Die Anarchie des Herzens

Als Kommentar zu Thomas Mertons Worten über „Kreuz und Widerspruch“ hat mir evadiaspora diesen Clip von Hanns-Dieter Hüsch geschickt. Er trifft die Geisteshaltung, die Merton so nachdrücklich ablehnt, ziemlich gut:

Barmherzigkeit ist das Stichwort, das die Familiensynode der katholischen Kirche in diesem Monat geprägt hat (so Lucetta Scaraffia als eine der wenigen Frauen, die teilnehmen durften). Offenbar gab es Fortschritte – in der Debattenkultur, die Christian Hennecke beleuchtet, wie im Blickwinkel, der sich allmählich von Dogma und Gesetz (dem Urteilen) hin zur Empathie und der Frage nach Heilung verschiebt, meint Paul Zulehner:

Jetzt stehen nicht Bücher, sondern Menschen im Mittelpunkt. Es geht nicht mehr um objektive Sünde, sondern um schmerzliche Wunden, die zu heilen sind. Der betroffene Mensch gehöre nicht in den Gerichtssaal, sondern ins Hospiz, das Krankenhaus.

Es gibt erstaunlicherweise aber auch einzelne Gemeinden, in denen nationalkonservative Prediger aus dem Pegida-Dunstkreis einen Gott verkünden, dessen Barmherzigkeit – wenn überhaupt – nur drinnen, im eigenen, gilt, und der nach außen hin dem autoritären, aggressiv-bedrohlichen, bedingungslose Unterwerfung fordernden Gottesbild verdächtig ähnlich sieht, das sie pauschal dem Islam unterstellen. Da hat die „Anarchie des Herzens“ einen schweren Stand.

Wo Gott derart vereinnahmt wird, kann man es Hüsch nur gleichtun und sich denen anschließen, die sagen: 
»Gott sei Dank!
 Endlich ist er frei.
 Kommt, wir suchen ihn!«

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Die Teilung der Teilung

Bei Richard Rohr habe ich vor längerer Zeit einmal gelesen „Contemplation refuses to create dichotomies“, Kontemplation weigert sich, Gegensätze aufzustellen. Daran wurde ich wieder erinnert, als ich neulich bei Ina Praetorius von der „Dichotomisierung“ der Menschheit las. Als auf dem Erlanger Poetenfest über Koran und Gewalt diskutiert wurde, ging es auch um den scharfen Kontrast zwischen Gläubigen und Ungläubigen, der in Teilen des Korans eine große Rolle spielt. Aber freilich – nein, leider! – kennen wir solche ausschließenden Denkstrukturen auch zur Genüge aus dem Christentum. Früher waren die Katholiken die apokalyptische Gefahr, heute sind es die Muslime, es spricht nichts dafür, dass die Argumente inzwischen besser geworden sind – im Gegenteil.

Die theologische Antwort darauf finden wir im Römerbrief, wie Giorgio Agamben in seiner nicht immer ganz einfach zu lesenden Auslegung Die Zeit, die bleibt zeigt. Sein drittes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage von Universalismus und Partikularität, der „Aussonderung“ des Paulus als Apostel Christi. Paulus kommt als Pharisäer aus einer Tradition der Aussonderung, doch es ist nicht mehr der nomos, der diese Aussonderung bewirkt (der Zaun von Geboten, die die Pharisäer um die Torah herum errichtet hatten). Die messianische Torah hingegen führt „in eine Aussonderung der zweiten Potenz, eine Aussonderung der Aussonderung selbst, die die Teilungen des pharisäischen Gesetzes teilt und durchquert.“

