Von der „Windstille der Gemeindehäuser“

Heute bin ich auf einen interessanten Text des Theologen Ernst Lange gestoßen. Er stand in einer Zeitschrift aus dem Jahr 1958. Manches daran mutet deshalb schon etwas nostalgisch an, der Grundgedanke allerdings hat sich im kirchlichen Leben bisher noch nicht durchgesetzt. Man bleibt weitgehend konzentriert auf Gottesdienste und Sakralbauten. Lange dagegen hatte 1960 in Berlin-Spandau eine „Ladenkirche“ eingerichtet. Die Idee hat er aus East Harlem mitgebracht, wo drei Studenten eine Gemeinde in einem Metzgerladen gegründet hatten. Damit hat er das, was heute in der Missionalen Diskussion unter Third Places läuft, schon vorweggenommen. Hier sind seine Worte:

Das Leben der Zeit ist nicht in Kirchenräumen, nicht an Lagerfeuern und in Freizeitheimen. Das Leben der Zeit ist in Maschinenhallen, an Werkbänken und Schreibtischen. Da ist das Leben unserer Mitmenschen, da ist, wenn wir ehrlich sind, auch unser Leben. Jesus Christus, unser Leben, will nicht ein Scheinleben neben dem Leben sein, sondern er will das wirkliche Leben retten durch einen Rhythmus, der auch der Rhythmus der Maschine ist. Wir haben zu lange nein gesagt zur Maschine, zur Technik, zum Fortschritt. Das war kein gehorsames Nein, denn Gott hat dem Menschen als Beruf gesetzt, die Erde zu beherrschen. Und die Maschine ist weder Götze noch Dämon, sondern ein Werkzeug dieser Herrschaft. Nun sind wir weithin die Sklaven unserer Werkzeuge geworden. Das schlechte, das unmenschliche Leben, das wir unseren Werkzeugen gegeben haben – nicht der Teufel, nicht das Kapital oder der Kommunismus – bekommen wir nun zurück: In den Riesenstädten, die uns den Atem nehmen, in den Mietskasernen, da der Gruß auf der Treppe schon zu vertraulich ist, in der Vergnügungsindustrie, die unsere Zeit totschlägt!

Wir meinten zu lange, das seien Probleme der Welt, und wir müßten doch wissen, daß Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat. Gott will, daß wir die Herren unserer Werkzeuge seien und sie im Dienst füreinander verwenden. Es ist an der Zeit, daß wir lernen, ein freies und freudiges Ja zur Maschine zu sagen, denn sie ist ein gutes Werkzeug für diesen Dienst. Es ist an der Zeit, daß wir unseren Beruf annehmen als ein Geschenk Gottes. Es ist an der Zeit, daß wir die weltlichen Probleme als unsere Fragen ernst nehmen, als Fragen nämlich, die Gott uns um des Nächsten willen stellt. Niemand nimmt uns die Verantwortung für unser Werk ab, dem berühmten Konstrukteur so wenig wie dem jüngsten Lehrling, der nur einen Handgriff am Fließband tut. Wir sind gefragt, ob dieser Handgriff Frieden schafft oder Unfrieden, ob er dem Nächsten dient oder nur uns selbst.

Das Leben der Zeit ist nicht das Leben der einzelnen, sondern das Leben der Massen. Es ist unser Schicksal, mit Tausenden zur Arbeit zu gehen, mit Tausenden in einem Block zu wohnen, mit Tausenden denselben Film zu sehen. Es ist unser Schicksal, die Anzüge zu tragen, die alle tragen, in Möbeln von der Stange zu wohnen, die Sprache der Massen zu sprechen, mag sie auch unschön sein. Wir gehören zu den Massen, arbeiten, essen und wohnen wie sie. Es ist ein schlechter, unmenschlicher Christenglaube, der uns so oft veranlasst, dieses Massenleben als etwas Verächtliches zu betrachten und uns schmollend in eine fromme Ecke zurückzuziehen. Das Leben der Massen ist unser Leben und unsere Aufgabe. Dort, wo die Menschen in Massen leben, müssen wir bewähren, daß Gottes Wort uns zu Menschen macht, nicht in den windstillen Räumen der Gemeindehäuser. Kinder zu verantwortlichen Menschen zu erziehen, obgleich Spiele sie mehr interessieren als Bücher, das Kino mehr als der Strickstrumpf – das ist christlicher, als den alten Verhältnissen nachzutrauern. Den Weg zum Nachbarn – auch und gerade in der Mietskaserne zu finden -, das ist menschlicher und christlicher, als sich darüber zu ereifern, daß die Kirchen leer sind. Mit einem Arbeitskollegen in der Frühstückspause ein gutes Wort zu sprechen -das ist so biblisch wie eine Bibelstunde, denn das Leben Christi will hinein in das Leben der Zeit.

Maschinen, Technik und Fortschritt haben sich über 50 Jahre später an vielen Orten gewandelt, die Erfahrung der Menschen, „Sklaven unserer Werkzeuge geworden“ zu sein, jedoch nicht, wenn man aufmerksam Zeitung liest. Anonyme Metropolen und organisierte Zerstreuung kennen wir auch zur Genüge.

Der Gedanke, dass „Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat“ beschäftigt heute auch wieder viele. Für Lange bedeutet das, die Technik zu meistern und zum Wohl anderer zu benutzen. Das bedeutet, sich erst einmal in der Verantwortung zu sehen und die Folgen unseres Handelns (oder unserer Untätigkeit) für andere zu bedenken. Ein eskapistisches oder isolationistisches Christentum – das wird man selten explizit, häufig dagegen implizit antreffen, und zwar überall da, wo Gemeinden und Christen sich selbst genug sind – meidet diese Herausforderung.

Und es besteht die Gefahr, das Leben der Massengesellschaft verächtlich zu betrachten und sich in die „windstillen Räume der Gemeindehäuser“ zu verkrümeln, um so etwas besonderes (und natürlich auch besseres) sein zu wollen. Lange hat schon damals vorausgesehen, was heute noch nicht allen bewusst ist, selbst wenn es unübersehbar geworden ist: eine weitreichende Entfremdung zwischen organisiertem Christentum und der Mehrheit der Gesellschaft.

Dass das Leben Christi in das so nüchtern beschriebene „Leben der Zeit“ hineinkommt, das ist die Aufgabe der Christen und Gemeinden. Langes Ladenkirche hat 2004 den Brunsbütteler Damm verlassen und sich in ein Kirchengebäude zurückgezogen. Die Gravitation des Gewohnten und Sakralen ist selbst im unkirchlichen Berlin noch übermächtig. Neue Anläufe können kaum mit institutioneller Unterstützung rechnen.

Sollte man sie dennoch wagen, oder ist Langes Entwurf Schnee von gestern?

