Insurrection (5): Neuer Erfahrungsfundamentalismus?

Zu Beginn des Zweiten Teils von Insurrection fasst Peter Rollins sein Verständnis der Kreuzeserfahrung (und damit des Beginns des eigentlichen Glaubens) noch einmal zusammen:

Am Kreuz stirbt Gott als psychologische Krücke und eine tief empfundene dunkle Nacht der Seele bricht über uns herein. (S. 82)

Rollins beschreibt hier beim Umschalten von Dekonstruktion auf Rekonstruktion (s)eine menschliche – und damit psychische (!) – Erfahrung, vor allem macht er dabei aber auch zwei Annahmen:

  1. Alle Menschen beginnen mit einer falschen Gottesvorstellung und missbrauchen Gott als „Krücke“, wodurch er zum Deus-ex-Machina wird, der garantiert, dass alles bleibt, wie es ist.
  2. Wer die existenzielle Verlusterfahrung der dunklen Nacht nicht gemacht hat, hat das Kreuz und damit Gott und den Glauben nicht verstanden

Bei aller berechtigten Kritik am Fundamentalismus, die Rollins immer wieder übt, erinnert das auch nicht unerheblich an das Motiv des „Bußkampfes“ im Hallischen Pietismus (der war ein existenzielles Verzweifeln an der eigenen Sündhaftigkeit), nur dass statt Bußkampf hier eben nun eine andere Erfahrung zum Schlüsselerlebnis des Glaubens erklärt wird, nämlich ein existenziell empfundener Verlust der Nähe Gottes.

Zinzendorf hatte sich an diesem Punkt (des Bußkampfes) von Francke abgewandt, damit hat er den Pietismus aus der Fixierung auf ein bestimmtes Erleben befreit. Ich bin mir daher nicht sicher, ob ich Rollins bei seiner Auffassung folgen möchte. Es könnte der Weg in einen Erfahrungsfundamentalismus werden, nur eben in einer etwas anderen Färbung. Aber vielleicht relativiert Rollins das noch im weiteren Verlauf und umschifft die tückischen Klippen.

Und so schrecklich weit weg von Descartes typisch modernen Rekurs auf den radikalen Zweifel als den Ursprung neuer Gewissheiten liegt er damit auch nicht entfernt – es bleibt also spannend.

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Insurrection (4): Erkennen, was ich weiß

Freitag und Samstag habe ich mich auf dem Netzwerktreffen „Ecclesia Attractiva“ der AMD im Wuppertal aufgehalten und eine ganze Reihe sehr interessanter Menschen und Initiativen kennengelernt. Frost und Hirsch würden sich, wenn sie nicht noch am Leben wären, bei dem Titel zwar im Grab umdrehen, aber es war keineswegs alles „attractional“, was dort zur Sprache kam.

Schauen wir nun aber dem talentierten Mr. Rollins weiter über die Schulter bei seiner Apotheose des Zweifels. Mir ist übrigens wieder eingefallen, wo mir der Gedanke schon begegnet ist, dass unser wahres Begehren das Begehren des Anderen ist – er stammt von Jacques Lacan.

Im vierten Kapitel nun ist endlich etwas klarer, worauf er hinaus will. Die letzte Form, die existenzielle Begegnung mit dem Abgrund des Zweifels zu umschiffen, ist der stellvertretende Glaube eines geistlichen Leiters, besonders der des Pfarrers. So lange der hält, kann sich jedes Gemeindeglied Zweifel leisten, ohne in Angst zu geraten, Es ist ja immer jemand da, der die Verbindung offen hält. Strauchelt er aber, dann bricht Panik aus, weil der psychologische Schutz fehlt. Diese Erwartung führt auf Seiten der Leiter dazu, dass sie die eigenen Zweifel verheimlichen, sagt Rollins. Man erfährt davon bestenfalls im persönlichen Gespräch.

Wir weichen der existenziellen Begegnung mit unseren Zweifel auch deshalb so gern aus, weil wir im Grunde schon wissen, was uns da erwartet. Aus demselben Grund also, aus dem wir aufrüttelnde Filmdokus wie An Inconvenient Truth meiden, sagt Rollins. Dann nämlich können wir nicht mehr so tun, als wüssten wir nichts. Wir müssten überlegen, was wir konkret ändern, oder uns dämliche Ausreden suchen und alles beim Alten lassen, oder zugeben, dass uns die Sache (der Klimawandel, die Ungerechtigkeit, Gott, der Nächste) schlicht egal ist.

