Wieder einmal scheint es schlimmer zu kommen, als viele lange dachten. Nach dem Brexit steht nun Donald Trump vor dem Wahlsieg in den USA. Und die schockierte Welt rätselt, wie das möglich war.
Eine Antwort auf diese Frage hat Zygmunt Bauman schon im Jahr 2000 gegeben, als er Flüchtige Moderne veröffentlichte. Dort beschreibt er die Veränderungen, deren Folgen wir jetzt so deutlich vor Augen geführt bekommen. er spricht von einer „grundlegenden Veränderung des öffentlichen Raums“, und der liegt „in der Art und Weise, wie die moderne Gesellschaft sich selbst bearbeitet und sich auf sich selbst bezieht“. (S. 35)
In der zweiten, reflexiven oder „flüchtigen“ Moderne ist erstens der Glaube daran, dass der Fortschritt und Wandel irgendwann einmal ein Ziel erreicht, verloren gegangen. Zweitens sind die „Modernisierungsaufgaben“ dereguliert und privatisiert worden. Das zeigt sich gut in Margaret Thatchers berühmten Ausspruch „there is no such thing as society“: Kein fürsorglicher Staat schaltet und waltet mehr, sondern jeder muss selbst sehen, wo er bleibt. Individualisierung ist das Schicksal, wählen zu müssen. Identität ist nicht vorgegeben, sondern sie wird zur Aufgabe, mit der man nie fertig wird. Niemand, sagt Bauman forderte ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton,
als dieser die Zuständigkeit der Bundesregierung für den Bereich der Sozialpolitik abschaffte und damit das kollektive Versprechen individueller Vorsorge gegen Schicksalsschläge brach, die hinterhältigerweise immer auf einzelne hereinbrechen. (S. 87)
Also hat das Individuum tragischerweise auch mit Clintons Hilfe die politische Bühne erobert. Mit Tocqueville sagt Bauman:
Das Individuum […] ist der größte Feind des Bürgers. Der Bürger ist eine Person, die ihr Wohlergehen an das Wohlergehen der Stadt knüpft – wohingegen das Individuum nur lauwarme Gefühle und Skepsis angesichts öffentlicher Angelegenheiten von allgemeinem Interesse entwickelt. Was soll »Allgemeininteresse« mehr bedeuten, außer dass jeder nach seiner Facon glücklich wird? (S. 47f.)
Von Rechts wegen sind wir selbstbestimmt. Aber es fehlen uns die Mittel, aus dieser Freiheit etwas Lohnendes zu machen. Vom Staat erwartet man, dass er die öffentliche Sicherheit gewährleistet und „Räuber, Perverse, Bettler und anderes Gesindel“ wegsperrt. Das Allgemeininteresse wird, und hier zitiert Bauman Joel Roman „zu einem Kartell der Egoismen […], das sich auf kollektive Emotionen und die Angst vor dem Nachbarn stützt.“ Und das erzeugt vielfältige Probleme für Politik und Gemeinwesen,
weil die Anliegen und Bedenken der Individuen den öffentlichen Raum bis zum Überlaufen anfüllen, weil sie mit dem Anspruch auftreten, als Individuen die einzig legitimen Akteure in diesem Raum zu sein und mit harten Ellenbogen alles andere aus der öffentlichen Sphäre verdrängen. Die »Öffentlichkeit« wird durch die »Privatsphäre« kolonisiert; das öffentliche Interesse reduziert sich auf die Neugier des Publikums, auf das Interesse am Privatleben von Figuren des öffentlichen Lebens, und die Kultur schurrt zusammen auf die öffentliche Darstellung privater Affären und das öffentliche Eingeständnis privater Gefühle (je intimer, desto besser). »Öffentliche Angelegenheiten«, die sich dieser Reduktion auf das Private widersetzen, bleiben schlicht unverständlich. (S. 49)
Trump hat mit seinem öffentlichen Eingeständnis privater Gefühle (Angst, Ressentiment, Zorn und Stolz) die Mehrheit der Wähler hinter sich gebracht, Hillary Clinton hat sich viel Mühe mit Politik gegeben, die sich nicht aufs Private reduzieren ließ und damit, wie Bauman sagt, unverständlich blieb. Und die Tatsache, dass sie ihre Gefühle zurückhält, statt sie vor sich her zu tragen, macht sie vielen Wählern suspekt. Die individualisierten Akteure auf der öffentlichen Bühne suchen nicht nach gemeinsamen Anliegen, sondern sie knüpfen kurzlebige Kontakte, die ihren privaten Interessen dienen.
„Populism“ (CC BY-NC 2.0) by Dr Case
Und der Rechtspopulismus profitiert von dieser Form der Vergemeinschaftung:
Es sind Gemeinschaften geteilter Sorgen, Ängste oder gemeinsamen Hasses – in jedem Fall aber sind diese Gemeinschaften nichts anderes als der Nagel, an dem eine Reihe vereinzelter Individuen vorübergehend ihre vereinzelten Ängste aufhängen. (S. 49)
Wir sind immer auf der Suche nach Sündenböcken – seien es Politiker, die ihr Privatleben nicht in Ordnung halten können, Kriminelle, die aus den Vierteln der Armen hervorkriechen, oder »Fremde mitten unter uns« (S. 51)
Für das Individuum ist der öffentliche Raum im Wesentlichen ein riesiger Bildschirm, auf den private Sorgen projiziert werden, ohne dass sie den Status des Privaten dabei verlieren oder durch ihre Vergrößerung zu etwas Kollektivem würden (S. 52)
Die Ursachen für Donald Trumps Wahlsieg beim Individuum Trump suchen zu wollen, wäre nur ein weiterer Beweis dafür, dass die Kategorie des Individuellen alles andere verdrängt hat. Trump ist ein Symptom unserer Welt, wenn er sich aufbläst und seine Vorurteile schamlos herausposaunt und Diskrimierung wieder salonfähig macht, wenn er eine Mauer gegen die Angst und die Armut errichten will (endlich einmal etwas, das man sieht…).
Es ist kein Zufall, dass mit Trump eine Figur des Reality TV ins weiße Haus einzieht, denn es waren unter anderem die Talkshows, die das öffentliche Reden über private Angelegenheiten legitimierten.
Sie machen das Unaussprechliche aussprechbar, überführen das Schamhafte ins Anständige, und scheußliche geheimnisse werden zu Quellen des Stolzes [!]. […] Hier reden Menschen vor einem Millionenpublikum frei von der Leber weg. Ihre privaten Probleme, und damit auch meine ähnlich gelagerten privaten Probleme, sind öffentlichkeitstauglich. (S. 85)
Sein hemdsärmeliger Aufruf, er werde das im Alleingang alles richten, ist der Sieg des Privaten im öffentlichen Raum. Nun haben die Amerikaner auch das Präsidentenamt privatisiert (dasselbe haben die Türken und Russen auf ihre Art auch schon getan, als sie die Macht autoritären Männern antrugen). Und die ganze Welt wird nun miterleben und -erleiden, was das praktisch bedeutet.
Baumans Credo hingegen lautet:
Jede wahre Befreiung muss heute nicht auf weniger, sondern auf ein mehr an „öffentlicher Sphäre“ und öffentlich gefasster Macht setzen.
Das ist jetzt unser aller Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte.
Eine hervorragende Analyse der letzten Nacht. Ich erlaube sie mir gleich zu verlinken, um mir die Zeit für einen eigenen Text zu sparen.
Na, gern!