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Wenn „richtig“ nicht mehr reicht…

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen, Alan Roxburgh auf dem IGW-Kongress in Rotkreuz/CH zu übersetzen. Er hat engagiert und komprimiert seine wichtigsten Thesen zum Thema Missionale Gemeinde vorgetragen und dann ging es in eine Runde „World Café“ mit 30 kleinen Gruppen, in denen alle gemeinsam Thesen zur „Kirchenreform“ erarbeiteten.

Das klingt nach einem hehren Anspruch – es ist ja nicht so, dass es zu diesem Thema bisher noch nichts gäbe – und in folgenden Plenum wurden die wichtigsten Gedanken kurz vorgestellt. für mich am Interessantesten war Alans Experten-Feedback. Er sortierte die Antworten beim Zuhören in verschiedene Kategorien, die unterschiedlichen Reflexen oder Standard-Voreinstellungen entsprechen. Soll heißen: Immer, wenn wir nicht weiter wissen, suchen wir unbewusst zuerst entlang solcher vorgegebener Linien nach der Lösung:

  1. „Pietismus“: Eine Jesus-bezogene Herzensfrömmigkeit führt zu Antworten wie: Wenn wir Jesus nur tief genug lieben (und unsere Mitmenschen auch), dann würde sich alles andere von allein regeln. Daher muss der Ansatz eine Erneuerung der Herzensbeziehung sein: Buße und Vergebung etwa, darauf hinwirkende Inhalte von Predigt und Verkündigung, mehr Gebet oder „Stille Zeit“. In der Regel ist damit auch eine Spitze gegen Strukturen und Institution verbunden, und das führt zum nächsten Reflex, dem
  2. Problematisieren: Wir suchen nach dem Punkt, wo es technisch „klemmt“. Der Gottesdienst (oder ein anderer Programmpunkt der Gemeinde) frisst zu viele Ressourcen, die Ausbildung der Pfarrer liegt im Argen, man braucht gar kein bezahltes Personal und keine Gebäude und so weiter
  3. Projekte: Wir veranstalten eine Konferenz oder entwerfen ein Schulungsprogramm, wir machen neue Gottesdienstangebote oder krempeln Kleingruppen und Hauskreise um, wir stellen anderes Personal ein, unternehmen eine Gebetsaktion oder lesen alle ein bestimmtes Buch.

An diesen Dingen ist nichts falsch. Allerdings bewegen wir uns auf diesen Linien eben immer noch im Bekannten und Vertrauten, das Problem ist also gerade ihrie „Richtigkeit“. Diese Reflexe so stark, weil wir das Heft in der Hand behalten. Nur sind wir ja möglicherweise gerade wegen dieser Standardreflexe an unsere Grenzen gestoßen! Glauben hat aber gerade mit dem Wagnis zu tun, sich auf Ungewissheiten einzulassen.

Ein paar der vorgetragenen Thesen gingen dann auch den einen, entscheidenden Schritt weiter: Damit sich wirklich etwas ändern kann, müssen wir erstens unsere Ratlosigkeit eingestehen und zweitens danach fragen, was eigentlich Gott in unserer Umgebung tut. Das setzt theologisch voraus, dass der Heilige Geist in der Gesellschaft wirkt und handelt und dass wir gemeinsam in der Lage sind, dieses Wirken zu entdecken. Hier kommt dann das gemeinsame Lesen der Bibel (Lectio divina oder auch „Bibel Teilen“) ins Spiel, ebenso wie das Warten auf Gott in Gebet und Stille und die aktive Kontaktpflege in der Nachbarschaft (nicht um dort gleich schon wieder etwas „an den Mann zu bringen“, sondern um Neues zu entdecken und zu lernen).

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Spielfreude

In Lukas 17,7-10 steht eine verstörende Passage:

Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Nimm gleich Platz zum Essen? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken. Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.

Als ich das las, fiel mir eine Diskussion zum Thema „Wertschätzung in der Gemeinde“ vor einpaar Wochen ein. Wie verhält sich dieses Jesuswort zu Aussagen des Paulus, dass Christen „einander mit Ehrerbietung zuvorkommen“ (Römer 12,10), immer auf Lobenswertes bedacht (Philippe 4,8) sein sollen und dass gerade die unscheinbaren Glieder besonders geehrt werden (1. Korinther 12,23)?

Einerseits ist es eine Frage der Motivation: Wenn ich mich irgendwo engagiere, dann sollte es mir um die Sache und das Ganze gehen. Anerkennung für meinen Beitrag ist dann schön, aber keine notwendige Bedingung. Wo sie unter der Hand zu eigentlichen Ziel wird, um das es mir geht, wird das Lob nur ganz selten die Mühe wert gewesen sein. Vielleicht hilft hier der Vergleich mit einer Fußballmannschaft: Trainer bemühen sich ja oft, einzelne Spieler nach einem Sieg (und noch viel mehr nach einer Niederlage…) nicht zu sehr herauszuheben. Selbst die teuren Profis freuen sich ja noch, wenn sie spielen dürfen. Am Ende gibt es einen Handschlag vom Trainer, ein Schulterklopfen von den Mitspielern (und manchmal auch eine Kopfnuss, wenn etwas nicht gut gelaufen ist). Aber das Eigentliche ist und bleibt das Dabeisein beim Spiel selbst. Nichts motiviert mehr, als mit anderen (Selbst-)Motivierten gemeinsam zu kämpfen. Die Spirale dreht sich nach oben, wenn (und weil) man von sich selbst wegschaut.

Schwierig wird es da, wo man die Verantwortung für die eigene Motivation unter der Hand anderen zuschiebt. Manche von uns haben das auch schon erlebt: Da sind nicht nur Selbstdarsteller und Bewunderungsjunkies am Werk, sondern auch Verzagte (das kann vorkommen, kein Problem) und ein paar Antriebsschwache, denen man ständig gut zureden muss, um sie bei Laune zu halten. Es fühlt sich ein bisschen an wie Wandern mit Kindern. Während für mich als Erwachsenem die Bewegung, die frische Luft und die schöne Natur – Berge, Wasser, Wald, die Sonne und der weite Himmel) die eigentliche Belohnung sind, muss ich für den widerwillig mittrottenden Nachwuchs tütenweise Süßigkeiten als Bestechung mitschleppen und versprechen, am Ende an einem Schnellrestaurant zu halten, wo man neben so gesunden Produkten wie Pommes und Cola auch noch grausiges Plastikspielzeug in die Tüte gepackt bekommt. Zum Glück funktionieren die meisten Teams in unseren Gemeinden nicht so. Wo es aber doch so ist, dass man – ob Fußballverein oder Kirche – ständig Streicheleinheiten verteilen muss (eine Art Mutti-vation), da sind die Verantwortlichen nicht zu beneiden. Befangenheit stellt sich angesichts der oft unausgesprochenen Ansprüche ein, das Lob wird dann eher spärlich tröpfeln und die Spirale früher oder später nach unten gehen. Etwas partout toll finden zu müssen, ist eben schwierig.