So weit, so zutreffend. Bissige Fußnote: Es gibt ja durchaus auch Prediger, bei denen man sich wünscht, sie würden mal über irgendetwas anderes reden als nur über ihre nicht so schrecklich interessanten und verdienstvollen Zweifel und Halbherzigkeiten, die ihnen zu allen Knopflöchern herauskommen. Gemeinden, in denen die religiöse Grundstimmung nicht allzu menschlicher Triumphalismus, sondern ebenso menschliche milde Depression und bequeme Verliebtheit ins Scheitern ist. Hat Rollins von denen noch keinen getroffen?

Als ich mich schon langsam fragte, ob wir bei Rollins statt von „wiedergeborenen Christen“ von „wiedergestorbenen“ reden sollten, da bekam er gegen Ende des Kapitels doch noch die Kurve. Erst mit einem Zitat von Kierkegaard, der zwischen Dichtern und Kritikern unterscheidet: Während der eine etwas existenzielle erleidet und daraus seine Kunst gebiert, sieht der andere das unter formalen und ästhetischen Gesichtspunkten, bleibt aber teilnahmslos. A/Theismus – den Begriff benutzte Rollins schon in How Not To Speak of God – heißt dann nicht, den Glauben inhaltlich zu entleeren oder zu bestreiten, sondern ihm die Funktion als Schutzmechanismus gegen das Leiden an und mit Gott in dieser Welt zu nehmen.

Am Ende nimmt Rollins Bezug auf Mutter Theresa und ihren jahrzehntelangen Kampf mit der Abwesenheit Gottes. Er zitiert aus einem ihrer Briefe und erwähnt dann, dass sie diese Zweifel zwar existenziell erlitten hat, aber nie öffentlich thematisierte. Einerseits war ich erleichtert, dass Mutter Theresa Rollins Test auf wahren Glauben (Rechtgläubigkeit wäre ein zu böses Wort) bestanden hatte, andererseits fragte ich mich unwillkürlich, ob sie nicht genau das gemacht hatte, was Rollins zu Beginn des Kapitels so kritisiert hatte, nämlich nach außen hin an den orthodoxen Formulierungen festhielt, während in ihr für niemand außer ihren Beichtvater erkennbar der Sturm des Chaos tobte. Oder habe ich jetzt schon wieder etwas nicht kapiert?

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Insurrection (3): Postmoderner Ikonoklamus?

Das dritte Kapitel von Insurrection hat mich etwas ratlos gemacht. Peter Rollins stellt verschiedene Arten vor, wie Glaube (an den religiösen deus-ex-machina) und Zweifel koexistieren können, ohne dass es ersterem an den Kragen geht:

  • Man kann theologische Lippenbekenntnisse zum Wert des Zweifels und Erfahrungen von Verlust abgeben und parallel an einem Gemeindeleben teilnehmen, das diese Gedanken und Erfahrungen (etwa im Liedgut und der Liturgie) verschweigt und konterkariert,
  • man kann sich von organisierter Religiosität zeitweilig verabschieden, nur um in de nächsten Krise wieder auf sie zurückzugreifen (um den drohenden Sturz in die Angst abzuwenden), subkutan hat man sie jedoch immer behalten,
  • man kann eine indirekte Teilhabe an der heilen Welt des religiösen Glaubens über Ehepartner und Kinder pflegen, während man sich selbst als „nicht religiös“ bezeichnet und gebärdet. Rollins spricht süffisant davon, dass man letzten Endes eine „dunkle Nacht der Seele erleben und dabei alle Lichter an lassen kann.“
  • Einen anderen Umgang mit Zweifeln pflegt man im Fundamentalismus: Hier herrscht das unausgesprochene Gesetz, dass der Zweifel überhaupt nicht thematisiert werden darf. Vorhanden ist er selbstverständlich und führt zu skurrilen Vermeidungsstrategien.

So oder so, meint Rollins, wird die eigentlich nötige existenzielle Verlusterfahrung umgangen, man flirtet (wenn überhaupt) lediglich mit der Vorstellung, ohne ernst zu machen. Quer durch alle kirchlichen Traditionen. Für Rollins bedeutet das: Man drückt sich um das Kreuz, man hat noch gar nicht begonnen, im christlichen Sinn zu glauben.

