Vom Segen der Rücksichtnahme

Romano Guardinis Die Lebensalter gehört zu den Büchern, die man wenigstens alle drei bis fünf Jahre wieder lesen sollte. Auf den wenigen Seiten findet man so viel hochverdichtete Weisheit, dass jeder neue Durchgang wieder frische Offenbarungen vermittelt. Zum Beispiel darüber, warum wir es uns nicht leisten können, alte Menschen zu vernachlässigen:

Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass die Pflicht des lebensstarken Menschen gegenüber dem alten nicht nur für den letzteren wichtig ist… Gesundheit […] kann den Menschen roh, und, in einem tiefen Sinn, dumm machen. Der antike Weise würde sagen: sie macht ihn anfällig für das Schicksal. Die Sorge für den Schwachen schützt den Starken selbst. Indem dieser die Hilfsbedürftigkeit des Alten versteht und durch Rücksichtnahme auf ihn die eigene Lebensungeduld mäßigt, wird er vor vielem bewahrt, was ihn zu Fall bringen kann.

… der Mensch, der es ablehnt, dem sinkenden Leben gut zu sein, und der fortschreitenden Einengung, die es erfährt, zu Hilfe zu kommen, versäumt eine wichtige Chance, zu verstehen, was überhaupt Leben ist, wie unerbittlich seine Tragik, wie tief seine Einsamkeit, und wie sehr wir Menschen miteinander solidarisch sind.

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Glück ist überbewertet

Diese Tage stieß ich auf einen Gastbeitrag des Philosophen Wilhelm Schmid in der SZ, wo er sich kritisch mit dem Streben nach Glück auseinandersetzt, mit den Aufklärern Bentham und Locke, deren Maximen nun auch im „glückverspäteten“ (tolles Wort!) Deutschland die Ära von Pflicht und Tugend abgelöst haben. Er passt auch gut zu diesem Post von letzter Woche über die Problematik vermeintlich „negativer“ Gefühle.

Schmid bricht eine Lanze für die Melancholie, und er macht das gut, so weit das in dieser Kürze geht, finde ich. Hier ein paar Sätze aus seinem Plädoyer:

Glück an sich ist kein erstrebenswertes Ziel. Es ist schön, wenn es uns gelegentlich berührt wie ein Hauch. Aber wenn es zu lange anhält, macht es träge – und wir richten uns in einer Zufriedenheit ein, die uns auf Dauer nicht guttut.

Das Andere des Glücks, manchmal auch das andere Glück, ist das Unglücklichsein. Seine am meisten verbreitete Form ist die Melancholie. Das ist kein krankhafter Zustand, sondern eine Art und Weise des menschlichen Seins, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört. Melancholie – das ist ein Zustand von übergroßer Sensibilität, mit sehr bewegten Gefühlen und Gedanken. Melancholie ist die Seinsweise einer Seele, die schmerzen und sich ängstigen kann.

Melancholiker denken über alles nach, daher sind seit jeher so viele Philosophen und Künstler unter ihnen zu finden. Gerade ihr tragisches Bewusstsein entspricht dem Leben womöglich mehr als jede törichte Leugnung von Tragik.

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Die guten Fragen bleiben

»Die interessanten Fragen bleiben immer Fragen. Sie bergen ein Geheimnis. Mann muss jeder Antwort ein ‚vielleicht‘ hinzufügen. Nur die uninteressanten Fragen habe eine endgültige Antwort.«

Eric Immanuel Schmitt, Oskar und die Dame in Rosa

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Weisheit der Woche: Erkennen

Für den Philosophen ist Gott ein Objekt, für betende Menschen ist er das Subjekt. Ihr Ziel ist nicht, ihn als Konzept des Erkennens zu besitzen, informiert zu sein über ihn, als wäre er eine Tatsache neben anderen. Sie sehnen sich danach, von ihm ganz in Besitz genommen zu werden, Gegenstand seines Erkennens zu sein, und das zu spüren. Die Aufgabe ist nicht, das Unbekannte zu kennen, sondern von ihm durchdrungen zu sein; nicht zu kennen, sondern von ihm erkannt zu werden, uns ihm auszusetzen, nicht ihn uns; nicht zu urteilen und sich zu behaupten, sondern zu hören und von ihm beurteilt zu werden.