Zweitens ist da die Frage nach dem Maßstab. Wenn das Lob und die Anerkennung zum eigentlichen Ziel werden, dass ist das ja ein Tauschhandel, aber kein „Dienen“ mehr. Andere geraten unter Zugzwang, sie spüren die drohende Enttäuschung, wenn die Gegenleistung ausbleibt. Zusätzlich kann man bei diesem Geschäft auch noch die Preise verderben: Pädagogen warnen inzwischen davor, Kinder zu viel und für die falschen Dinge zu loben. Mag sein, dass das eine Art Pendelschlag war auf den knauserigen Umgang mit Komplimenten in früheren Generationen und bestimmten Landstrichen (etwa das berüchtigte „net geschimpft sich globt gnug“). Zu überschwänglich und zu pauschal hilft trotzdem niemandem, und Lobhudeleien wirken eben auch relativ bald nicht mehr anspornend. Nicht jede Leistung ist etwas Besonderes, nicht immer hat jemand sein Bestes gegeben oder sich erkennbar verbessert – das geht freilich auch nicht immer, nur kann man dann auch keine besondere Reaktion von den anderen erwarten (wenn jemand dagegen ein aussagekräftiges Feedback für eine bestimmte Tätigkeit und Aufgabe möchte, dann sollte er andere ausdrücklich darum bitten und sie dazu einladen. In den seltensten Fällen kommt das von allein oder zu einem guten Zeitpunkt). Wenn meine Leistung als Vater oder Mutter davon abhängt, ob meine Kinder mir das ausreichend danken oder es würdigen (von der Gesellschaft insgesamt ganz zu schweigen), dann gute Nacht: Der Dank kommt zu spärlich und zu spät – immer. Mein wirklicher „Lohn“ ist der, dass die Sprösslinge irgendwann hoffentlich gestandene Persönlichkeiten sind.

Drittens hat das Ganze mit unserem Rollenverständnis zu tun. In Lukas 17 kommt der Begriff der „Schuldigkeit“ ins Spiel. Ein „Knecht“ lebt im Haus des Herrn, der für ihn sorgt, indem er ihm ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen gibt. Dafür „schuldet“ der Knecht dem Herrn seine Dienste. Das ist etwas anderes als heutige Arbeitsverträge, die auf eine weniger umfassende Solidarität angelegt sind und (wenigstens pro forma) gleichberechtigte Partner voraussetzen. Sie liegen tatsächlich eher in der Nähe eines Deals: Lohn für Leistung. Wer so denkt, warnt Jesus, greift zu kurz. Die Pharisäer, die ihre Spitzenfrömmigkeit zur Schau stellen, haben ihren Lohn schon bekommen, sagt er. Von Gott können sie nichts mehr erwarten.

Im Blick auf Gott ist es nämlich so, dass wir ihm ja gar nichts schenken könnten, was er uns nicht immer schon gegeben hätte. Man muss das, um den Sachverhalt zu würdigen, ganz sicher nicht so extrem auslegen und -leben wie C.H. Spurgeon es getan hat:

Kann jemand von euch auf den Dienst für den Herrn mit Befriedung zurückblicken? Wenn ihr es könnt, kann ich nicht sagen, daß ich euch beneide, denn ich stimme nicht im geringsten mit euch überein. Was mich betrifft, so bin ich genötigt, mit heiligem Ernst zu bekennen, daß ich nicht mit dem zufrieden bin, was ich getan habe. Ich habe halbwegs gewünscht, mein Leben von vorn wieder anfangen zu können, aber jetzt tut es mir leid, daß mein stolzes Herz sich einen solchen Wunsch erlaubt hat, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würde es das zweite Mal noch schlechter sein. Was die Gnade für mich getan hat, erkenne ich mit tiefer Dankbarkeit an, aber für das, was ich selbst getan habe, bitte ich um Vergebung. Ich bitte Gott, mir meine Gebete zu vergeben, denn sie sind voller Fehler. Ich bitte Gott, selbst dieses Bekenntnis mir zu vergeben, denn es ist nicht so demütig, wie es sein sollte. Ich bitte ihn, meine Tränen zu waschen und meine Andacht zu reinigen und mich mit meinem Heiland in den Tod zu begraben, daß ich in mir selbst ganz vergessen und nur in Ihm an mich gedacht werde. O Herr, Du weißt, wie wir zu kurz kommen in der Demut, die wir fühlen sollten! Vergib es uns. Wir sind alle unnütze Knechte, und wenn Du uns nach dem Gesetze richten würdest, wären wir alle verloren.

Unter uns sind die Rollen wieder anders verteilt: Hier geht es weder um Herren und Knechte noch um Eltern und Kinder, sondern wir arbeiten alle gemeinsam für den einen Herrn und sind Kinder des einen Vaters. Es wäre auch ein Missverständnis, dass „Ehrenamtliche“ für die Hauptamtlichen in der Gemeinde arbeiten (umgekehrt würde eher ein Schuh draus, aber auch nicht so richtig), sondern beide arbeiten Seite an Seite für die ganze Gemeinde, die wiederum (wenn alles richtig läuft) ihrer Stadt und ihrem Ort dient. Von Spieler zu Spieler quasi kann man einander Anerkennung und Wertschätzung schenken. Aber alle bleiben frei von dem Druck, irgendetwas toll finden zu müssen, was ein anderer macht. Ihr Urteil ist ohnehin nicht das Entscheidende. Und vielleicht ist diese Freiheit eine Bedingung dafür, dass eine gesunde Wertschätzung überhaupt wachsen kann, weil sie ein Geschenk bleiben darf.

Mit diesem Geschenk nun braucht man nicht zu knausern. Jeder freut sich, wenn ihm etwas gelingt und die anderen das auch merken. Wir alle blühen auf, wenn wir nicht das Gefühl haben, nur ein anonymes Rädchen in einem großen Apparat zu sein. Wir hängen uns mehr rein, wenn wir eine positive Resonanz spüren. Und je mehr wir uns hineingeben in die Aufgabe (und uns dabei, das ist das Seltsame, selbst fast vergessen), desto näher kommen wir dem positiven „Flow-Erlebnis“.

Und vielleicht ist es ja auch das, was in Lukas 17 angedeutet ist: Die Selbstvergessenheit im Blick auf den großen Gott und das Geschenk der Möglichkeit, etwas zu seinem Wirken in der Welt beitragen zu können, nicht die herbe Selbstherabsetzung als untauglich und nichtsnutzig. Das dabei-sein-Können ist in sich schon die größte Auszeichnung. In diesem Sinne – lasst uns täglich mit so viel Spielfreude wie möglich auf den Platz stürmen, wenn uns der Trainer schon aufgestellt hat 🙂

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Tempel und Tümpel

Im Blick auf die ökumensiche Landschaft mit ihren Strömungen wurde ich gestern an das Bild aus Ezechiel 47 erinnert. Dort entspringt im Tempel ein Fluss, der dann nach Osten hinunter ins Jordantal fließt, alles zum Blühen bringt und schließlich das Tote Meer gesund macht – es wird reich an Fischen. Um das Bild völliger Harmonie abzurunden, schiebt der Prophet in Vers 11 dann noch nach:

Die Lachen und Tümpel aber sollen nicht gesund werden; sie sind für die Salzgewinnung bestimmt.