Die eine Frage wäre, ob dieses sehr allgemeine und gewagte Urteil über eine große Vielfalt von Individuen, Gemeinschaften und Konfessionen gerechtfertigt ist. Noch spannender finde ich die Frage, ob man sich um eine solch existenzielle Erfahrung überhaupt drücken kann. Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die ähnlich Dinge erlabt haben, dann scheint mir, dass sie sich das nicht aussuchen und dass auch alle Versuche, es zu verhindern, aussichtslos waren.

Ist Rollins‘ selbsternannte Pyro-Theologie also eine postmoderne Form von Ikonoklasmus, mit dem er jede Vorstellung anfällt, von der er befürchtet, sie könne irgendeine Form von Gewissheit und Trost vermitteln? Und ist sie darin nicht, wie die Verachtung des Volksglaubens durch die radikalen Reformatoren (die Bilder und Kunstwerke in den Kirchen pauschal als „Götzenkult“ diffamierten) am Ende vielleicht auch eine Form von elitärer Bevormundung anderer, für die man sich mancher Dinge ganz erstaunlich gewiss sein muss? (Jason Clarks engagierter Widerspruch wäre dann das postmoderne Pendant zu Luthers Invokavitpredigten)

Warten wir mal ab, was das vierte Kapitel bringt.

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Post- oder Hypermoderne?

Das ist hier nur ein Querverweis auf interessanten Lesestoff – vielleicht komme ich später noch dazu, den Artikel zu kommentieren. Christian Piatt (mir bis dahin unbekannt) kommentiert auf Huffington Post den Kontrast von Emerging Church und christlichen Fundamentalismus á la Piper und Driscoll und die Frage, was sich auf längere Sicht durchsetzen wird.

Interessant ist dabei Platts „Definition“ der emergenten Bewegung, kurz umrissen lautet sie etwa so:

  • gelebte Gemeinschaft ist wichtiger als institutionelle Struktur
  • man nimmt sich der Menschen an statt sie „bekehren“ zu wollen
  • man integriert sich – freilich als Christen – in die Kultur der Umgebung, anstatt darauf zu warten, dass Menschen aus dieser Kultur in die Kirche kommen
  • die Imitatio Christi ist wichtiger als Bekenntnistreue
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Gott – dein größter Fan?

Ich bin auf diesen Gedanken vor einiger Zeit auch schon gestoßen, leider kann ich nicht nicht mehr genau erinnern, wo – bei William Cavanaugh? Nun habe ich es im ersten Kapitel von Pete Rollins‘ Insurrection wiedergefunden. Rollins geht der Frage Bonhoeffers nach einem religionslosen Christentum nach und setzt ein mit der Natur menschlichen Sehnens und Begehrens:

Unsere Beziehungen zu geliebten Menschen sind deswegen so fundamental anders als die zu Gegenständen, weil wir uns nicht nur nach ihnen sehnen, sondern vor allem, weil wir von ihnen (wenn man das mal nicht primär mit sexuellen Konnotationen versieht) begehrt werden wollen. Daher leiden viele auch so schwer unter dem Verlust eines geliebten Menschen, daher leiden aber auch viele unter dem Verlust der Sehnsucht und Anziehung in bestehenden Beziehungen. Damit leben zu lernen, ist wesentlicher Bestandteil des Erwachsenwerdens – schon Kinder merken an ihren Eltern, dass sie nicht (oder nicht immer) der Nabel der Welt sind.

Rollins folgert dann weiter: Aufgrund der Brüchigkeit menschlicher Liebe und der Schwankungen im menschlichen Sehnen und Begehren liegt es nahe, sich Gott als den einen ständig präsenten Zuschauer und himmlischen Fan unseres Lebens vorzustellen, der uns immer im Blick hat und auf dessen Gesicht sich das Schauspiel unseres Lebens ununterbrochen spiegelt. Damit aber läuft man Gefahr, Gott zum Maskottchen zu machen oder zum Lückenbüßer, zur psychologischen Krücke bzw. dem Deus-ex-Machina, der immer dann ins Spiel gebracht wird, wenn wir etwas nicht erklären oder ertragen können. Bei Bonhoeffer hieß es, er taucht immer nur an den Grenzen menschlicher Existenz auf, aber nicht in der Mitte.

