraktes Substantiv präsentiert wird, – anstatt das Gemeinte verbal zu erzählen. Wenn Luther um den und mit dem gerechten Gott ringt, ist das halt was ganz anders als „Rechtfertigung“. (Und da ist die Schwierigkeit, dass „rechtfertigen“ im heutigen Sprachgebrauch fast ausschließlich reflexiv gebraucht wird – „sich rechtfertigen“ … – noch nicht mal im Blick.)

  4. Wenn ich die Amazon-Wertungen zu Eurem Buch richtig verstehe, kritisieren sie das Fehlen einer Definition für das Wesen des Evangeliums und sehen diese eben nicht durch die Beschreibung des Evangeliums als Bewegung+deren Wirkweise gegeben. Ich kann darin nicht das Bemühen um dogmatische Fixierung erkennen, sondern verstehe das als Frage nach dem Kern des Evangeliums angesichts aller zeitgeschichtlichen Vielfalt der Erscheiungsformen. Diese Frage finde ich persönlich auch sehr spannend. Wird sie denn im Buch beantwortet?

  5. Ohne das Buch oder die Rezensionen gelesen zu haben, mein Eindruck: Ich stimme mit Euch darin überein, dass man nicht gut eine Formel, die das Evangelium beschreibt, gegen eine andere ausspielen sollte, genauso wenig wie man eine Geschichte, mit der es erzählt wird, gegen eine andere ausspielen sollte. Das Nebeneinander, die Vielfalt, ist wichtig.
    Genauso wenig aber sollten m.E. Geschichten und Formeln gegeneinander ausgespielt werden, und da sehe ich sowohl bei den Kritikern als auch in diesem Blogeintrag eine Gefahr. Ist Evangelium denn ausschließlich Geschichte und Bewegung? Und kann man tatsächlich sagen, dass jeder Versuch, es in einem Satz zusammenzufassen, dann „kein Evangelium mehr ist, sondern nur noch eine dogmatische Abstraktion“?
    Ist eine Formel, eine dogmatische Abstraktion nicht vielleicht auch eine von mehreren Möglichkeiten, das eine Evangelium zu erzählen? Und wird sein Reichtum nicht vielleicht erst sichtbar, wenn auch diese Möglichkeit gesehen wird. Das Diktum „kein Evangelium mehr“ (schon sprachlich sehr nah an „Kein anderes Evangelium!“) scheint mir als Kritik daran genauso unangemessen wie als Kritik an Eurem Ansatz.
    Wenn ein Arzt mir sagt, dass ich geheilt bin, ist mir ehrlich gesagt egal, ob er es mir in medizinischen Formeln oder in Form einer Geschichte erzählt. Sobald ich es verstehe, ist es frohe Botschaft.
    P.S: Danke für den Abschied von DisqUs. Allerdings sind die Kommentare bei mir jetzt alle am rechten Rand abgeschnitten, teilweise ganze Wörter nicht zu sehen. Sowohl in Firefox als auch in Iron.

    1. @Andreas: Vielleicht wäre es tatsächlich sinnvoll, das Buch mal zu lesen… 🙂
      Ich will ja gerade keine Alternative von Formel oder Bewegung aufmachen, es geht mir allerdings jedoch darum, dass man das Evangelium immer nur ad hoc in einen Satz fassen kann (oder zwei, oder drei) – und manchmal auch muss –, aber dieses Telegramm dann nicht mit dem Ereignis verwechseln darf, von dem es handelt. Wenn man um den Unterschied weiß, dann weiß man auch, dass es gleichzeitig viele, viele andere Möglichkeiten gibt, alles in ein, zwei oder drei Sätzen zu sagen.
      Irreführend wird die Kurzform also dann, wo ich sie für das „Eigentliche“ halte und sie nicht mehr eine unter vielem möglichen ist. Ich kann hundert treffende Schlagzeilen für Obamas Wahlsieg finden. Eine beliebige davon kann vielleicht sogar etwas besser oder schlechter sein als die andere, keine aber gibt alles wieder. Wo dieser Unterschied nicht mehr beachtet wird und jemand nur dann noch erkennt, dass von Evangelium die Rede ist, wenn es streng in seinem gewohnten „Sprachspiel“ geschieht, da ist er dieser Verwechslung erlegen. Und das ist meiner Erfahrung nach erschreckend oft der Fall. Daher sagen wir in diesem Buch: Ja, das ist auch Evangelium, Deine Version des Evangeliums. Und jetzt schau bitte mal hin, denn neben Deiner Version gibt es noch viele andere. Man versteht die Unterschiede nur, wenn man ihren „Sitz im Leben“ einbezieht. Und erst dann kann man diskutieren, ob und inwiefern sie angemessen sind. Aber vielleicht ist es ja auch sehr bereichernd, diese Vielfalt zu entdecken. Wenn sich nämlich gerade niemand für „mein“ Evangelium interessiert, dann gibt ers vielleicht andere Zugänge?
      Nebenbei: Wenn Dir der Arzt sagt, dass Du nicht mehr krank bist, dann erzählt er immer eine Geschichte, die einen Vorlauf hatte und einen emotionalen Aspekt (für Dich wie für ihn). „Geheilt“ und „gesund“ ist ja eine vieldeutige und komplexe Beschreibung (und ein subjektives Urteil, wie man es nun dreht und wendet!), nicht einfach nur eine Zahl oder karge Rohdaten.

  6. @Peter: Vielen Dank für die Erläuterung. Das Buch steht auf meiner To-Read-Liste. Ich denke, dass ich mit dem meisten sehr gut mitgehen kann. Gerade deswegen stieß mir Deine Formulierung „kein Evangelium mehr“ so auf, weil sie eigentlich nicht in Deinem Sinne zu sein scheint.
    Zum weiteren: Vielleicht wäre es sprachlich hilfreich, nicht „mein“ oder „Dein Evangelium“ zu sagen, sondern „meine / Deine Art, das Evangelium zu erzählen“? Sonst entsteht der Eindruck, es wären verschiedene Evangelien, die nichts gemeinsam haben.

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