Heute entdecken viele Christen, dass sie bei allen Unterschieden im Grunde zu einem gemeinsamen Strom gehören. Zugleich gibt es überall Gruppen und einzelne, die so viel Einigkeit und die hohe Fließgeschwindigkeit für gefährlich halten und die „klare“, harte Abgrenzung fester Standpunkte suchen. Ins Schwimmen wie der Prophet geraten sie nur sehr ungern. Manchmal wirbeln sie mit ihrem Protest viel Staub auf und manch einer investiert viel Zeit und Kraft, ihnen gut zuzureden – oft mit sehr überschaubarem Erfolg.

Vielleicht sollten wir uns an Pfingsten auf den Strom der Heilung konzentrieren und die ätzende Salzlauge ignorieren. Sie darf in Tümpeln fortbestehen und erfüllt so auch einen Zweck in Gottes Plan. Denn die salzige Brühe. die ungenießbar ist und in größeren Mengen lebensfeindlich wäre, dient nun der Salzgewinnung. In diesen Nischen wird etwas konserviert, was von Zeit zu Zeit und in sehr behutsamer Dosierung wieder nützlich werden kann – Mineralien, die sonst verlorengehen würden. Das spricht dafür, auch mit verbohrten Kritikern gelassen umzugehen. Man muss zwar nicht gutheißen, was sie tun und wie sie es tun, andererseits fließt der große Strom weiter und an seinen Ufern gedeiht so viel Interessantes, dass man sich nicht allzu lange mit ihnen aufzuhalten braucht. Irgendwann entdeckt man bei ihnen dann doch einmal eine (vielleicht sehr einseitige und ungeschickt vertretene) Einsicht, die allen wieder nützt.

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Pfingsten, die Pfingstler und der Zeitgeist

Ich hatte es letzte Woche ja schon erwähnt: an Pfingsten die Misere der Kirchen zu beklagen, ist ein beliebter, aber alles andere als origineller und wohl auch nicht geistreicher Akt. Exemplarisch dieses Zitat eines traditionalistischen Katholiken, Kardinal Brandmüller, aus der SZ online:

In Afrika und Asien sieht der Kardinal den „Geist des Herrn“ noch mächtig wirken, während in Deutschland „das Schiff der Kirche mit schlaffen Segeln zum Spielball des Meeres, das heißt des Zeitgeistes, wird“.

Ähnliche Töne waren auch im evangelikalen Umfeld des Kapstadt-Kongresses immer wieder zu hören: Anderswo boomen die Kirchen, hier nicht, und das liegt natürlich am Zeitgeist. Von dem müssen wir wieder weg. Die Rhetorik erinnert an den Antimodernismus des 19. Jahrhunderts und dessen evangelikales Gegenstück, den Fundamentalismus Anfang des 20. Jahrhunderts.

Dabei spielt der Zeitgeist eben auch eine gewichtige Rolle beim Boom. Brian McLaren hat schon bei seinem Besuch 2007 darauf hingewiesen, dass das kirchliche Wachstum fast immer im Zuge von Modernisierungsprozessen stattfindet. Deswegen Afrika und Asien. Und Yan Suarsana beschreibt in dem hier schon erwähnten Buch Christentum 2.0, dass der Erfolg der Pfingstbewegung (zu der er auch charismatische Bewegungen in den historischen Kirchen rechnet), genau damit zu tun hat, dass sie Menschen beim Übergang aus einer vormodernen in eine moderne Welt dabei hilft, ihre Identität neu zu bestimmen: Manche alten Elemente, etwa des Animismus, werden in die (z.B. in ihrer Nutzung von Technik und Kommunikationsmitteln oder Offenheit für Bildung und sozialen Aufstieg) westlich-modern geprägten, dogmatisch nicht festgelegten Theologie und Spiritualität integriert, etwa im Heilungs- und Befreiungsdienst mancher Prediger und Gemeinden. Sein Fazit:

In vielen afrikanischen Ländern fungiert das pfingstliche Christentum so als „Brücke zwischen zwei Welten“, indem es lokale religiöse Vorstellungen integriert und es damit kompatible macht zu den „sogenannten primitiven Religionen, die charakterisiert sind durch Animismus, Geistbesessenheit, Vergöttlichung, Schamanismus und Prophetie“, sich jedoch gleichzeitig von der alten, vermeintlich überholten Symbolwelt distanziert, indem „Ahnen, Geister, Fetische, Zauberei, Jujus und andere Große Götter von nun allesamt an mit dem Werk des Teufels gleichgesetzt werden“. Um diesen Teilverlust im Vergleich zur bisherigen Plausibilitätsstruktur zu kompensieren, wird auf der anderen Seite das Tor zu Neuem geöffnet: Zum einen ist dies eine neue religiöse, dezidiert christliche Plausibilitätsstruktur, zum anderen die Befähigung zur Partizipation an der […] neuen Lebensrealität, die geprägt scheint durch einen westlichen Lebensstil (S. 63)

Kaum jemand, den ich kenne, will nun einer plumpen, unkritschen Kontextualisierung des Evangeliums im 21. Jahrhundert das Wort reden und die Fehler der liberalen Theologie oder des Kulturprotestantismus wiederholen. Nur kann man beim Thema „Zeitgeist“ eben auch den gegenteiligen Fehler machen. In der Spät- und Postmoderne sind die meisten Kirchen noch gar nicht angekommen. Es gibt noch keine „funktionierenden Modelle“, die „reproduzierbar“ wären, und es ist noch nicht einmal sicher, dass sie in dem Maße, wir wir das kannten, wieder existieren werden.

Dass das Christentum dort wächst und hier nicht, ist nämlich beides dem Zeitgeist geschuldet. Die Aufgaben, die es hier zu lösen gilt, bekommen wir nicht in den Griff, indem wir versuchen, diese Erfolgsgeschichten zu imitieren. Das ist der Fehler an der konservativen Rolle rückwärts. Auch dieses Denkmuster der Verweigerung ist übrigens keineswegs typisch christlich – es blüht überall da, wo die Angst vor dem sozialen und gesellschaftlichen Abstieg die Runde macht.