Glauben an diesen Gott zu wecken, sagt Rollins, ist gar nicht so schwer, weil die meisten Menschen an so einen Gott glauben wollen. Dennoch bleibt dieser Glaube eben die berühmte psychologische Krücke, die sich nicht von einer nützlichen Illusion unterscheiden lässt, mit der man sich gegen das Verzweifeln an der Sinnlosigkeit des Lebens schützen will. Rollins setzt diesen hohlen Gott mit Pascals „Gott der Philosophen“ gleich, aber der hatte das m.E. anders verstanden und gerade nicht das persönliche Gegenüber, sondern den apathischen Deistengott gemeint.

Richard Rohr würde hier vielleicht sagen, dass wahrer Glaube durchaus mit dem fragwürdigen Gottesbild und einer Portion Egozentrik und Narzissmus beginnen kann, wie das Rollins hier beschreibt, so lange er dabei nicht stehen bleibt. Aber so sind Menschen eben, und da fängt Gott notgedrungen an. Man muss diese Bilder vielleicht ja auch gar nicht widerlegen, sie zerbrechen irgendwann von selbst. Mal sehen, wie Rollins das mit dem wirklichen Gott und dem (echten?) Glauben weiter denkt. Der Untertitel (To Believe is Human, To Doubt Divine) lässt jedenfalls vermuten, dass Rollins mit „believe“ etwas anderes meint als das Neue Testament mit “Glauben“…

Wer gleich weiterlesen möchte, findet bei Daniel Ehniss schon mehr zu Insurrection.

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Wahre und falsche Emergenz

Seit ein paar Tagen habe ich Richard Rohrs Falling Upward. A Spirituality for the two Halves of Life hier liegen. Er stellt darin die beiden Lebenshälften mit ihren ganz unterschiedlichen Aufgaben einander gegenüber. In der ersten Lebenshälfte geht es – sehr verkürzt gesagt – darum, sich einen Platz und er Welt zu erarbeiten und zu erkämpfen, das sich zu beweisen und etwas zu schaffen oder zu erreichen. Das hat dann auch mit Auseinandersetzung, Emanzipation und Abgrenzung zu tun.

Die Schlüsselaufgabe für die zweite Lebenshälfte sieht Rohr in Anschluss an C.G. Jung darin, das Erreichte loszulassen, über es hinauszugehen. Eine wiederkehrende Formel lautet „transcend and include“. Betrachtet man die emergente Bewegung (vor allem in den USA), dann fällt auf, dass das nicht immer gelungen ist, sondern dass man sich hier und da in neuen Antithesen und negativen Definitionen festgefahren hat. Freilich ist es in Umbruchssituationen immer auch ganz normal, dass man zuerst sagen kann, was nicht mehr ist oder funktioniert und erst viel später weiß, was an Stelle des Alten nun entsteht. David Fitch hat das in diesem Blogpost unter anderem als Problem benannt. Vielleicht hat das aber damit zu tun, dass etliche der Protagonisten tatsächlich noch nicht zu den Fragen der zweiten Lebenshälfte vorgedrungen sind?

Auf der anderen Seite wird auch deutlich, dass ein gewisser Gegensatz zwischen „emergenten“ und „neokonservativen“ Christen vermutlich dauerhaft bestehen bleibt. Nicht in dem Sinne, dass eine Seite das Spiegelbild der anderen ist und bleibt, wohl aber darin, dass diese beiden Wege nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Für Rohr, der nicht nur evangelikale, sondern auch katholische Neocons im Blick hat, ist diese Bewegung ein regressives Phänomen und ein Hinweis darauf, dass diejenigen, die sich dafür so begeistern, die Aufgaben der ersten Lebenshälfte noch nicht richtig bewältigt haben. Hier einige seiner Beobachtungen:

This pattern is usually an inconsistent mix of old-fashioned styles and symbols with very contemporary ideologies of consumerism, technology, militarism and individualism. … In fact, neoconservatives are usually intense devotees of modern progress and upward mobility in the system (S. 40)

The result is a generation of seminarians and young clergy who’re cognitively rigid and „risk adverse“; who want to circle the wagons around their imagined secure and superior group (…). Ecumenism, interfaith dialogue and social justice are dead issues for them.

… Self-knowledge its dismissed as psychology, love as „feminine softness“, critical thinking as disloyalty, while law, ritual and priestcraft have become a compulsive substitute for actual divine encounter or honest relationship. This does not bode well for the future of any church or society (S. 42/43).

