Ganz schön verschieden: Was christliche Identität alles aushält

(Blogfassung der Evangelischen Morgenfeier auf Bayern 1 vom 22.09.2024)

Erinnern Sie sich noch an die Eröffnung der Olympiade in Paris? Ich weiß noch genau, wie ich mittendrin die Übertragung einschalte und mir schon nach ein paar Minuten schwindlig wird von all den Szenen, die am Bildschirm vorbeiziehen. Gut erinnern kann ich mich an eine singende blaue, nicht so furchtbar appetitliche Gestalt, die auf einem Teller liegt, der sich wiederum auf einer Art Laufsteg befindet, an dem ein schrilles Publikum sitzt. Mir schießt durch den Kopf: Da hat sich die queere Community von Paris versammelt, um den sittenstrengen Despoten in Moskau oder Teheran eine lange Nase zu drehen! Aber das ist auch gleich wieder vergessen, weil es sofort weitergeht mit Akrobatik, Tanz, Kostümen und rätselhaften Symbolen.

Gott und seine streitbaren Verteidiger

Am nächsten Tag falle ich aus allen Wolken. Da schreibt ein frommer Freund auf Facebook, die Urheber des olympischen Spektakels hätten das christliche Abendmahl verspottet, sie hätten Jesus mit Dionysos, dem griechischen Gott der Fruchtbarkeit und Gelage, vertauscht, und die heiligen Apostel mit Transvestiten. Zwei Bildschnipsel dienen als Beweis. Der eine zeigt das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci – der lange Tisch, alle mit dem Gesicht zum Betrachter, und Jesus genau in der Mitte. Das andere ist einen Bildausschnitt aus der Eröffnung. Man kann, wenn man will, eine grobe Ähnlichkeit behaupten. 

Die Kulturszene zieht das, was uns heilig ist, in den Schmutz, kommentiert mein Freund sinngemäß. Und fügt ein bisschen säuerlich hinzu: Sie haben uns ja noch nie gemocht und die widerspenstige Welt hat nie aufgehört, Gott abzulehnen. 

Huiuiui – was ist denn da los?

„Hast Du das gelesen?“ sage ich und zeige den Post meiner Frau. „Wir haben das doch zusammen angeschaut. Hättest du das so aufgefasst wie unser Freund?“ „Nein, sagt sie. Komisch – ich weiß auch nicht, was er hat.“

Wenige Stunden später läuft das halbe Internet Amok wegen der vermeintlichen Gotteslästerung. Katholische Bischöfe, fromme Influencer und die Krawallpresse reden und schreiben sich in Rage. Alle trampeln auf uns Christen herum, klagen die einen. Bei den Muslimen hätten sie sich das nicht getraut, tönen andere verschnupft, aber mit uns kann man’s ja machen. Viele, denen es gerade zu bunt wird, haben die Szene aus Paris gar nicht selbst gesehen. Sie kennen nur den einen Bildschnipsel, der dem Da-Vinci-Abendmahl ähneln soll. So verbreiten sie ein bereits fertiges negatives Urteil ungeprüft weiter. 

Die angegriffenen Künstler erklären glaubhaft, dass sie keineswegs gegen die Kirchen stänkern wollten. Und selbst wenn, sagen andere – eine Anspielung auf ein religiöses Kunstwerk wäre doch noch lange keine Gotteslästerung. Da Vincis Bild kursiert längst in hunderten von Abwandlungen aller Art. Kein Grund, sich aufzuregen.

 „Wer mich beleidigt, entscheide immer noch ich.“ Das hat mein Freund Michael mal gesagt.  Das ist wunderbar selbstbewusst – und ich frage mich: Warum nur entscheiden sich einige Christen dafür, beleidigt zu sein? Warum interpretierten sie Szenen, die man auch ganz anders deuten könnte, so bereitwillig als Angriff auf Gott und ihr Christsein?

Was tun mit all den Unterschieden?

Was ist eigentlich christliche Identität? Woran macht sie sich fest und wie verhält sie sich zu all den anderen Identitäten, in die Menschen hineingeboren werden oder die sie sich aussuchen – kulturellen, geschlechtlichen und sozialen? Selten wird das so klar beschrieben wie in diesen Worten des Paulus an die Christen in Galatien:

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. 

Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.

Galater 3,25-28

Nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen. Wie meint Paulus das? Tun wir jetzt einfach alle so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen Menschen mehr? Alle gleich? So einfach?

Mir fällt die Geschichte von einem Schulbusfahrer in den Südstaaten der USA ein. Als vor vielen Jahren die Rassentrennung dort endlich aufgehoben wurde und alle ihren Sitzplatz unabhängig von der Hautfarbe wählen durften, sagt sein Chef zu ihm: „Ab heute sind die Kinder für dich nicht mehr schwarz oder weiß, sondern alle sind grün.“ Am nächsten Morgen kommen die Kinder wie immer und hören an der Bushaltestelle: „Die Hellgrünen steigen vorne ein, die Dunkelgrünen hinten.“  

Es ist nicht so einfach. Rassismus sitzt eben tief und verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Außerdem hat die Anweisung des Chefs ein paar Denkfehler: Sie lenkt den Blick immer noch auf Farben. Das Grün ist nur eine gedachte Gemeinsamkeit, keine sichtbare, keine echte. Und so sieht der Busfahrer durch seine grüne Brille eben doch wieder die alten Gegensätze. Dabei haben die Schulkinder so viel gemeinsam: Sie sind klein und verletzlich, sie sitzen selten still, sie sind neugierig, und sie wollen alle in die Schule fahren. Die Hautfarbe ist ein ganz und gar unwesentlicher Unterschied. Es fragt ja auch niemand beim Einsteigen, welches Kind gut singen kann oder ob es Koriander im Essen mag.

Zurück zu Paulus. Der weiß das auch: Gott liebt alle Menschen – die traditionsbewussten Juden seiner Zeit und die neugierig-erfinderischen Griechen, die sozial Privilegierten und die Prekären, die mit dem X-Chromosom und die mit dem Y. Und die Reihe ließe sich jetzt noch lange fortsetzen, weil Paulus nur mal drei bekannte Unterschiede herausgreift, an denen sich Menschen immer wieder abarbeiten. Bei Mann oder Frau können wir heute mit homo oder hetero, cis oder trans weitermachen. Statt Juden und Griechen Israelis und Palästinenser sagen oder Ukrainer und Russen, ja sogar Franken und Altbayern oder Einheimische und Zugereiste.