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Neue Wege

Der folgende Text ist bald 100 Jahre alt und stammt aus dem Subskriptionsprospekt des Almanachs „Der Blaue Reiter“. Franz Marc formuliert das Selbstverständnis der Herausgeber, und ich glaube, das muss man gar nicht groß kommentieren, es spricht auch ein Jahrhundert später für sich selbst:

Die Kunst geht heute Wege, von denen unsere Väter sich nichts träumen ließen; man steht vor den neuen Werken wie im Traum und hört die apokalyptischen Reiter in den Lüften; man fühlt eine künstlerische Spannung über ganz Europa, – überall winken neue Künstler sich zu: ein Blick, ein Händedruck genügt, um sich zu verstehen! Wir wissen, daß die Grundideen von dem, was heute gefühlt und geschaffen wird, schon vor uns bestanden haben und weisen mit Betonung darauf hin, daß sie in ihrem Wesen nicht neu sind; aber die Tatsache, daß neue Formen heute an allen Enden Europas hervorsprießen wie eine schöne, ungeahnte Saat, das muß verkündet werden und auf all die Stellen muß hingewiesen werden, wo Neues entsteht.

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Missionaler Lebensstil?

Ich habe am Samstag mit den Younger Leaders im sonnigen Volkenroda über Missionale Gemeinde nachgedacht. Im Verlauf der Diskussion fiel auch immer wieder einmal der Begriff „missionaler Lebensstil“. Und mir fiel auf, dass sich immer immer etwas sträubt bei dieser Kombination.

Vielleicht liegt mein Widerwille daran, dass es so nach lifestyle klingt, also eine weitgehend ästhetisch motivierte Art, sich einzurichten (da gibt es „lifestyle-Kombis“ in den Autohäusern, der Kofferraumvolumen in Golftaschen statt Kinderwägen gemessen wird…), eine Selbstinszenierung durch bestimmte Konsumprodukte (dazu gehört auch so etwas wie Extremsport, für den man umfassend ausgestattet wird), durch die man die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen signalisiert.

Klar gibt es auch eine konsumkritischen nachhaltigen Lebensstil oder einen solidarischen – und freilich kann auch der zur oberflächlichen Dekoration werden, weil man „in“ sein will. Vielleicht ist es also noch mehr der Ansatz beim Individuum, der mir nicht behagt. Das erste, was wir den Messias Jesus tun sehen, ist, dass er Menschen um sich sammelt. Und diese missionale Gemeinschaft (nicht den einzelnen!) bezeichnet er als die „Stadt auf dem Berg“ – eine unverhohlene Anspielung auf Jerusalem und den Tempel, den Ort also, wo Himmel und Erde sich berühren.

Vielleicht sollten wir also weiter konsequent von missionaler Gemeinde sprechen, um deutlich zu machen, dass es keine individualisierte Variante davon geben kann. Und je mehr der Begriff in Mode kommt und plötzlich jeder irgendwie „missional“ sein will, indem man diese oder jene Äußerlichkeit imitiert, ohne die Haltungen – und ja, auch die Theologie – dahinter auch nur in Ansätzen verstanden zu haben, desto besser ist es, wenn sich das nicht als ein Stilwechsel in der persönlichen Innenarchitektur hinstellen lässt.

Zurück zu den Younger Leaders: Wir haben dann auch im Wesentlichen über Gemeinde gesprochen. Ob „alte“ Gemeinden neue Wege noch lernen können, wie neue Gemeinden aussehen könnten, warum wir in aller theologischen Ausbildung so selten gelernt haben, missional zu denken, warum die großen Vordenker von Moltmann, Boff oder Sobrino über Newbigin und Bosch so lange warten mussten und müssen, bis das Gros der Kirchen und Gemeinden ihre Entdeckungen praktisch umsetzt. Es war die leidenschaftlichste Diskussion, die ich seit langem erlebt habe.

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Hochleistungschristen

In der katholischen Kirche wird – mal wieder – über den Zölibat diskutiert, den Pflichtzölibat für Priester freilich, nicht den „freiwilligen“ der Ordensleute. Nun antwortet Kardinal Meisner aus Köln (danke an Simon de Vries für den Tipp!) den Kritikern und macht unmissverständlich deutlich, dass daran nicht zu rütteln ist, weil es hier um die Identität der katholischen Kirche, im Grunde aber des ganzen Christentums geht. Überraschen wird das niemanden. Interessant dagegen ist, wer da wie argumentiert. Wir finden etwa gegen Ende des Textes das Alles-oder-nichts-Argument:

Vergessen wir nicht: Ohne Priester keine Eucharistie, und ohne Eucharistie keine Kirche.

Ins gleich Horn stößt Matthias Matussek im Spiegel, der jedes Rütteln am Zölibat mit der „Abrissbirne“ gleichsetzt. In beiden Fällen kann das als Reduktion von Kirche auf die Hierarchie verstanden werden, die das Volk aus dem Blick verliert oder zu Statisten und Zuschauern degradiert. Und ein klitzekleines bisschen erinnert es an den einen oder anderen Despoten, der sich als letztes Bollwerk gegen das Chaos der Anarchie zu inszenieren versucht.

Kein Wort verlieren beide darüber, dass die Kirche bis 1139 auch ohne den verpflichtenden Zölibat aller Priester auch ganz ordentlich lebte. Viel spannender ist aber das Einstiegsargument Meisners, das ebenfalls eine steile Alternative aufmacht, die ihrerseits (um das Unwort des Jahres zu bemühen) für alternativlos erklärt wird:

Vor dem Zölibat gibt es nur eine Alternative: Entweder es gibt Gott, oder der zölibatär lebende Mensch ist verrückt. Eine andere Alternative gibt es nicht!

Nun gibt es nachweislich Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen allein oder enthaltsam leben und weder katholisch noch verrückt sind. Zudem kann durchaus auch beides zutreffen, es gibt ja leider eine große Bandbreite an religiösen Neurosen – also gilt keineswegs ein so klares Entweder/Oder. Aber wenn der unverheiratete Priester zum lebenden Gottesbeweis stilisiert wird, ist er damit nicht zum „Erfolg“ dieser Lebensform verdammt, weil ein Scheitern auch ein Verrat an Gott wäre? Matussek wählt etwas andere Worte und sieht im kirchlich geregelten Zölibat einen Gegenentwurf zur bürgerlichen Existenz:

Der zölibatäre Priester lebt im Angesicht des Heiligen. Er ist nicht der Kumpel, den man in der Kneipe trifft. Er ist die auratische Respektsperson, der man aus einer Andachtsdistanz heraus begegnet. Wollen wir das aufgeben für die ganz gewöhnlichen Klarsichtfolien-Betriebsnudeln, denen man in Bundestagsausschüssen oder auf Kirche-von-unten-Flohmärkten begegnen kann?

Ich kann verstehen, dass immer weniger Menschen diesen Heldenmut in sich entdecken, der einen die Einsamkeit des Säulenheiligen (oder Krimi-Kommissars) wählen lässt, des Spitzenasketen, an dem andere sich orientieren sollen und der einzig bei immer weniger und immer überlasteteren Kollegen Schwäche zeigen darf. Und scheitern nicht auch viele Leistungssportler an dem Erwartungsdruck, ständig Höchstleistungen produzieren zu müssen?