In manchem steht übrigens der Attentäter von Oslo, Anders Breivik, diesen Strömungen nahe, wie die Analyse seines Manifests ergeben hat. Er scheint eine deutliche Nähe zu einem exklusivistischen und antimodernistischen Katholizismus zu pflegen, wie die katholische Theologin Saskia Wendel auf Zeit.de erklärt – und auch den Unterschied zwischen Fundamentalismus und Konservativismus noch einmal verdeutlicht.

Emergenz wäre also ein Etikettenschwindel, wenn damit eine neue Tradition in Abgrenzung von allen alten, der Austausch moderner gegen postmoderne Dogmen und Gewissheiten, oder eine neue fest umrissene und definierte Methode oder Stilform gemeint wäre, und nicht etwa der notwendige Versuch, sich dem Risiko des Neuen und Fremden existenziell auszusetzen, den Preis für die eigene Veränderung zu bezahlen und die eigenen inneren Grenzen zu erweitern. Wie aber kann man das wirksam vermitteln?

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Richard Rohr: der Mittschnitt vom Dienstag

Es war eine sehr anregende und angenehme Begegnung am Dienstag mit Richard Rohr. In mancher Hinsicht hat er mich an Brian McLaren erinnert. Die beiden können provokativ denken und reden, zugleich aber sind sie sehr freundliche, warmherzige und aufgeschlossene Menschen, in deren Nähe zumindest ich mich sehr wohl fühle.

Aber damit sich jeder selbst ein Bild machen kann, hier der Mitschnitt aus der leider etwas „halligen“ Kirche (vielen Dank an Daniel Siegel fürs Aufnehmen und Daniel Ehniss fürs Online stellen!):

 

Richard Rohr – Emerging Christianity from EmergentDE on Vimeo.

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ef10: Muntere Diskussionen

Ich habe noch etwas gebraucht, um das Emergent Forum innerlich auszuwerten. Vieles haben andere schon erwähnt: die tolle Aufnahme im Weigle-Haus, die vielen „Neuen“, die vielfältigen, oft sehr kreativen Beiträge und die große Themenvielfalt. Dazu natürlich: Wiedersehen mit alten Freunden, gute Gespräche mit so manchen neuen Bekannten in einer fröhlichen Umgebung.

Richtig gut hat mir auch der Altersquerschnitt gefallen, mit sehr vielen jungen, aber eben auch einem stabilen Anteil von Leuten so eher Richtung Lebensmitte, von denen waren auch schon einige letztes Jahr dabei. Dass sie wiedergekommen sind, ist auch ein gutes Zeichen. „Emergenz“ ist also keine Frage des Alters, und auch nicht der Konfession.

Besonders gefreut hat mich, dass Walter Faerbers Anstoß zur Neubelebung der müden Initiative Theologie auf so große Resonanz gestoßen ist. Wir planen für nächstes Jahr ein Treffen, wo wir mal so richtig die Köpfe rauchen lassen wollen. Inhaltlich wird es um die Frage gehen: „Was ist das Evangelium?“

An manchen Punkten konnte auf dem Form die Frage nach dem dritten Weg nur angerissen werden. Ob wir zu jedem (vermeintlichen) Gegensatzpaar einen finden, ist für mich immer noch offen. Den Mitwirkenden der meist kurzen Einheiten war das in der Regel zwar klar, aber vielleicht nicht allen TeilnehmerInnen. Womöglich wäre es hilfreich gewesen, mit allen gemeinsam noch etwas intensiver darüber nachzudenken, wie das mit dem dritten Weg „funktioniert“, bevor man es konkret durchspielt. Wenn man von den Gegensätzen und Polaritäten ausgeht, verstellen sie einem allzu leicht den Blick, oder man bleibt in der Reaktion insofern stecken, als man das, was man ablehnt, nur in sein Spiegelbild verkehrt, nach dem Motto: Ich habe unter autoritären Leitern oder Eltern gelitten, also darf jetzt keiner mehr Macht ausüben, egal in welcher Form.