Jeder Mensch, unabhängig von Kultur, Status und Geschlecht, ist ein lebendiges Ebenbild Gottes und repräsentiert Gott in dieser Welt. Alle, die glauben, sind Abrahams und Saras Nachkommen – biologische Kinder (also Jüdinnen und Juden) und adoptierte (wir anderen). Dieses Ziel, diese Bestimmung ist die entscheidende Gemeinsamkeit. Paulus überpinselt nicht alle Unterschiede in einheitlichem Grün. Christen sind nicht etwas Drittes, kein Grün neben Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, keine eigene Kultur zwischen allen anderen. Es gibt sie in allen Farben und Sprachen, sehr verschieden, und doch ist da etwas, das sie fest zusammenhält und zugleich Platz schafft für diese erstaunliche Unterschiedlichkeit: 

ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.

Der Jude Paulus folgt Jesus, dem Messias nach. Und begegnet dabei Griechen – Nichtjuden – die statt Messias „Christus“ sagen und ihm auch nachfolgen. Er erkennt in ihnen Schwestern und Brüder. Nun aber kann er auf Griechen nicht mehr pauschal herabschauen – als wäre das eine minderwertige Kultur oder eine problematische Herkunft. Wenn ich als christlicher Mann christliche Frauen als gleichwertig und gleichrangig anerkenne, dann gilt das selbstverständlich auch für alle anderen Frauen, weil Gott sie ja ebenso liebt; auch wenn sie es vielleicht noch nicht gemerkt und sich bewusst darauf eingelassen haben.

Uniformieren oder umkrempeln?

„Ihr alle habt Christus angezogen“. 

Damit meint Paulus die Taufe. Christus anziehen – ich stelle mir das bildlich vor wie das Trikot einer Fußballmannschaft oder wie die Schuluniformen, die soziale Unterschiede überdecken sollen. Überdecken, aber eben nicht überwinden: An den Schuhen, der Uhr, der Schultasche oder dem Fahrrad können doch wieder alle ablesen, welches Kind aus einer reichen Familie kommt und welches nicht. 

Hat der Glaube wie eine Schuluniform nur die Kraft, die Trennungen in Privilegierte und Benachteiligte äußerlich zu überdecken? Und ist der Preis dafür eine Uniformierung, die alles Individuelle unterdrückt? Oder geht es tatsächlich darum, diese Ungleichheit gründlich zu überwinden und aus den Köpfen und Herzen herauszubekommen? 

Unterschiede relativieren – das kann ein Schritt dahin sein, sie abzuschaffen.

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…“

In den ersten christlichen Gemeinden kamen tatsächlich Sklaven und Freie zusammen. Paulus bezeichnet sich selbst hin und wieder als „Sklave Christi“ und weiß, dass der Tod am Kreuz nicht nur Aufrührern (oder dem, was die Römer dafür halten) droht, sondern auch entlaufenen Sklaven. Daher fordert er einen geschwisterlichen Umgang. Klar weiß Paulus auch: Außerhalb der christlichen Bubble kauft und benutzt der wohlhabende Freie weiterhin mittellose Sklavinnen und Sklaven.

Ich möchte von einem Sklaven erzählen, bei dem sich etwas verändert. 400 Jahre nach Paulus wird er an Englands Westküste von irischen Piraten gekidnappt und mitgenommen übers Meer. Er heißt Patricius und ist noch nicht einmal richtig erwachsen. Seine Besitzer zwingen ihn, die Schafe  für sie zu hüten. Essen gibt es wenig, Kälte und Einsamkeit setzen ihm mächtig zu. Sechs Jahre lang geht das so. Er redet immer öfter mit Gott. Und irgendwann beginnt Gott, zu antworten. Eines Tages sagt er zu Padraig (so heißt er auf Irisch): Geh ans Meer, da liegt ein Schiff, das bringt dich nach Hause. 

Weglaufen ist für einen Sklaven lebensgefährlich, aber Patrick (so schreiben wir seinen Namen heute) riskiert es trotzdem. Und Gott hält Wort: Auf wundersamen Wegen gelangt er zurück nach Hause. Doch die Geschichte endet dort nicht. Im Traum erscheinen ihm immer wieder Iren und bitten ihn, zurückzukommen und ihnen von Gott zu erzählen. Patrick verabschiedet sich von seiner entsetzten Familie und wird zum Apostel Irlands. Mit seinen Begleitern zieht er durchs Land und findet Zuspruch – bei Königen und dem einfachen Volk gleichermaßen.

Der Brite Patrick wurde aus seiner Kultur einmal gewaltsam herausgerissen und dann noch einmal friedlich und freiwillig herausgerufen. Und so wie der Jude Paulus den Griechen ein Grieche sein konnte, wird Patrick den Iren ein Ire. Die Sprache kennt er ja schon. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die heidnische grüne Insel ein mehrheitlich christliches Land, und zwar auf friedlichem Weg. Der Kampf gegen den Sklavenhandel bleibt ein Lebensthema für Patrick. Und tatsächlich: Die Iren stellen diese Praxis kurz nach seinem Tod ein. Damit sind sie ihren europäischen Nachbarn um Jahrhunderte voraus.

Der Riss in Gott

Ich glaube, Patrick versteht sehr gut, was Paulus meint, wenn er schreibt: 

„Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen“ 

Er kann nachempfinden, wie das war, in die Fremde zu gehen: Wie Gott den Abraham aus seiner Heimat Ur im Zweistromland wegschickt, ohne das Ziel der Reise zu verraten. Wie Abraham zusammen mit Sara diesem Ruf folgt und sich löst aus seiner Kultur und von seiner Verwandtschaft. Es ist kein Bruch, aber eine spürbare Distanz zu den feststehenden Identitäten, die sein Leben bisher ausgemacht haben. Wie Abraham loszieht mit nichts als dem Wort eines Gottes, der selbst keine bekannte Adresse hat: Keinen Tempel, zu dem man pilgern könnte, keine Priester, die den Kontakt zu ihm vermitteln, kein Bild oder Symbol, das ihn versinnbildlicht. Alles ist ausgerichtet auf die versprochene Zukunft: Er wird viele Nachkommen haben und der Segen wird sich über die ganze Welt verbreiten. Aber noch ist Abraham, der Prototyp aller Pilger, nicht am Ziel.

Der Theologe Miroslav Volf stammt aus Kroatien und hat den Horror des Balkankriege und der „ethnischen Säuberungen“ miterlebt. Und wie schwer es war, sich dem Hass auf die anderen zu entziehen. Er hebt auch deshalb die Bedeutung dieser Distanz der Glaubenden zur eigenen Herkunft hervor. Menschen wie Abraham oder Patrick sind für ihn 

»… eine Persönlichkeit, die durch Andersartiges bereichert wird; eine Persönlichkeit, die nur deswegen ist, was sie ist, weil sich in ihr viele andere in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Die Distanz zu meiner eigenen Kultur, die daraus resultiert, dass ich aus dem Geist geboren bin, schafft in mir einen Riss, durch den andere hereinkommen können. Der Geist entriegelt die Tür meines Herzens, wenn er sagt: “Du bist nicht nur du; andere gehören auch zu dir.”«

Ich bin aus dem Geist geboren, sagt Volf. Ein neuer Anfang ist gemacht, eine neue Kraft ist am Werk, und das wirkt sich auf alle meine Beziehungen aus. Da kommen der Glaube und die Taufe noch einmal in den Blick. Die Taufe, in der sich Gott mit mir identifiziert und ich mit ihm. Denn auch Gott ist so eine „Persönlichkeit“ mit einem Riss, aus dem sein Leben und seine Liebe hervorströmt. 