Aber warum sollte Heiraten nicht mindestens ebenso subversiv sein – oder noch subversiver? Zygmunt Bauman etwa sprach jüngst davon, dass das Konsumdenken längst auch zwischenmenschliche Beziehungen dominiert:

Es gibt keinen Grund, einem Produkt gegenüber loyal zu sein, wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt und vielversprechendere Alternativen vorhanden sind. Da alle oder zumindest fast alle Mitglieder in unserer Gesellschaft von Konsumenten dieses Muster akzeptieren, ist es kein Wunder, dass wir auch selbst von den anderen gemäß diesem Muster behandelt werden … Wir wollen selbst nachgefragt werden und damit begehrenswert für andere sein. Darum müssen wir uns ständig in möglichst attraktiver Form präsentieren. Der Mensch verwandelt sich in eine Ware.

Matusseks (und Meisners) Beschreibung des Heiligen wirkt auch deshalb befremdlich, weil sie letztlich vielleicht doch einer zwar religiösen, aber nicht genuin christlichen Logik folgt, wie der Priester und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt in der SZ erläutert:

Die Forderung der Ehelosigkeit für alle Altardiener kommt von woanders her, aus dem Feld der kultischen Reinheit. Diese besagt: Heiliges darf nur „rein“ berührt werden. Als Inbegriff dafür stehen die „reinen Hände“. Unreinheit zieht man sich zu durch das Essen bestimmter Nahrungssorten, durch Berühren von Toten, besonders aber durch Beflecktwerden mit Sexualstoffen, mit Mannessamen sowie Menstruations- und Geburtsblut. Wir begegnen hier einem weltweiten Religionsphänomen, anzutreffen genauso in Japan wie in China, in Griechenland wie in Rom, insbesondere in Israel.

Jesus hat dieses Reinheitsverständnis überwunden und die ersten Christen hatten mehrheitlich verheiratete Amtsträger, die Spätantike brachte das „Alte“ aber zurück. Das zweite Laterankonzil begründet das Verbot der Ehe bei Priestern mit dem Hinweis, es sei „unwürdig, dass sie sich geschlechtlichen Ausschweifungen und Unreinheiten hingeben“, schreibt Angenendt. Laien durften mit der Zeit bei der Kommunion die Hostie nicht mehr in die unreine Hand bekommen, sondern vom Priester direkt in den Mund. Er folgert:

Wer indes noch grundsätzlich darauf besteht, Priestertum sei nur zölibatär möglich wie auch die Mundkommunion die einzig mögliche Empfangsform, leugnet die religionsgeschichtliche Revolution Jesu Christi.

Als ich diesen Satz gelesen hatte, habe ich Matusseks Text noch einmal durchgesehen – von Jesus ist da ehrlicherweise gar nicht die Rede. Und Meisner nennt Jesus zwar als Vorbild zölibatären Lebens, schweigt aber zu Jesu Kritik an „Menschensatzungen“, damaligen (und heutigen!) Vorstellungen von ritueller Reinheit und einem hierarchischen Verständnis von Kirche in Sinne einer Heiligkeitspyramide, an deren Spitze unverheiratete Männer stehen müssen.

Was beide auch nicht thematisieren, ist die unübersehbare Kluft, die sich derzeit zwischen Hierarchie und Kirchenvolk auftut – weniger die Kirchenaustritte, sondern eher die verbreitete Resignation an der Basis. Die hat auch damit zu tun, dass zwar von offizieller Seite hohe Ideale propagiert werden, während man zugleich verschweigt oder gar vertuscht, dass viele Priester daran scheitern – nicht nur in Afrika. Klar kann man das damit abtun, dass hier jemand sich eben in seiner Berufung geirrt hat oder dass die Kritik am Zölibat, mangelnde Achtung vor dem Amt beziehungsweise die Sexualisierung der Gesellschaft daran schuld seien.

Angenendt argumentiert anders als seine Kontrahenten. Sachlicher und biblischer – während Matussek polemisiert und Meisner verklärt. Aber da die katholische Kirche den Priestermangel ja nun mit iPhone Apps zur automatisierten Beichte kompensiert, kann man sich das vielleicht auch leisten. Vielleicht aber auch nicht, schließlich sind in den letzten Jahrzehnten schon etliche starre Systeme ins Straucheln geraten, wie Walter Färber hier so schön dargestellt hat. Meisner suggeriert, das Unbehagen mit dem Zölibat sei eigentlich in der Furcht begründet, dass Gott einem zu nahe kommen könnte. Das könnte sein. Könnte aber auch gut sein, dass die Furcht vor Reformen, vor einem Ende der Hierarchie in ihrer gegenwärtigen Form, genau dieselben Ursachen hat…

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Gemeinde 2.0: Die Reise zu den Pinguinen

Es hat sich offenbar noch nicht überall herumgesprochen, dass im März eine wirklich interessante Konferenz in Stuttgart stattfindet: Gemeinde 2.0. Den ausführlichen Flyer kann man hier lesen. Neben einigen Bekannten aus der deutschen Szene sind die anglikanischen Bischöfe Graham Cray und Steven Croft mit dabei, die über fresh expressions of church reden (dass die zwei Pinguine auf dem Titelbild eine Anspielung auf Bischöfe sind, ist natürlich Quatsch…).

Ich selbst bin mit einem kleinen Workshop auch Teil der bunten Palette, hier der Text dazu:

FairZweifeln
Der Pluralismus von Religionen und Lebenskonzepten nimmt stetig zu und führt zu wachsenden Spannungen. Zweifel von innen und radikale Anfragen von außen stellen unseren Glauben auf die Probe. Manche alte Formeln klingen auch für uns hohl, Dogmatismus mit seinen Denkverboten verursacht Streit. Wie finden Jesus-Nachfolger als exotische Minderheit ein überzeugendes Profil?

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Online-Anmeldungen sind hier möglich. Bis 25.1. ist es noch günstiger!

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Von den Papuas lernen

Nächste Woche treffen sich die deutschen Delegierten des Lausanne III Kongresses in Berlin. Jeder war gebeten worden, einen Aspekt des Kongresses schriftlich zu beleuchten. Ich habe ja schon einiges dazu geschrieben, unten steht mein Beitrag zur Diskussion nächste Woche. Ich blättere gerade die anderen Statements durch, mit etwas gemischten Gefühlen. Es ist ein großer Kongress gewesen und die Biografien sind sehr verschieden, da hört natürlich jeder andere Dinge und das macht es einerseits spannend. Andererseits hätte man für Vorsätze wie „das Gebet wieder ernster nehmen“ nicht unbedingt nach Kapstadt fliegen müssen, da hätte auch das Exerzitienhaus um die Ecke gereicht. Keine leichte Aufgabe für die Tagungsleitung, das zu sammeln, zu bündeln und auch noch irgendwie griffig zuzuspitzen.