Es gibt ja durchaus hilfreiche Beispiele: Statt biblische Irrtumslosigkeit (konservativ) zu verteidigen oder alles, was man nicht mag und versteht, mit den Mitteln historisch-kritischer Exegese als fromme Legende oder vormoderne Naivität abzutun, können wir mit Walter Brueggeman anfangen, die Bibel als ein Buch zu lesen, durch das Gott unsere Sehgewohnheiten, unsere Phantasie und unser Denken neu formt. Etwas platt gesagt: Es geht nicht um Information, sondern um Transformation. Es geht weniger um einzelne Aussagen, als um die Gesamtrichtung der Texte. So ähnlich argumentiert auch Richard Rohr in Ins Herz geschrieben (und was mich schon immer gewundert hat: je mehr manche Leute das Wirken des Geistes bei der Entstehung der Schrift betonen („Inspiration“), desto weniger kommt er bei deren Interpretation noch vor).

Ich denke durchaus, dass wir an einigen Stellen diese Gegensätze überwunden haben – dass das Evangelium auch politische Seiten hat, scheint mir wirklich keine Frage mehr gewesen zu sein unter den Anwesenden. Die Frage war nur noch, was man den Kritikern – kirchlich wie säkular – dann antwortet. Und bei manchen Themen, etwa beim „richtigen“ Führungsstil oder der Gestaltung von Veränderungsprozessen, scheint mir ja eher emotionale Intelligenz und Augenmaß gefragt, als ein grundlegender Wechsel paradigmatischer Anschauungen, wie es die Rede vom „dritten Weg“ impliziert.

Die Themen gehen uns also noch lange nicht aus… 🙂

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Erfrischend undogmatisch

Ich bin beim Emergent Forum angekommen und habe mich am ersten Abend wieder daran erinnert, dass man die Leute, die hier zusammen kommen, nicht über einen dogmatischen Kamm scheren kann. Sie kommen aus verschiedenen christlichen Traditionen, entdecken die Reichtümer anderer Traditionen, und interessieren sich für Theologie, insofern sie ihnen hilft, die Veränderungen in ihrem persönlichen Leben, Gemeindeleben und öffentlichen Leben zu verstehen und Wege zu finden, wie praktische Nachfolge aussehen kann. Definitionen, Formeln und Bekenntnisse, die (klar: immer um „der Wahrheit“ willen) primär der Ab- und Ausgrenzung dienen, stehen eben deshalb nicht hoch im Kurs.

Neulich habe ich ein „Emergentes Glaubensbekenntnis“ gelesen. Das stammte jedoch nicht von irgendeinem bunten „emergenten“ Vogel, sondern von D.A. Carson, und da macht er, was er am besten kann: unliebsame Positionen so karikieren, dass es nicht schwer fällt, sie abzuschießen. Wirklich bewiesen hat er damit nur drei Dinge: dass er erstens bis heute nicht verstanden hat, worum es hier geht, dass er zweitens Wahrheit, Theologie und letztlich auch Gott nur in vermeintlich eindeutigen Satzwahrheiten fassen kann, und dass er drittens andere nur auf der Basis der Zustimmung zu seinen Satzwahrheiten akzeptieren will.

Um so schöner, ein Wochenende unter Leuten zu sein, wo nicht ständig darauf geschielt wird, wer jetzt noch linientreu ist. Wo Linien eigentlich kaum eine Rolle spielen, weil bei genauerem Hinsehen nichts im Leben auf Geraden verläuft oder sich sorgsam abzirkeln ließe. Wo unsere Wahrheiten daraufhin untersucht werden, ob sie statt Trennungen Verbindungen fördern, und anschlussfähig sind, anstatt Ausschlüsse zu produzieren. Und wo sie in Geschichten, in Beziehungen und im gemeinsamen Tun eingebettet sind, weil Buchstaben und Papier sie nicht richtig fassen können.

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Katholisch und „emergent“?

Das geht! Sagt Richard Rohr in einem Vortrag am Fuller Seminary. Unsere „treuen Kritiker“ werden es schon lange befürchtet haben. Für Rohr dagegen ist es das Werk des Geistes Gottes, dass sich Menschen aus verschiedenen Lagern finden und alte Barrieren überwinden, und zwar ohne dabei neue Kirchentümer zu gründen. Hier geht’s zum Mitschnitt.

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„Emergente“ Beispiele und Geschichten gesucht

Ich bin gebeten worden, für ein internationales Buchprojekt einen Beitrag über das Thema Emerging Church im deutschsprachigen Europa zu schreiben. Dazu bin ich nun aber auf Eure Mithilfe angewiesen. An der Einleitung sitze ich gerade – und erkläre, warum das in Deutschland anders aussieht und läuft als in Nordamerika.

