Nachfolge in Zeiten des Zorns

Letztes Jahr im Oktober: Ich sitze in der Regionalbahn und höre, wie jemand ganz am anderen Ende des Waggons laut sagt: Der Habeck gehört erschossen! Ich will ja eigentlich ein Buch lesen, aber die weibliche Stimme kann ich nicht ausblenden, sie klingt wie eine Bekannte (die so etwas freilich nie niemals sagen würde).

Die unbekannt-bekannte Stimme im Zug monologisiert lautstark weiter, neue Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr. Keiner ihrer Gesprächsparter (es sind wohl mehrere) widerspricht. Sind die denn alle einverstanden, gewählte Politiker, die man nicht mag und deren einziges „Verbrechen“ es ist, andere Positionen zu vertreten als man selbst, mit Gewalt zu beseitigen? Die junge Frau hält sich ganz offenkundig für eine von den Guten. Und je länger sie sich im Recht fühlt, desto mehr Hass auf andere genehmigt sie sich.

Selbstgerechtigkeit ist ein starkes Gefühl. Sie verleitet mich dazu, Gott zu spielen. Als ich aussteige, fällt mir eine Szene aus der Bibel ein: Da wird Jesus „guter Meister“ genannt und er weist das sofort zurück: „Gott allein ist gut“, sagt er. Jesus weiß genau, wie brutal und übergriffig selbstgerechte Menschen sein können. Er hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Ich bin nicht Gott. Ich bin auch nicht immer gut. Und genau deshalb kann ich mit mir und anderen Geduld haben. Sie stehen lassen mit ihren manchmal wunderlichen oder nervigen Ansichten. Fair und friedlich bleiben, statt auf Rache und Vernichtung zu sinnen. So wird zwar nicht alles, aber manches wieder ein bisschen besser. 

Aber den Hass und die mörderische Sprache kann man nicht stehen lassen. Nick Cave sagt in „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“:

"Ich habe das Gefühl, … dass es da draußen unermessllichen Zorn gibt, der irgendwie zum Leben erwackt wurde und sich nun gegenseitig entfacht. … Es fühlt sich die ganze Zeit an, als wären wir kurz vor einer Explosion."

In den letzten Wochen haben viele Menschen, auch viele Christen, ein deutliches Zeichen gesetzt, indem sie auf die Straßen gegangen sind. Gegen Akteure und Bewegungen, die offenbar Gott spielen wollen, indem sie anderen ihrer Grundrechte berauben.

Aber es ist nicht nur das, was mich an die Bahnfahrt vom Herbst erinnert. Im Oktober fühlte sich das Bahn-Erlebnis noch wie ein grotesker Ausreißer an, aber aus dem dumpfen Krakeelen ist inzwischen handfeste Gewalt geworden – eben vor allem gegen grüne Politiker:innen. Die Polizei ist erstaunlich zurückhaltend angesichts dieser Übergriffe. Man könnte fast meinen, sie wendet ihre Schmerzgriffe vor allem da an, wo die Protestierenden unbewaffnet, friedlich und verletzlich daherkommen. Und konservative Politiker kommentieren den Bruch demokratischer Spielregeln immer noch mit einem hämischen „selber schuld“. In den Unionsparteien und bei den Freien Wählern haben einige offenbar ein recht opportunistisches Verhältnis zur Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Sabine am Orde schrieb dazu kürzlich:

Noch viel schlimmer aber ist, dass diese entweder nicht begreifen, wie ernst die Lage ist – oder bereit sind, dies parteipolitischem Kalkül zu opfern. Die Attacken richten sich ja nicht nur gegen die Grünen, sondern ­gegen die Demokratie. Und damit auch gegen sie.

Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es ein langes, zähes Ringen darum geben wird, welchen Weg unser Land einschlägt. Die katholischen Bischöfe haben sich schon erfreulich klar positioniert – gegen einen Populismus, der „stereotypen Ressentiments freie Bahn verschafft – gegen Geflüchtete und Migranten, gegen Muslime, gegen die vermeintliche Verschwörung der sogenannten globalen Eliten, immer stärker auch wieder gegen Jüdinnen und Juden“.

Die Bischöfe wissen es, und wir wissen es im Grunde ja auch: Nur wenn wir nicht der Versuchung erliegen, Gott zu spielen (vor allem nicht den zornigen Gott), gelingt es uns auch, menschlich mit uns selbst und anderen umzugehen. Die Passionszeit ist ein guter Anlass, darüber nachzudenken.

Wutfasten sollte freilich nicht auf ein paar Wochen im Jahr beschränkt sein.

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