Unter den vielen eindrücklichen Erlebnissen des Kongresses haben sich mit ein paar Wochen Abstand ein paar Irritationen gelegt. Mit wachsendem Abstand beschäftigt mich im Blick auf unsere deutsche Situation die Frage der Ganzheitlichkeit des Missionsverständnisses. Bei ihrem abendlichen Auftritt haben René Padilla und Samuel Escobar den Dreiklang Discipleship, Justice und Ecology genannt. Vertieft wurde der letzte Begriff aus dieser Reihe in einem hochkarätig besetzten Multiplex unter der Leitung von Ken Gnanakan mit dem Titel „The Environmental Crisis“.

Inhaltlich wurde uns nichts Neues geboten, das Neue war die Klarheit, in der hier Evangelikale Position beziehen. Sir John Houghton, früher Vizepräsident des Weltklimarates, stellte die Forschungsergebnisse kurz vor und wies alle Verschwörungstheorien (die unter Evangelikalen in Nordamerika, aber auch hierzulande durchaus populär sind) deutlich zurück. Die Folgekosten des Kimawandels treffen vor allem die armen Länder der Erde, während die Hauptverursacher in den reichen Ländern zu suchen sind – auch in Westeuropa.

Für Houghton sind die Fakten klar, aber wenn es um die Frage geht, wie aus dem Wissen nun die nötigen Konsequenzen für einen nachhaltigen Lebensstil gezogen werden, dann sieht er vor allem die Christen am Zug. Ergänzt wurde Houghton von Denise Thompson, die als Professorin in Trinidad & Tobago ihren Studenten Klimabewusstsein beibringt, und von David Kidma, dem Vorsitzenden der Evangelischen Allianz in Papua Neuguinea. Kidma beschreibt ebenfalls einige beispielhafte Projekte, vor allem ein Handbuch, das jüngst veröffentlicht wurde, und das biblische Theologie und das ganzheitliche Denken und Lebensgefühl der Papuas integriert.

Für unsere Situation in Deutschland finde ich den Impuls hilfreich und bedenkenswert. So wie wir merken, dass Evangelisation und Diakonie nicht – auch nicht im Sinne einer stillschweigenden „Arbeitsteilung“ – in einem bloßen Nebeneinander existieren dürfen, so gehören auch Fragen der Gerechtigkeit und des Umweltschutzes (wir sprechen ja zu Recht inzwischen von „Klimagerechtigkeit“) integral zum Auftrag der Christen dazu.

Die Micha-Initiative ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Noch etwas weiter gedacht wirft das aber auch die Frage auf, ob die derzeitige Selbstbezeichnung der Lausanner Bewegung in Deutschland als „Koalition für Evangelisation“ so glücklich gewesen ist, und ob nicht bewusst der Schulterschluss mit kirchlichen (und nichtkirchlichen) Organisationen und Netzwerken gesucht werden kann, die sich praktisch und konkret für Nachhaltigkeit einsetzen.

Und es stellt sich natürlich die Frage, welche geistige und theologische Arbeit dafür in unseren eigenen Reihen leisten wäre. Denn fromme Klimaskeptiker, mit allem, was an kruden Verschwörungstheorien dazugehört, gibt es leider zuhauf.

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Die (Post)Modernität umarmen

Benedikt XVI. ist immer für Überraschungen aller Art gut. In einem Artikel des Feuilleton der FAZ über das neue Interviewbuch von Peter Seewald und dem Pontifex findet sich dieses Zitat zur Moderne, vielleicht demnächst ja auch zur kritisch beargwöhnten Postmoderne, falls der Papst das hier nicht auch schon mit gemeint hat. Es ist seine Version des Stichworts „Kontextualisierung“ und eine Mahnung an die Traditionalisten in den eigenen Reihen:

Das Christliche darf nicht zu einer archaischen Schicht werden, die ich irgendwie festhalte und gewissermaßen neben der Modernität lebe. Es ist etwas seltsam Lebendiges, etwas Modernes, das meine gesamte Modernität durchformt und gestaltet – und sie insofern regelrecht umarmt.

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Der Gott der Migranten

Ich werde heute abend meiner Gemeinde vom Kongress in Kapstadt berichten. Bei der Vorbereitung habe ich dieses Video von Raineer Chu wieder angesehen. Ich hatte es schon einmal kurz erwähnt, aber der Mann war eine der Entdeckungen des Kongresses für mich, daher hier sein Beitrag noch einmal für alle, die sich für die Zukunft des Christentums und die Zukunft der Städte interessieren.

„Gott ist der Gott der Migranten“, sagt im Blick auf die westlichen Metropolen, und er fordert die Hörer dazu auf, die Bibel „von unten“ zu lesen und die Welt „von unten“ zu sehen. Und er beklagt die Tragik der Pyramiden-Bauer, die große Organisation, Budgets und Gebäude hinstellen (die hier und da sicher nötig und nützlich sind), aber problematische Erfolgsdefinitionen schufen.

Bevor ich jetzt alles hier mühsam reintippe, einfach auf das Video klicken und gut zuhören:

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Kapstadt-Rückblick (2): Armes, altes Europa?

Ich sitze im Flieger nach Johannesburg und komme noch einmal zurück auf das Verhältnis von Afrikanern und Europäern. Nach allem, was der Kongress in Kapstadt zur Lage in Europa gebracht hat, wurden manche Europäer von den andern Delegierten schon bedauert und (das war die größere Anfechtung) als Auslaufmodelle abgeschrieben. Ein Grund waren die einseitigen Plenumsbeiträge, etwa wenn Os Guinness etwas pauschal vom „traurigen Schicksal der liberalen Theologie in Deutschland“ sprach – als würden andere Gattungen des Christentums hier oder irgendwo in Europa wie verrückt boomen…

Zweitens sind die Europäer viel zurückhaltender als alle anderen, wenn es um optimistische Prognosen oder gutaussehende Statistiken geht. Die tollen Zahlen haben die anderen. Aber eben auch Probleme wie verbreitete Korruption, Machtmissbrauch und autoritäre Führer, ungelöste ethnische Konflikte oder hin und wieder Kungeleien mit zwielichtigen Regimes.

Europäer haben aus der Geschichte gelernt und meiden peinlichst jede Form von Kolonialismus – die meisten jedenfalls. Dass sie hier so selbstkritisch und – im Fall von Michael Herbst oder Elke Werner – ausgesprochen bescheiden auftraten, wird in anderen Kulturen, denen leise Töne tendenziell eher fremd sind, vielleicht auch missverstanden. Manche jungen Kirchen machen bekannte Fehler jetzt auch deshalb nach, weil sie es sich gar nicht vorstellen können, dass ihnen vielleicht eines nicht allzu fernen Tages ähnliche Gefahren drohen wie den Kirchen der alten Welt.