Der zweite Teil soll konkret darstellen, wie

  • Gottesdienst verstanden und gelebt wird
  • Gemeinschaft und geistliches Wachstum („Formation“) sich gestaltet
  • Mission (im ganzheitlichen Sinn, „Diakonie“ also eingeschlossen) stattfindet
  • und in welchen Formen und Strukturen Leitung wahrgenommen wird

Anregungen, Hinweise und Beiträge sind herzlich willkommen. Ihr solltet Euch nur nicht ewig Zeit lassen, bis zum Nikolaustag hätte ich das Material gern zusammen. Manche sehe ich ja am Wochenende in Essen. Ich habe viel Zeit mitgebracht für Gespräche und zum Sammeln von Stories.

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Zwei Wege

Übermorgen startet das Emergent Forum zum Thema „der dritte Weg“, aber das mit der drei geht nicht immer auf, vielleicht sollten wir dann einfach „der alternative Weg“ sagen. Der kann zum Beispiel so aussehen.

Es gibt … zwei radikal unterschiedliche Wege, wie Gott zu sein: der Weg „der Gotteserkenntnis“ (in dem Sinne, dass ich den Schleier seines Geheimnisses lüfte, selbst die Gewissheit des Wissens erlange, selbst entscheiden kann, was gut und was böse ist) oder der „Weg des Seins“ – wie Gott sein, indem ich mit meine Handeln der törichten, paradoxen Logik der Liebe folge.

Den ersten bot Satan dem Adam im Paradies an (ihr werdet wie Gott sein und erkennt gut und böse), den anderen bietet Jesus an (seid wie mein himmlischer Vater, der seine Sonne scheinen und den Regen auf die Guten wie die Bösen fallen lässt). Den zweiten, törichten Weg – denn er konnte schwer anders enden als am Kreuz – begreift Paulus sehr gut und radikalisiert ihn: Lasst uns Narren in Christo sein – die törichte Sache Gottes ist stärker als die Sache der Menschen.

Tomas Halik, Geduld mit Gott, S. 163f.

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Magersucht und Attentäter

Tomas Halik will Verständnis und Interesse für Distanzierte und kirchliche Randsiedler wecken. Jesus hat nicht nur den harten Kern seiner wandernden Jüngerschar gepflegt, sondern er ließ sich auch auf Begegnungen mit Leuten wie Zachäus oder Nikodemus ein, ohne diese von ihrem Ort wegzurufen. Auch die Diskussionen um Begriffe wie „Bekehrung“ im Pietismus zeigen: Gerade die ganz entschiedenen Jesusnachfolger könnten dem Irrtum erliegen, dass es nur eine mögliche Form des Christseins gibt – ihre natürlich. Aber gerade die Offenheit am Rande ist wichtig für unsere Gemeinden:

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Kirche und Sekte liegt darin, dass sich eine auf den „harten Kern“ völlig identifizierter Mitglieder einschränkt, ggf. in diesem Mitgliedertyp das Ideal sieht. Die Kirchen sind in der Regel älter, weiser, erfahrener und großzügiger; sie wissen, dass sie außer dem „harten Kern“, dem Skelett, auch einen etwas elastischeren Leib brauchen (und dass es eine Beeinträchtigung darstellt, wenn der Körper durch eine übertriebene Diät unterernährt ist). Darüber hinaus gibt es in ihnen häufig Menschen, die wissen, dass der Begriff Rand und Mitte in einem Organismus, wie die Kirche einer ist, ziemlich relativ sein kann.

… Wenn ich manche Katholiken beobachte, mit welcher Lust sie die Pluralität der Kirche gemäß ihrem oft sehr eigenartigen Konzept von Katholizismus gerne streng disziplinieren würden, werde ich traurig darüber, wie diese „Eiferer für das Haus des Herrn“ überhaupt nicht begreifen, dass sie eigentlich gefährliche Attentäter sind, die eine der vitalsten Funktionen der Kirche bedrohen, ihre Katholizität – die Allgemeinheit, welche übrigens das Ideal aller christlichen, das Apostolische Glaubensbekenntnis betenden Kirchen sein sollte.

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Der Gott der anderen

Die Bibel redet von Gott oft in Paradoxen. Nur so lässt sich das Geheimnis gegenüber allzu großem Wissensdrang und vor dem modernen Hang zur Instrumentalisierung schützen. Tomas Halik nimmt im vierten Kapitel von Geduld mit Gott Gedanken seines katholischen Kollegen Joseph Moingt auf, der die menschliche Neigung, Gott zu unserem Gott zu machen, kritisch reflektiert. Wir haben nur in dem Maß Zugang zu Gott, so Moingt, als wir diesem Drang widerstehen und Gott anders sein und für andere da sein lassen.