So richtig sichtbar wird dieser Riss in Jesus, der mit weit offenen Armen am Kreuz hängt. Der diesen irren Schmerz auf sich nimmt, um selbst den Feinden noch zu zeigen: Auch wenn ihr mich ausschließt, ich halte euch die Tür zu Gott offen. Ihr gehört zu mir und durch mich könnt auch ihr Gottes Töchter und Söhne werden.

Es bleibt eine Lebensaufgabe, in diese Identität hineinzuwachsen, die sich anderen nicht verschließt. Diese kleine Geschichte hat mich sehr berührt. Sie zeigt, wie hartnäckig und wie überflüssig Vorurteile sein können:

Parker Palmer ist über 80 und lebt in den USA. Kürzlich war er in einer fremden Stadt unterwegs und stellt sein Auto in einem Parkhaus ab. Als er bei Sturm und Wolkenbruch zurückkommt, kann er den Wagen nicht mehr finden. Ein „Engel“ (so sagt er es) in Gestalt einer schwarzen Angestellten, der er seinen Parkschein vorzeigt, stellt fest, dass er im falschen Parkhaus ist. „Ich habe gleich Feierabend und bringe Sie zu ihrem Auto – ich weiß, wo es steht“, sagt die Frau. Die beiden machen sich zu Fuß auf den Weg. Unterwegs bemerkt sie, dass ihrem betagten Gegenüber im rauen Wetter die Puste ausgeht. Sie setzt ihn in eine Kneipe und lässt sich Schlüssel und Parkschein geben. Parker Palmer wartet. Und wartet. Der Wirt fragt, ob er gerade tatsächlich seinen Schlüssel und Parkschein hergegeben hat, und geht dann kopfschüttelnd über so viel Naivität zurück hinter seinen Tresen. Eine gefühlte Ewigkeit später fährt sein Auto vor. Parker Palmer eilt hinaus in den strömenden Regen und bedankt sich überschwänglich. Die Frau sieht ihn an und sagt: „Wissen Sie, was mir am meisten bedeutet hat? Dass Sie mir vertraut haben.“ Wäre der Regen nicht gewesen, sagt er, man hätte seine Tränen sehen können.

Es muss Schluss sein

In diesem Monat wird der Bundesrat 75 Jahre alt. Beim Festakt in Berlin hat der frühere Innenminister Gerhart Baum über die Bedeutung der Menschenwürde im Grundgesetz gesprochen. 

Gegen Ende seiner Rede kommt der wichtigste Satz: „Es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation“.

Es muss Schluss sein. Paulus hätte Baum zugestimmt, und Abraham und Patrick auch: Wir gehören nie ganz einer bestimmten Kultur an, Wir sind alle „Hybride“. Fremdes ist nicht einfach eine Störung oder Gefahr für die eigene Identität. Ganz ehrlich, manchmal bin ich mir selbst ja fremd. Wenn ich mich dann ängstlich oder beleidigt einigele in meinem Weißsein, meinem Deutschsein oder Mannsein, wird es ziemlich dunkel und einsam. Und egal, wie fromm ich es kaschiere – Gott selbst hätte ich dann mit ausgeschlossen. Wenn bei ihm Platz ist für jemand wie mich, dann ist auch Platz für alle möglichen anderen. Ich bin nicht nur ich.

Share

Pilgern mit Hindernissen

Ich komme gerade zurück von einer „Pilgerreise“ nach England und Schottland. An- und Abreise hat unsere Gruppe, um möglichst klimaschonend unterwegs zu sein*1, mit der Bahn unternommen. Dabei haben wir den ganzen Katalog der Widrigkeiten erlebt: Kaputte Weichen, verpasste Anschlüsse, verfallene Reservierungen, total überfüllte Züge (hinwärts mit Fans von Manchester City und United, rückwärts mit Fans des BVB). Buchungen für zwei Unterkünfte platzten und um ein Haar hätten wir an einem Reisetag die letzte Fähre verpasst.

Nichts für schwache Nerven!

Wir hatten aber auch wunderbar ruhige Tage mit unverschämt gutem Wetter – an Orten, wo sich Himmel und Erde schon besonders nahe sind. Und als es an die Rückreise ging, war es ganz schwer zu sagen, was davon nun eindrücklicher war: Die Highlights oder all die Hindernisse, die wir gemeinsam bewältigt haben.

Jemand hat mal gesagt: „Eine Unannehmlichkeit ist nur ein missverstandenes Abenteuer. Ein Abenteuer ist eine richtig verstandene Unannehmlichkeit“. Mir scheint, wir haben entdeckt: Bei einer Pilgerreise gehört sowas wohl einfach dazu. Jedenfalls haben wir jetzt eine Menge zu erzählen.

  1. kleiner Nachtrag: Ich finde, Pilgern lässt sich mit Flugreisen nur schwer bis gar nicht vereinbaren. Es geht ja gerade darum, nicht möglichst schnell und bequem möglichst weit zu kommen. Und darum, anderen Menschen und dem Planeten nicht zur Last zu fallen. Es gibt genug Pilgerwege und -stätten, die mit der Bahn erreichbar sind. Lassen wir es doch einfach dabei. Und wenn diese Anreise länger dauert als der Flug, kann man sich einfach entsprechend mehr Zeit dafür nehmen und es als integralen Bestandteil des Pilgerweges betrachten. ↩︎
Share

Columbas Küste

Kintyre im Westen Schottlands ist eine Ecke, an der die ganz großen Touristenströme vorbei fließen. Um so größer mein Staunen, als ich diesen Sommer entdeckte, dass es dort nicht nur prähistorische Steinkreise zu besichtigen gibt, sondern auch Spuren der frühen iroschottischen Kirchengeschichte.

Mull of Kintyre

Besonders hängen geblieben sind bei der Gelegenheit die Orte, an denen St. Columba (oder Columcille) der Gründer des Klosters von Iona genannt wird. Der südlichste davon liegt unweit des Mull of Kintyre und damit, selbst bei mittelprächtigem Wetter, in Sichtweite der irischen Küste: Keil Caves und St. Columba’s Footprints. Wenn jemand von Ulster aus übersetzt, dann ist das tatsächlich ein geeigneter Ort, um an Land zu gehen.