Wir haben uns in den letzten Tagen ab und zu gefragt, mit was für einem Bild von Deutschland und Europa unsere afrikanischen und asiatischen Mitchristen nun abgereist sind und wie sich das zukünftig auswirkt. Es gibt seit einer Weile den Begriff reverse missions, der beschreibt, dass Missionare diese jungen Kirchen in der Regel auf den Spuren ihrer Auswanderer nun in westliche Länder kommen und dort nicht nur ethnische Gemeinden gründen, sondern auch einzelne Deutsche zum Glauben führen. Damit verbinden sich viele Fragen, nicht zuletzt die nach der Identität solchen Gemeinden in der zweiten und dritten Generation, wenn der Kontakt zur Heimatkultur nachlässt und vielleicht nur ein Elternteil Migrant ist.

Vielleicht aber wird in Zukunft noch eine andere Bewegung einsetzen. Die meisten Menschen finden heute dort zum Glauben, wo sie aus einer vormodernen Gesellschaft in eine moderne übergehen. Heinzpeter Hempelmann spricht von einer „modernen Formatierung“ unserer Kirchen, doch das scheint nicht nur für Deutschland zu gelten. Am Übergang von der Moderne zur Postmoderne dagegen sieht es für die Kirchen nicht rosig aus. Im Zuge der Globalisierung bilden sich in den urbanen Zentren auch in Afrika und Asien vielfältigere Denk- und Lebensgewohnheiten aus. Netzwerke wie Amahoro tauschen sich schon über deren Fragestellungen aus, und Studiengänge wie Global Missional Leadership am George Fox Seminary greifen die neue Vielfalt auf. Ich bin gespannt, wie deren Fazit zu Lausanne III ausfällt, sie waren dort ja auch vertreten.

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Kapstadt-Rückblick: Theologie

Mit einigen Tagen Abstand beschäftigen mich die Diskrepanzen des Kongresses. Ich bin einer großen Vielfalt von TeilnehmerInnen, Themen und Projekten begegnet. Das war ungemein bereichernd und beeindruckend. Es spielte sich aber im Wesentlichen in den Pausengesprächen und den kleineren Einheiten (Multiplexe und Dialog-Sessions) an den Nachmittagen ab.

Im Plenum wurde versucht, die Einheit zu betonen und dabei explizit zu machen, dass es eine theologisch begründete Einheit ist. Das hat zu einer gewissen theologischen Stagnation geführt. Die hat auch ihr Gutes, etwa in der geschlossenen Abwehr des „Wohlstandsevangeliums“ in jeder Form. Aber man fragte gar nicht erst, ob an anderer Stelle nicht doch theologische Innovation nötig wäre. Vielleicht beruht diese Entscheidung auf einer realistischen Einschätzung: vielleicht ist der Zusammenhalt so brüchig, vielleicht ist auch niemand da, der mit einem mutigen, neuen Entwurf den Kongress inspiriert.

Vielleicht war es aber auch Ängstlichkeit. Paradigmenwechsel, egal in welcher Zunft, verlaufen nie geräuschlos. Und man bekam die taktischen und politischen Manöver im Vorfeld und hinter den Kulissen ja verschiedentlich mit. Es gäbe ja eine Menge spannender Fragen und etliche interessanter Neuansätze. Sie sind naturgemäß umstritten. Aber vielleicht hätten ein paar experimentierfreudige Querdenker dem Kongress auch theologisch gut getan. Es hat fast den Anschein, als hätte sich seit Manila 1989 nicht viel bewegt. Wer konservativ denkt, wird in jeder Neuerung einen Abfall sehen und nur in deren restaurativer Rücknahme etwas Gutes erkennen, aber wer kontextuell denkt, weiß auch, dass in einer veränderten Welt die Verfälschung genau dadurch entstehen kann, dass man zu lange an manchen konventionellen Formen festhält.

Die gute Nachricht im Blick auf Lausanne ist: Die Praktiker sind längst dabei, ausgetretene Pfade zu verlassen, und zum Teil machen sie ganz hervorragende Arbeit. Die nachdenkliche Frage an Lausanne ist, warum man sich das theologisch nicht leisten zu können glaubt, und ob sich dieses Versäumnis nicht irgendwann einmal rächt. Das langatmig-orthodoxe und im Vergleich zum Kongressverlauf auch etwas fade offizielle Schlussdokument spiegelt leider nur nur diese Seite des Kongresses wider. Sein Name kam nur in der Polemik der Kollegen aus dem Süden vor, aber ich hätte mir einen Rowan Williams gewünscht – der hätte drei seiner Landsleute ersetzen können. Oder Miroslav Volf über Versöhnung und ethnische Konflikte. Oder jemanden, der mit dem Begriff „postmodern“ noch etwas anderes zu verbinden weiß als nur das Gespenst des hemmungslosen Relativismus.

Die offizielle Kongresstheologie war ausgesprochen modernistisch, sie erging sich überwiegend in Propositionen. Dagegen lese ich eben in Alan Roxburghs Introducing The Missional Church von einem Begriff, den ich in Kapstadt hin und wieder vermisst habe:

Das Reich Gottes wird in Metaphern … und Bildern erklärt. Es ist unmöglich, alle Bilder in einer rationalen Definition für ein Lexikon unterzubringen. Man kann diese Beschreibungen nicht kodifizieren und in eine nette Schublade stecken. Jesu Worte zeigen, sie öffnen und deuten viel mehr an, als sie definieren.

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Wenn die Saat des Hasses aufgeht…

Heute erschien eine alarmierende Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur wachsenden Islam- und Fremdenfeindlichkeit der Deutschen. Zehn Prozent, darunter auch Gewerkschaftler und Kirchgänger, haben rechtsextreme Einstellungen und träumen vom „Führer mit harter Hand“. Tendenz: rasant steigend! Ist das nur linke Propaganda? Ich fürchte, nein.

Zeitgleich lese ich gerade diesen Bericht über die Rolle der Christen im Völkermord von Ruanda. Er beschreibt für die Lausanne Global Conversation nächste Woche in Kapstadt, wie es in den neunziger Jahren zu der Katastrophe kommen konnte, die rund eine Million Opfer forderte – und das im Musterland aller Afrika-Missionare! Die Gründe sind

  • ein verkürztes Evangelium, das die sozialen Verhältnisse ignorierte und damit zementierte
  • ein theoretischer Glaube, der das Alltagsleben nicht berührte
  • ein Kungeln der Kirchenfürsten mit den Machthabern (kolonial und postkolonial) statt prophetisch-kritischer Distanz, die Fehler aufdeckt und benennt.

Vielleicht sollten wir auch gleich die Lösungsvorschläge einprägen, die uns Antoine Rutayisire aus Kigali aus 16 Jahren Erfahrung nennt – sie drehen sich um die Wiederentdeckung des Evangeliums von der Versöhnung: Er bezeichnet jeder Form von Entfremdung (nicht nur unter Christen) als sündhaft und daher nicht hinnehmbar. Heilung wird möglich in der Identifikation mit Christus, dem leidenden Gottesknecht aus Jesaja 53. Damit werden – richtig verstanden – auch alte, konfliktträchtige Identitäten aufgehoben. Versöhnung wird zum Auftrag mit universaler Reichweite.

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