Abraham J. Heschel, Man is not Alone, S. 128f.

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Die Gottesfrage

Die Frage nach Gott ist keine Frage nach allen Dingen, sondern eine Frage aller Dinge; keine Untersuchung des Unbekannten, sondern eine Untersuchung dessen, wofür alle Dinge stehen; eine Frage, die wir für alle Dinge stellen. Man formuliert sie nicht in Kategorien des Verstandes, sondern in Taten, in denen wir über alle Worte hinaus rege sind. Der Verstand weiß nicht, wie er sie formulieren soll, aber die Seele seuzft sie, singt sie, fleht sie.

Abraham Heschel, Man is not Alone

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Es lebe die Philosophie!

In den USA hat das republikanische Wunderkind Jonathan Krohn verlauten lassen, er werde vermutlich für Obama stimmen. Der Junge ist 17 und hat im zarten Alter von 13 durch sein Buch Defining Conservatism auf sich aufmerksam gemacht. Die SZ berichtet Erstaunliches über die Hintergründe. Hier geht es, wie die SZ berichtet, nicht etwa um konservative Peinlichkeiten wie Mitt Romneys unversteuertes Auslandsvermögen in dreistelliger Millionenhöhe, sondern

Schuld am Sinneswandel des 17-Jährigen sind laut Krohn deutsche Philosophen wie Nietzsche, Wittgenstein und Kant, nach deren Lektüre er dem Konservatismus den Rücken kehrte.

Mit Bildung und deutschen Denkern aus der Krise, das lässt den schaurigen Rechtsruck der US-Konservativen in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ob die Köpfe der Teaparty ausgebuffte Zyniker sind oder echte Ignoranten, spielt vielleicht eine nebensächliche Rolle. Punkten können sie nur, weil viel zu viele Menschen viel zu wenig nachdenken und das auch nie richtig gelernt haben. Kein Wunder, dass diese Politiker gar kein Interesse daran haben, Bildung zu verbessern: Die Einschaltquoten von Fox News könnten leiden.

Also, Leute, holt den Kant wieder aus dem Regal. Das Sapere Aude hat auch im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

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Weisheit der Woche: Aufklärung und Vernunft

Aufklärung, wie sie gerade auch die deutsche Philosophie gelehrt hat, würde heißen, die eigene Weltanschauung zu relativieren und also im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.

Navid Kermani in einem lesenswerten Beitrag für die SZ

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Solche und solche Beweise

Gottes Existenz kann von menschlichem Denken nie überprüft werden. All unsere Beweise sind nur Demonstrationen unseres Dursts nach ihm. Braucht der Durstige einen Nachweis seines Durstes?

Abraham Heschel, Man is not alone, 94

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Das unbekannte Selbst

Die folgenden Worte sind – die Wendung erscheint gleich noch einmal – tatsächlich geborgt, aus „Man is not Alone“ von Abraham Heschel. Der Einfachheit halber habe ich sie diesmal übersetzt:

Nur wer von geborgten Worten lebt, glaubt an sein Vermögen, sich auszudrücken. Ein vernünftiger Mensch weiß, dass das Intrinsische, das Allerwesentlichste, nie ausgedrückt werden kann. Das meiste – und oft das Beste – was sich in uns abspielt, ist unser Geheimnis; wir müssen selbst damit fertig werden. (S. 4)

Alles, was wir über unser Selbst wissen, ist das, was es ausdrückt, aber das Selbst kommt nie völlig zum Ausdruck. Was wir sind, können wir gar nicht sagen; was wir werden, können wir nicht fassen. Es ist alles eine kryptische, vielsagende Metapher, die der Verstand vergeblich zu entschlüsseln sucht. Wie der brennende Busch steht das Selbst in Flammen, aber es wird nicht verzehrt. Es trägt mehr mit sich herum als nur Vernunft, es liegt in Wehen mit dem Unsagbaren. Der Mensch ist ein Bild, das irgendetwas bedeutet. Aber was? (S. 46)

Ich bin mit einem Willen ausgestattet, aber der Wille gehört mir nicht; ich bin mit Freiheit ausgestattet, aber diese Freiheit ist dem Willen auferlegt. Das Leben ist etwas, was meinen Leib besucht, eine transzendente Leihgabe; ich habe seinen Wert und Sinn weder geschaffen noch erfasst. Die Essenz dessen, was ich bin, gehört mir nicht. Ich bin, was ich nicht bin. (S. 47f.)