Ein ganzes Stück weiter nördlich, bei Ellary am Loch Caolisport, liegt St. Columba’s Cave. Auf dem Weg von Tarbert dorthin kommt man in Kilberry vorbei und kann dort ein paar alte Steinkreuze und Grabplatten mit keltischen Ornamenten besichtigen.

Die Spur führt weiter nach Norden, ins Zentrum des Königreichs Dal Riata, auf dem Burgfelsen von Dunadd. Columba stammte aus dem Adelsgeschlecht der Ui Neill, und hier regierten Verwandte. In den Ruinen der Burg findet sich wieder ein Fußabdruck. Man vermutet, dass Könige den Fuß zur Einsetzung in ihr Amt dort hineinstellten. Und von Columba ist bekannt, dass er bei Krönungszeremonien mitwirkte.

Von Dunadd aus sind es nur noch wenige Meilen zu den uralten Steinkreisen im Tal von Kilmichael. Das nahegelegene Museum lockt mit einem Coffeeshop und einer informativen Ausstellung zur wechselhaften Geschichte dieses Landstrichs. Und wenn man sich an der Mündung des malerischen Crinan Canal einschifft, dann ist Iona schon nicht mehr weit mit seiner Abbey (übrigens ab Juni 2020 wieder offen für Gäste) und den Königsgräbern.

Es war für mich ein unerwarteter Pilgerweg. Wer es gern still mag, ist hier gut aufgehoben.

Kilmartin

Share

Alltagsgebete (3): Blaulicht

Eine unregelmäßig wiederkehrende Situation in meinem Alltag ist das Geräusch des Martinshorns auf der Straße oder des Rettungshubschraubers im Anflug auf die Klinik. Eine dieser Unterbrechungen, die Anlass geben zum Gebet. Was hätten die alten Iren gesagt? Mein Stoßgebet fällt so aus:

Himmlischer Tröster und Beistand!
Blaulicht und Sirene ziehen vorüber
Rotoren schlagen gegen den Himmel.

Retter kämpfen um ein Leben,
die Zeit drängt
jeder Griff muss sitzen.

Schenke klare Köpfe,
beherztes Anpacken,
freie Bahn und Rettungsgassen.

Lass uns – Gaffer, Weggucker und Irritierte –
unsere Verwundbarkeit spüren
und sachte weitergehen.

Jemand weint.
Jemand hat Angst.
Jemand leidet Schmerzen.
Kyrie eleison.

unsplash-logowhoislimos


PS: Wer seine Kenntnisse in erster Hilfe auffrischen möchte, kann sich hier umschauen

Share

Keltische Klarstellungen

Ian Bradley war einer der ersten Autoren, der sich mit dem keltischen Christentum befasste. Viele sind ihm gefolgt (mich eingeschlossen), einige seiner Texte wurden auch ins Deutsche übersetzt. Nun zieht er eine kritische Bilanz dieser literarischen Beschäftigung, für die er selbst im Laufe der Jahre auch immer wieder Kritik abbekommen hat.

Bradley, der in St. Andrews Kulturgeschichte lehrte, fragt sich und uns: Diente das goldene Zeitalter des Christentums in Irland und später auch im Westen Britanniens vor allem als Projektionsfläche für Wünsche und Phantasien, die Christen im Schnittfeld von Kirche, Ökologie, Feminismus und Esoterik entwickelt hatten? Verklären heutige Aktualisierungen diese Zeit, so wie die Celtic Revival im Kulturbetrieb ja auch eine stark romantisierende Tendenz an den Tag legte?

Ja, sagt Bradley, all das gab und gibt es. Auch in seinen eigenen Büchern. Aber schon seit etlichen Jahren ist er um eine nüchterne und differenzierte Darstellung bemüht, und sein eben erschienenes Buch „Following the Celtic Way. A New Assessment of Celtic Christianity“ ist das Produkt dieser gründlichen Überprüfung. Wer in das Thema einsteigen will, findet hier eine Mischung aus Forschungsbericht und Materialsammlung. Nicht immer ganz flüssig zu lesen, aber akribisch und umsichtig zusammengestellt.

Große Mühe gibt Bradley sich im Mittelteil damit, alle Schlagwörter über Spiritualität und Gottesbild der Iroschotten mit meinem „P“ anfangen zu lassen. Das ist gut gemeint, aber manchmal sind mir die Begriffe darüber nicht – Achtung: „p“! – präzise oder prägnant genug ausgefallen. Große Mühe gibt er sich, zu jedem Charakteristikum, das er nennt, alte Quellentexte anzuführen und auch die Grenzen dessen zu markieren, was die Texte hergeben und was nicht. Er kritisiert andere Autoren und deren Spekulationen dabei nicht direkt, sondern stellt lediglich dezent fest, dass sich hier und da keine historischen Belege finden ließen.

Am Ende sammelt Bradley die vielen Puzzleteile des keltisch-christlichen Vermächtnisses noch einmal zusammen und klopft sie auf ihre Bedeutung für heute ab. Ich bin erleichtert: Es ist doch einiges übrig geblieben. Das hätte mich auch gewundert, denn solch originelle Errungenschaften wie der Anam  Chara (Seelenfreund und geistlicher Begleiter) oder die peregrinatio – jene Pilgerschaft, die nicht dem Besuch heiliger Stätten dient, sondern sich selbst in der Fremde verlieren und Gott finden möchte –  und natürlich die starke Rolle, die der Schöpfung in den alten irischen Texten und ihren großartigen Buchmalereien zukommt. Andere Leser würden vielleicht andere Punkte hervorheben – die Auswahl ist breit.

Ein schöner Aspekt sind die Gegensätze und Polaritäten, die hier vielleicht deutlicher als an vielen anderen Stellen der Kirchengeschichte gemeinsam auftreten. Der Abt Colman soll ein heiliges Leben so beschrieben haben (S. 65):

Glaube zusammen mit Handeln, Sehnsucht mit Beständigkeit, Ruhe mit Hingabe, Keuschheit mit Demut, Fasten mit Mäßigung, Armut mit Großzügigkeit, Schweigen mit Gespräch, Austeilen mit Gleichheit, Ausdauer ohne  Klage, Enthaltsamkeit mit Ausgesetztsein, Eifer ohne Strenge, Sanftheit mit Gerechtigkeit, Zuversicht ohne Nachlässigkeit, Furcht ohne Verzweiflung, Armut ohne Stolz, Bekenntnis ohne Ausrede, Lehren mit Üben, Fortschritt ohne Ausrutscher, Bescheidenheit gegenüber den Hochnäsigen, Ebenmaß gegenüber den Groben, Arbeit ohne Groll, Schlichtheit mit Weisheit; Demut ohne Parteilichkeit.