Paulus, die die Grenzen des Judentums überwand und das Evangelium den Heiden brachte und den Partikularismus Israels sprengte, wird zum Vorbild:

In ähnlicher Weise soll die Kirche stets aus ihrer christlichen Vergangenheit ausziehen, vieles „Ererbte“ tapfer hinter sich lassen. Das war und ist ihre Aufgabe. Beim Blick auf die Geschichte sehen wir aber etwas anderes: Die Kirche hat sich bald in ihren eigenen Partikularismus zurückgezogen., die Idee eines neuen Israel hat nicht Mut und Entschlossenheit provoziert ständig ein Volk auf dem Weg zu sein… Unsere Kirche wurde stattdessen eine partikuläre Einheit unter vielen anderen, begann ihre eigenen Grenzen zu überwachen und hat aus dem Glauben ein „Erbe der Väter gemacht“, ein Eigentum, das weiter tradiert wird.

Offenheit gegenüber Gott bedeutet für Moingt dann auch Offensein für andere, weil sich Gott mit Anderen solidarisiert und weil sich in unserem Offensein Gottes Offensein für die Welt vergegenwärtigt. Halik kommentiert das zweite vatikanische Konzil und die jüngere tschechische Kirchengeschichte und fragt ausgehend von beidem, ob nicht erst der Mut, auf den Anderen zuzugehen, zu einer neuen Gestalt von Kirche führen kann, die den Verfall der jetzigen Institution eines Tages überwindet uns deren wahre Schätze erbt.

Weder Halik noch Moingt wollen Tradition, Glaube und Theologie komplett über Bord werfen. Aber sie plädieren dafür, sich auf einen Veränderungsprozess einzulassen, der keineswegs frei von Risiken ist: Am Ähnlichsten sind wir Gott da, wo wir ihn und den Anderen suchen und uns dabei selbst überschreiten. Und da wird es ganz praktisch: Nur diese Haltung kann eine Alternative bieten zu den gängigen Reaktionen auf den Islamismus in Europa, die allzu oft entweder in aggressivem Säkularismus oder in christlichem Fundamentalismus bestehen.

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Thérèse von Lisieux und die Wahrheit des Atheismus

Das dritte Kapitel von Geduld mit Gott widmet Halik über weite Strecken der Thérèse von Lisieux, die mitten im verbissenen Abwehrkampf des französischen Katholizismus gegen den Atheismus ihren Glauben auf eine ganz andere Art lebte, und – so Halik – am Ende ihres Lebens sogar verlor. Nu die Liebe blieb, und das lässt sich als Erfüllung des Pauluswortes von 1. Kor 13,8 verstehen, dass in Gottes neuer Welt Glaube und Hoffnung sich in die Liebe hinein auflösen. Bei Thérèse scheint das schon eingetreten zu sein kurz bevor sie die Schwelle überschritt – so wie mancher Marathonläufer buchstäblich ins Ziel wankt und über die Linie fällt.

Sie deutet ihr Verlassensein von Gott als Platz nahmen an einem Tisch mit den „Ungläubigen“, und durch ihre Solidarität mit ihnen erschließt sie für die verbohrte Kirche neues Land. Die Abwesenheit Gottes als „existenzielle Wahrheit des Atheismus“ wird so auch Teil des Glaubensschatzes. Der Atheismus, sagt Halik, ist eben nicht als Lüge zu verstehen, sondern als eine „nicht zu Ende gesprochene Wahrheit“ – und eine nützliche Antithese zur „vulgären Religion“. Auch Chesterton konnte im Blick auf das Sterbewort Jesu ja auch sagen, dass hier „Gott für einen Augenblick Atheist zu sein schien“.

Thérèses Lebensthema war die Demut, und Halik zitiert den folgenden schönen Gedanken von ihr:

Ein Mensch, der lange auf den Berg der Tugend geklettert ist (…) solle mit demütiger Freude auch eine Sturz und (von Gott gewollten) Fall akzeptieren, denn nicht in dem erträumten „Oben“, sondern vielmehr unten wartet Gott auf ihn, „in der Tiefe des fruchtbaren Tales der Demut“.

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