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Der Segen der Sprachlosigkeit

… those to whom reality is dearer than information, to whom life is stronger that concepts and the world more than words, are never deluded into believing that what they know and perceive is the core of reality. We are able to exploit, to label things with well-trimmed words; but when ceasing to subject them to our purposes and to impose on them the forms of our intellect, we are stunned and incapable of saying what things are in themselves; it is an experience of being unable to experience something we face: too great to be perceived. Music, poetry, religion – they all initiate in the soul’s encounter with an aspect of reality for which reason has no concepts and language has no names.

Abraham Joshua Heschel, Man Is Not Alone, S. 36

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Weisheit der Woche: Demut

Humility is the only lens though which great things can be seen–and once we have seen them, humility is the only posture possible.

Demut ist die einzige Brille, durch die man Großes sehen kann – und sobald wir es gesehen haben, ist sie die einzig mögliche Haltung

Parker J. Palmer (via Brian McLaren)

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Weisheit der Woche: Nachahmung

Iain McGilchrist schreibt in The Master and His Emissary, wie er sich eine Alternative zu Dawkins‘ umstrittenen und problematischen Begriff des Meme vorstellt. Es geht dabei um die Frage, wie kulturprägende Muster und Dispositionen bei Menschen entstehen. Statt von Mechanismen auszugehen betont er die menschliche Fähigkeit und Neigung zur Nachahmung, die allem Lernen und jeglicher Persönlichkeitsentwicklung zugrunde liegt. Und die Kraft menschlicher Phantasie:

Imagination, then, is not a neutral projection of images on a screen We need to be careful of our imagination, since what we imagine is in a sense what we are and who we become. The word imago is related to the word imitari, which means to form after a model, pattern or original. There is ample evidence […] that imitation is extremely infectious: thinking about something, or gene just hearing words connected with it, alters the way we behave and how we perform our tasks. This was understood by Pascal, who realized that the path to virtue was the imitation of the virtuous, engagement in virtuous habits – the foundation of all monastic traditions. (S. 251)

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Glaube und Wissenschaft: So tun, als ob

Glaube an Gott … lässt sich nicht reduzieren auf eine sachliche Antwort auf die Frage „existiert Gott?“, wenn man für einen Augenblick davon ausgeht, dass der Ausdruck „eine sachliche Antwort“ einen Sinn hat. Es bedeutet, der Welt gegenüber eine Haltung, eine Disposition einzunehmen, wodurch diese Welt, so wie sie für mich zu sein beginnt, eine Welt ist, in die Gott hineingehört. Dieser Glaube verändert die Welt, er verändert aber auch mich. Ist es wahr, dass Gott existiert? Wahrheit ist eine Disposition, nämlich jemandem oder etwas die Treue zu wahren. Man kann nicht einfach an nichts glauben und so jeglichen Glauben meiden, einfach deswegen, weil man der Welt gegenüber nicht keine Disposition haben kann, das wäre in sich schon wieder eine Disposition. Manche Menschen entschließen sich, an den Materialismus zu glauben; sie handeln so, als wäre diese Philosophie wahr. Eine Antwort auf die Frage, ob Gott existiert, kann nur so kommen, dass ich so handle, „als ob“ es Gott gibt, und auf diese Weise Gott die Treue wahre und erlebe (oder vielleicht auch nicht), wie Gott mir die Treue wahrt.

Dieses „Tun, als ob“ ist keineswegs eine Ausflucht, ein Eingeständnis, dass man das, was man angeblich glaubt, gar nicht „wirklich“ glaubt. Ganz im Gegenteil: Wie Hans Vaihinger verstand, ist alle Erkenntnis, vor allem wissenschaftliche Erkenntnis, nicht mehr als zu handeln, „als ob“ bestimmte Modelle bis auf Weiteres wahr sind. Wahrheit und Glaube.

Iain McGilchrist, The Master and His Emissary, S. 170f.

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Schamlos zerredet?

Im Verhältnis zur Musik ist alle Mittheilung durch Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht das Ungemeine gemein.

Der Vielschreiber Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887

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