Man kann sich das nur dynamisch vorstellen, als Rhyhtmus, nicht als statisches Gleichgewicht und permanente Balance. Ich hatte das Spannungsmodell vor ein paar Jahren schon einmal in ein nicht ganz so komplexes Bild gepackt. Hier ist es noch einmal:

 

Share

Alltagsgebete (2): Ampelgebet

Ob als Radfahrer, Autofahrer oder Fußgänger: In Nürnberg verbringt man viel kostbare Lebenszeit an roten Ampeln. Grüne Welle ist Glückssache und die Rotphasen scheinen mir deutlich länger auszufallen als in Erlangen.

 

Tim Gouw

Warum also nicht beten? Hier kommt ein weiteres Alltagsgebet, rote Ampeln und Staus gibt es ja überall:

Ewiger Gott,
Ursprung der Zeit,
Erfinder der Gelassenheit,
Ziel aller Wege.

In mir und um mich her
staut sich die Ungeduld,
rumort der Zeitdruck,
zappelt die Eile.

Du aber lässt dich aufhalten,
lässt uns selbst dann die Vorfahrt,
wenn wir deine Wege durchkreuzen,
statt deinen Spuren zu folgen.

Hier stehe ich –
lass mich erkennen, was mich treibt;
lass mich ablegen, was mich bremst,
und gib mir den Schwung deiner Liebe,
für den Weg,
der heute noch vor mir liegt.

Amen.

Share

Espressogebet

Die keltischen Christen haben mich in den letzten Wochen wieder mal beschäftigt. In verschiedenen Kreisen habe ich davon erzählt und mich dabei selber wieder an die schönen Alltagsgebete erinnert, die von ihnen überliefert sind.

Also beschloss ich, selbst eines zu schreiben. Eines meiner Morgenrituale ist es, den Kaffee zuzubereiten. Bis der Thermoblock aufgeheizt ist, vergeht genug Zeit, um das folgende Gebet zu sprechen:

Gott des Erwachens,
Licht des neuen Tages,
Ursprung neuen Lebens:

Du gibst dem Müden Kraft
und Stärke dem Unvermögenden.

Lass mich wach werden für deine Gegenwart
empfänglich für deine Stimme
in allem, was heute meinen Weg kreuzt.

Lass mich wach bleiben für deine Gerechtigkeit
empfindsam für all das, was denen zugefügt wird,
die keine Stimme haben, und deren Worte versagen.

Lass mich unermüdlich sehen und sagen,
was die Hoffnung nährt und dem Frieden dient.

In dieser alten und müden Welt
schlägst du eine neue Seite auf
im Buch Deiner Liebe zu uns Menschen.

In dieser stickigen Atmosphäre
sende den frischen Wind deines Geistes,
der befreit und beflügelt
und das Aroma der neuen Welt verbreitet.

Durch Jesus Christus,
deinen Sohn,
unseren Herrn,

Amen.
Reflexion_2.jpg
Share

St. Patrick und die Krise Europas

Die schlichten und ausgrenzenden Antworten auf Fragen der Identität ist ein Markenzeichen der Rechtspopulisten. Michael Thumann schrieb am Tag nach dem Brexit in der Zeit:

Die Kampagnen von Donald Trump und des Chaostandems Farage/Johnson ähneln sich vor allem in der Frage: „Wer sind wir?“ und „Was wird aus uns?“ Es sind dieselben Fragen, die die Pegida-Demonstranten auf die Straßen treiben. Daraus sprechen Unsicherheit, Angst – und ein rabiater Nationalismus. Im Umkehrschluss wächst die Forderung nach Abschottung, Erlösung in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten und Gleichgeborenen. Die ganze britische Kampagne ist wie Trumps Propaganda von der Identitätsfrage vergiftet. Sie beruht auf der Lüge, dass es eine idealenglische Gesellschaft gäbe, die von Europa und Zuwanderern bedroht wäre.

Als ich mich auf den Bodenseekirchentag am letzten Wochenende vorbereitete, fiel mir auf, dass wir dort ein Musterbeispiel für eine genuin christliche Antwort auf diese Debatten finden, und zwar in der Gestalt des Heiligen Patrick, Apostel der Iren.

Seine ethnisch-nationale Identität kann man nur als „gebrochen“ bezeichnen: Er wuchs auf als romanisierter Brite, im einer von Kelten besiedelten und von Römern militärisch und kulturell beherrschten Britannien. Dann wird er von Iren verschleppt, flieht und kehrt aufgrund eines Traumes wieder zurück, diesmal als Missionar (mit meiner Mischung aus ostkirchlicher und lateinischer Tradition im Gepäck). Am Ende ist er etwas von allem und nichts in Reinform.

Und just als solcher legt er den Grundstein für eine indigene Kirche, die ihrerseits in den nächsten drei Jahrhunderten überall in Europa Klöster und Gemeinden gründet und das, was wir heute „christliches Abendland“ nennen, überhaupt erst möglich gemacht hat. Leider haben das viele vergessen, die meinen, jenes christliche Abendland retten oder verteidigen zu müssen, weil sie daraus eine Identität gezimmert haben, die wieder nur in Abgrenzung funktioniert, in der alles Gute schon da ist und durch das, was von Außen kommt, nur noch Schaden nehmen kann. Eine Logik, die so sesshaft ist, dass sie sich am liebsten einmauern möchte.

Die Nachfolger des Patrick, die bis Bregenz und Bobbio, Würzburg und Wien zogen, verkörpern die wahre Geschichte der europäischen Kultur: Sie ist eine Kultur der Begegnung, die von der Freiheit lebt, sich zu bewegen, Grenzen abzubauen, immer neue Mischungen aus Vorhandenem und Neuem zu schaffen, eine Kultur der Gastfreundschaft und des Entdeckergeistes.

Natürlich müssen die Kirchen und die einzelnen Christen Identitäre und Rechte mit ihrer vergifteten Propaganda kritisieren und ihre falschen Versprechungen als Lügen entlarven. Noch wichtiger wäre es aber, sich ein Beispiel an den Pioniermissionaren unserer Länder zu nehmen und aus Unbeweglichkeit, Mut- und Erwartungslosigkeit aufzubrechen (es geht ja gerade nicht um „Erlösung in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten und Gleichgeborenen“). Diese verwandten Denk- und Lebensmuster machen den Rattenfängern das Spiel viel zu leicht. Die Wahrheit ist, Kirche wird sich nicht nur ein bisschen verändern müssen, weil die Welt sich so dramatisch verändert. Wer den eigenen Leuten das nicht sagen will, traut entweder ihnen nichts zu, oder Gott, oder beiden.

Die Legende erzählt, Patrick habe die giftigen Schlangen aus Irland vertrieben. Ich denke nicht, dass das in erster Linie eine zoologische Aussage ist. Auf unserem Kontinent wäre eine Entgiftung derzeit jedenfalls hochwillkommen.

Share

Visuelle Pilgerreise

Ein paar Eindrücke von der Reise nach Iona habe ich hier ja schon geschildert. Inzwischen ist bei Calvendo auch ein Kalender online mit Bildern, die in dieser Woche auf diesem besonderen Fleckchen Erde entstanden sind.

Wenn Ihr mögt, klickt Euch durch die Bilder, und wenn Sie Euch gefallen, lasst es mich wissen und/oder schreibt eine kleine Bewertung oder eine Kundenrezension auf amazon, da kann man ihn auch besichtigen und bestellen.

Wenn Ihr weitere Iona-Begeisterte kennt, empfehlt den Kalender gerne weiter oder verschenkt ihn an sie. Bekanntlich steht Weihnachten ja bald wieder vor der Tür… 🙂 Von A5 bis A2 ist alles möglich.

Und falls Ihr Freunde jenseits des Kanals habt, könnt Ihr hier das Ganze auch auf Englisch mit englischem Kalendarium bekommen.

Share

Große Weite auf engem Raum

Im August haben meine Frau und ich gemeinsam mit Freunden an einer „Open Week“ der Iona Community teilgenommen. Die unter George MacLeod wiedererrichtete Abbey, 563 von St. Columba gegründet und seither wohl der heiligste Ort Schottlands (Macbeth soll hier unter anderem begraben sein), bietet Platz für ca. 50 Gäste, dazu kommen viele freiwillige Helfer_innen. Es geht sehr international zu, wir trafen eine große Gruppe aus den Niederlanden und eine Gemeindegruppe aus den Midlands, dazu eine ganze Reihe Einzelpersonen. Es ist bei voller Auslastung reichlich eng rund um den Kreuzgang, die Zimmer sind winzig und oft mit Stockbetten eingerichtet, das Haus ist hellhörig, die Fußböden knarzen mächtig und die Duschen muss man sich geduldig teilen. Wer abends Bier, Cider oder Wein trinken will, muss fünf Minuten laufen in die Bar an der Martyrs’ Bay.

DSC06858.jpg

Wer nach Iona kommt, lebt eine Woche Gemeinschaft auf Zeit. Alle Gäste packen im Haushalt mit an, und ich vermute, das Fehlen einer Industriespülmaschine hat weniger finanzielle Ursachen. Das Arbeiten gehört, genauso wie die Morgen- und Abendgebete zum Konzept von Gemeinschaftsbildung dort. Das Morgengebet endet im Stehen und ohne „Amen“ oder Segen, um deutlich zu machen, dass die nun folgende Aktivität eine nahtlose Fortsetzung des Gottesdienstes mit anderen Mitteln ist.

DSC06996.jpg

Rückzug ist also kaum möglich, zumal sich im Programm kurze Impulse der Verantwortlichen rasch mit interaktiven Elementen mischen, ständig kommt man mit jemand anderem ins Gespräch, mal eher spielerisch-locker, mal zu recht persönlichen Fragestellungen und Themen. Und so hat man nach sechs Tagen viele neue Bekannte, deren Namen es zu behalten gilt. So richtig tief geht es dagegen angesichts des kurz getakteten Ablaufs nur selten. Und man sollte wirklich passabel Englisch sprechen können, sonst wird es mühsam.

DSC06909.jpg

Zum Seele baumeln lassen muss man sich in die Kirche (Farne wachsen innen an den Wänden) oder eine der Kapellen verdrücken oder gleich ganz hinaus gehen – hoch zum Dun I oder an den weißen Sandstrand im Norden der Insel, vorbei an Schafen und Hochlandrindern. Echte Stille gibt es nur sporadisch am Sonntagabend in der Kirche oder auf einer fünfminütigen Etappe des gemeinsamen Pilgerwegs, den die ganze Gruppe in vier oder sechs Stunden geht. Nach jeder Mahlzeit gibt es einen „moment of silence“, der ungefähr einen Atemzug lang dauert und mit einem emphatischen „Thank you, God“ beschlossen wird.

DSC07431-Bearbeitet.jpg

Reich beschenkt wird man aus dem Schatz der Lieder von John Bell und anderen, aus der ungemein frischen und klaren liturgischen Sprache, die stets mehr wertvolle Denkanstöße enthält, als man in dem jeweiligen Augenblick behalten und zu Ende denken kann, durch die Ehrlichkeit, mit der die Mitglieder der Community erzählen, und die ökumenische Offenheit dort, wo sich Pilger aus aller Welt begegnen. Wem das noch nicht reicht, der findet eine gut ausgestattete Bibliothek im Haus vor und gegenüber einen Buchladen, in dem man schnell arm werden kann.

DSC07444-Bearbeitet.jpg

Unter den Gästen wie auch den Freiwilligen finden sich viele Pfarrer_innen und Theologe_innen und noch mehr engagierte Laien. Auf eine spannende Art ist Iona für sie „kirchlich“ genug, um sich zuhause zu fühlen, und zugleich anarchisch genug, um sich und die eigene Umgebung einmal kritisch zu betrachten, oder sich von anderen Querdenkern auf der eigenen Suche nach neuen Wegen anregen zu lassen.

Keiner aus unserer kleinen Delegation wusste einen vergleichbaren Ort in Deutschland, an dem Natur, Geschichte, gelebte und schöpferische Gemeinschaft, Begegnung über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg so profiliert anzutreffen wären. Iona ist wieder zu einem pulsierenden Zentrum geworden, wie im Frühmittelalter, als es an der stark frequentierten Wasserstraße entlang der inneren Hebriden lag. Heute erscheint es uns abgelegen und wird gerade deshalb so gern aufgesucht. Man kann die Anreise an einem Tag schaffen, aber dann darf nichts schief gehen, wenn man die letzte Fähre in Fionnphort auf Mull kurz nach 18 Uhr noch erreichen will. Rückwärts ist es einfacher, aber nach so intensiven Tagen wird es den meisten gut tun, noch irgendwo in der reizvollen Umgebung ein paar Tage Rast zu machen und die Eindrücke nachklingen zu lassen.

Es war bestimmt nicht der letzte Besuch.

Share

Rückblick: Symposium keltisch-christliche Spiritualität

Auf unserem Esstisch steht eine Lichtschale vom Schwanberg. Während das Teelicht brennt, wandern meine Gedanken zurück dorthin. Die Schwestern von der Communität Casteller Ring und Pfarrer Harald Vogt hatten für das vergangene Wochenende zu einem Symposium eingeladen und einen gastfreundlichen Rahmen geschaffen, in dem sich ganz unterschiedliche Menschen begegnen konnten, die sich für die besondere Tradition des keltischen Christentums interessieren. Zumindest hier in der Region und im evangelischen Umfeld hat es das noch nicht gegeben, so weit ich sehe.

Allein schon der persönliche Austausch mit alten und neuen Bekannten wäre die Reise wert gewesen – wir saßen mit Ilona und Rainer Wälde, Katrin und Daniel Sikinger zusammen, lernten zwei keltisch bewegte Freikirchler aus der Schweiz sowie Ken Humphrey und Roy Searle von der Northumbria Community kennen, haben uns von Oliver Behrends auf eine Entdeckungstour in Sachen Schöpfungsspiritualität schicken lassen und ich habe auf einem Pilgerweg mit Hans-Joachim Tambour durchdringende Erfahrungen gemacht – der atlantische Dauerregen ging bei mir (trotz NorthFace-Jacke, mit denen muss ich noch ein Hühnchen rupfen…) bis auf die Haut durch.

Unter die Haut ging bisweilen das gemeinsame Nachdenken darüber, was die Geschichte und Impulse der keltischen peregrinati für uns im 21. Jahrhundert bedeuten: Warum eine theologisch verantwortete und vitale Schöpfungsspiritualität unverzichtbar ist, inwiefern diese historischen Vorbilder hier und heute anschlussfähig sind, wo sich Gottes und unsere Sehnsucht treffen (davon sprach Andy Lang) und wie man miteinander ermutigende und beflügelnde Erfahrungen teilen kann.

Es war ein verheißungsvoller Auftakt. Mal abwarten, was daraus noch wird!

Teampall Bheanain.jpg

Share

Keltische Woche

Diese Woche begann mit St. Patrick’s Day, gestern Abend hat Martina mit einer stattlichen Gruppe ihre Alltagsexerzitien mit Geschichten und Elementen aus dem keltischen Christentum begonnen. Und in einer Stunde brechen wir auf zum geistlichen Zentrum auf dem Schwanberg, wo an diesem Wochenende im Rahmen eines Symposions unter anderem Roy Searle von der Northumbria Community sprechen wird.

Und heute mittag habe ich für August zwei Tickets nach Glasgow gebucht, von dort aus geht es dann zur „Open Week“ der Iona Community.

Spannend, das alles…

4Klee.jpg

Share

Christlich-keltische Spiritualität: Symposium im März

Vom 21. auf den 23. März findet im Geistlichen Zentrum Schwanberg ein Symposium über Christlich-keltische Spiritualität statt. Hauptreferent ist Roy Searle von der Northumbria Community, es gibt am Samstag etliche Workshops zu unterschiedlichen Themen (z.B. Natur- und Schöpfungsspiritualität, Symbole, Poesie und Imagination, die Rolle der Frauen), und ich selber werde auch einen kleinen Beitrag leisten.

Wer also Lust und Interesse hat, ist herzlich eingeladen, sich anzumelden. Hier ist der aktualisierte Flyer. Vielleicht sehen wir uns dann ja im März?

201401161111.jpg

Share

High Five: Eine Lebensregel für Aktivisten

Orden und Kommunitäten haben Regeln, an denen sie ihr Leben ausrichten. Viele Ordensleute sind ausgesprochene Aktivisten, und genau deshalb brauchen sie einen gesunden, nachhaltigen Rhythmus der Spiritualität. Solche Regeln sind nicht etwa eine Einschränkung der Freiheit – niemand soll gegängelt werden –, sondern sie dienen dazu, die Prioritäten zu sichern und den langfristigen Kurs zu halten. Die Ansätze der Iona Community und die Northumbria Community habe ich auf diesem Blog schon erwähnt.

Ganz analog hat Joanna Macy in Active Hope eine fünffache Selbstverpflichtung für Aktivisten formuliert, die einer solchen Lebensregel nahe kommt. Viele Teilnehmer ihrer Workshops haben sie übernommen. Sie lautet folgendermaßen:

Ich gelobe vor mir selbst und jedem von euch

  • mich täglich der Heilung der Welt und dem Wohlergehen aller Lebewesen zu widmen
  • auf der Erde leichter und weniger gewaltsam zu leben, was Nahrung, Konsumgüter und Energie betrifft
  • mir Kraft und Wegweisung von der lebendigen Erde schenken zu lassen, den Vorfahren, den künftigen Generationen, und meinen Brüdern und Schwestern jeder Spezies
  • andere in ihrem Einsatz für die Welt zu unterstützen und um Hilfe zu bitten, wenn ich sie brauche
  • ein tägliches Ritual zu befolgen, das mein Denken klärt, mein Herz stärkt und mir hilft, dieses Gelübde zu erfüllen

Interessant ist vor allem der direkte Vergleich mit Iona, da heißt es in ebenfalls fünf Punkten:

  1. Daily prayer and Bible-reading (das entspricht teilweise Punkt 5 bei Macy)
  2. Sharing and accounting for the use of our resources, including money (vgl. Punkt 2)
  3. Planning and accounting for the use of our time (könnte man auch unter 2. subsumieren)
  4. Action for Justice and Peace in society (bei Macy Punkt 1)
  5. Meeting with and accounting to each other (das ähnelt Punkt 4)

Die Unterschiede liegen also im Wesentlichen bei Punkt 3 beider Aufstellungen (und vermutlich klingt für manche der dritte Punkt von Macy nach Esoterik, aber so ist er da m.E. wirklich nicht gemeint). Bei Macy kommen die Mitgeschöpfe nicht nur als Aufgabe oder Leidensgenossen ins Spiel, sondern auch als Verbündete und Kraftquelle. Ich nehme an, das könnten die Iona-Leute durchaus ähnlich sagen. Immerhin trennen sie nicht zwischen sozialem und ökologischem Engagement, wie die Ausführungen zum Punkt 4 der Iona-Regel zeigen:

We believe

  • that the Gospel commands us to seek peace founded on justice and that costly reconciliation is at the heart of the Gospel;
  • that work for justice, peace and an equitable society is a matter of extreme urgency;
  • that God has given us partnership as stewards of creation and that we have a responsibility to live in a right relationship with the whole of God’s creation;
  • that, handled with integrity, creation can provide for the needs of all, but not for the greed which leads to injustice and inequality, and endangers life on earth

Die Übereinstimmungen sind in jedem Fall viel größer als die Unterschiede. Vor allem ist es weit genug, um sich ein Leben lang zu entwickeln und zu wachsen.

Bisherige Posts zu dieser Thematik:

 

Share

Die Zukunft im Rückspiegel

Im Frühjahr findet auf dem Schwanberg ein Symposium über keltisches Christentum statt, auf das ich mich schon sehr freue. Gleich morgen werde ich auf dem Emergent Forum 2013 in Berlin einen Workshop dazu anbieten. Und ich bin inzwischen darüber, meinen acht Jahre alten Text aus „Licht der Sonne, Glas des Feuers“ gründlich zu überarbeiten. Gleich auf den ersten Seiten merke ich, wie viel ich von dem, was ich damals geschrieben habe, heute ganz anders sage.

Mein Interesse ist kein Romantisches, es geht nicht um die Verklärung einer heilen Welt oder die Reminiszenz an ein goldenes Zeitalter. Es reicht mir nicht, die beispiellose missionarische Erfolgsgeschichte zu erzählen und mich an den Heldentaten ihrer Großen moralisch und geistlich aufzurichten. Meine verarmte Vorstellungskraft mit blumigen Segenssprüchen aufzupeppen, ist nett, aber bei weitem nicht genug.

Für mich ist die Geschichte der keltischen Kirche ein Spiegel, in dem wir unsere heutige Situation betrachten können und all die Fragen die sie an uns stellt. Sie ist ein sprechender Spiegel, weil diese zeitlich und kulturell fernen Gesprächspartner Erfahrungen und Einstellungen mitbringen, die das heutige Bild verändern können. Ich will das an ein paar Punkten verdeutlichen:

1. Öko-Spiritualität: Die Moderne – unglücklicherweise auch das moderne Christentum – hat uns mit ihrer materialistischen Objektivierung und Ausbeutung der Natur in eine gewaltige Krise gestürzt. Die vielen Facetten wie Klimawandel, Artensterben, Niederbrennen der Regenwälder, Überfischung und Aufheizung der Weltmeere hier alle aufzuzählen, würde zu weit führen. Wenn sich daran noch etwas ändern soll, dann reichen Schadensstatistiken und Horrorszenarien nicht aus, sondern wir brauchen einen neuen inneren, emotionalen und spirituellen Zugang zu diesen Dingen, um eine neue Nachhaltigkeit leben zu können. Neben Einzelpersonen wie Franz von Assisi oder Hildegard von Bingen sind es vor allem die keltischen Christen, die uns hier weiterhelfen können.

2. Politische Nachfolge: Während in der lateinischen Kirche des Mittelalters Papst und Kaiser vielfach um die Weltherrschaft stritten und einer den anderen unterwerfen wollte, haben die Äbte und Bischöfe der Kelten es verstanden, den Kontakt zu den Machthabern zu halten, ihnen notfalls mächtig ins Gewissen zu reden, aber zugleich ihre Distanz und Unabhängigkeit zu wahren. Mit der Abschaffung der Sklaverei und dem Schutzrecht für die „Unschuldigen“ haben sie elementare Menschenrechte viele Jahrhunderte vor deren Formulierung durch die UN durchgesetzt.

3. Gemeinde als Gegenkultur: Die großen Kirchen genießen in Deutschland vielfältige Privilegien aus der Ära des Staatskirchentums. Entsprechend angepasst sind sie in vieler Hinsicht an den gesellschaftlichen Mainstream, und wie alle Etablierten schrecken sie, gelähmt von Verlustängsten, vor jeglicher Radikalität zurück, die einen Bruch mit dem kulturellen Mainstream bedeuten könnte. Haushalts- und Stellenpläne werden leidenschaftlicher und ausführlicher diskutiert als die Frage, was die Minderheitenkirche von morgen wohl stark macht. Freikirchen haben hier Vorteile, leiden jedoch oft unter ihrer undurchlässigen Subkultur. Freilich gibt es in beiden Lagern, bei den Etablierten wie den Imprägnierten, auch positive Ausnahmen; aber die sind eben genau das: Ausnahmen. Wie man als Minderheit angstfrei in einer andersgläubigen Umgebung leben kann und sich für das Gemeinwohl einsetzt, auch das haben uns die Kelten vorgemacht. Sie schöpften dabei aus der Spiritualität der Wüstenväter, die schon 150 Jahre früher ein asketisches Gegenmodell zur antiken Großkirche etabliert hatten.

4. Vielgestaltige Kirche: Unsere sesshaften Gemeinden und Verbände belohnen Kreativität und Querdenkertum in den seltensten Fällen. Wie viele andere Institutionen fördern und belohnen sie eher Anpassung, Mittelmaß und eine Kultur der Risikovermeidung. Pioniertypen, die die Welt auf den Kopf stellen möchten oder von einer „Verbuntung“ (P. Zulehner) der Kirche träumen, werden oft passiv ausgebremst und administrativ kaltgestellt. Prophetische Gestalten überleben nur in besonderen Nischen und Biotopen, die ihnen die Funktionäre lassen. Ganz anders St. Patrick & Co: In der neuen, rauen Umgebung der keltischen Kultur bildete das Christentum, das aus dem römischen Reich kam und sich dort zur Staatsreligion aufgeschwungen hatte und dessen Priester im Gottesdienst die Kleidung der kaiserlichen Beamten trugen, ganz andere kirchliche Strukturen aus. Und vor allem brachte es große Kämpfer- und Abenteurernaturen hervor.

5. Nichtkoloniale, gewaltfreie und kontextuelle Mission: Die Transformation einer ganzen Kultur durch das Evangelium, die an der Wende von der Spätantike zum Frühmittelalter durch die Verkündigung, Klostergründungen, Bildungsangebote und die gesellschaftliche Einmischung der keltischen Christen in ihrer Heimat und darüber hinaus stattfand, hat so gar nichts mit den Formen von Mission zu tun, für die sich die Kirchen heute entschuldigen und schämen – oft zu Recht, hin und wieder aber auch zu Unrecht. Sie ist das Gegenstück zu Karl dem Großen, der die Sachsen vor die Wahl stellte, sich taufen oder umbringen zu lassen, zu den Kreuzzügen und der Inquisition, zu den spanischen Conquistadores im sechzehnten Jahrhundert oder zu der kolonialen Verkirchlichung fremder Völker, die aus einer Position materieller, technischer und militärischer Überlegenheit heraus unternommen wurde und die ihre Adressaten herablassend bewertete. Auf all diese „Argumente“ verzichteten die keltischen Christen. Der nachhaltige Segen, den sie gebracht haben, gibt ihnen Recht.

Ich breche hier einfach mal ab. Es geht nicht darum, wie heil und schön damals alles war. Es geht darum, was bei uns heil werden könnte, wenn wir uns auf eine echte Begegnung und einen kirchengeschichtlichen Dialog einlassen. Darstellende Kunst, Dichtung, Erzählkunst und Musik kommen dann noch bereichernd hinzu. Meinetwegen diskutieren wir diese Fragen auch anhand anderer Beispielen. Ich habe nur noch keine besseren gefunden.
DSC00549.jpg

Share