Das Gesetz teilt die Welt in Juden und Heiden, aber für Paulus teilt es den Menschen auch innerlich in gute und böse Neigungen, und schließlich landet Paulus in Römer 7,23 beim „Gesetz des Hauches“. Auch dieses messianische Gesetz teilt, nämlich zwischen pneuma (Geist) und sarx (Fleisch). Es kommt nun zu einer Teilung der Teilung, bei der auf der Seite der Juden nun eine äußere Zugehörigkeit „nach dem Fleisch“ und eine unsichtbare „nach dem Geist“ (bzw. bei Agamben schön ausgedrückt „nach dem Hauch“) entsteht. Auf der Seite der Heiden ist durch den Geist des Messias dasselbe vorauszusetzen, so dass nun die Situation eintritt, dass der alte Gegensatz nicht mehr aufgeht. Es „bedeutet, dass die messianische Teilung in die große nomistische Teilung der Völker einen Rest einführt, dass als Juden und Nichtjuden konstitutiv »nicht alle« sind.“

Rest.jpg

(Meine Grafik, dass ein Kreuz entstanden ist, habe ich erst im Nachhinein gesehen)

Es entsteht mit dem Rest ein Drittes, die „Nicht-Nichtjuden“, die im messianischen Gesetz leben und sich nicht mehr auf die alten Alternativen oder Dichotomien reduzieren lassen:

Sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit für die Juden und die Gojim dar, mit sich selbst zusammenzufallen, sie sind eher so etwas wie ein Rest zwischen einem Volk und sich selbst, zwischen jeder Identität und sich selbst. … Für Paulus geht es nicht darum, die Differenzen zu „tolerieren“ oder sie zu überschreiten, um jenseits von ihnen das Selbe und Universale zu finden. Das Universale ist für ihn kein transzendentes Prinzip, von dem aus er über die Differenzen schauen könnte – er verfügt nicht über einen solchen Standpunkt –, sondern ein Verfahren, das die Teilungen des Gesetzes selbst teilt und unwirksam macht, ohne je einen letzten Grund zu finden.

Agamben folgert folgenreich: „Die messianische Berufung trennt jede klesis von sich selbst, sie erzeugt in ihr ein Spannung zu sich selbst, ohne ihr eine Identität zu geben: Jude als ob nicht Jude, Grieche als ob nicht Grieche.“ Er verfolgt dann das Motiv des Rests durch das Erste Testament und kommt zu dem Schluss:

Eine aufmerksame Lektüre der prophetischen Texte zeigt … deutlich, dass der Rest die Konsistenz oder Figur ist, die Israel in Bezug auf die Auserwählung oder das messianische Ereignis annimmt. Der Rest ist also weder das Ganze noch ein Teil von ihm, sondern bedeutet die Unmöglichkeit für das Ganze und für den Teil, mit sich selbst und untereinander identisch zu sein.

Wenn wir es heute wieder in großen Stil mit der Forderung zu tun bekommen, das Abendland müsse mit sich selbst identisch (und daher von aller Zuwanderung unbehelligt) bleiben, und wenn das Christentum als feststehende Identität und Kultur die Teilungen der Welt nicht mehr teilt, sondern eine neue kategorische Teilung zwischen Recht- und Ungläubigen herbeiführt, bei der die Rechtgläubigen ausschließlich durch das Kriterium der dogmatischen und ethischen Reinheit definiert sind, die nach ewigen und nicht wandel- und verhandelbaren Kriterien bemessen wird, dann hat er das Wesentliche im paulinischen Evangelium missverstanden. Er ersetzt lediglich eine Dichotomie durch eine andere.

Eine Neubesinnung auf die messianischen Wurzeln ist angesagt. Und sie beginnt mit dem kontemplativen Blick, der es wagt, seine Urteile, sein Bedürfnis nach trennscharfer „Klarheit“ und seine Ängste zurückzuhalten.

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Kreuz und Widerspruch

Das Kreuz ist das Zeichen des Widerspruchs – es zerstört die Ernsthaftigkeit des Gesetzes, des Imperiums, der Armeen, des Blutopfers und der Obsession.

Aber die Magier drehen das Kreuz so lange, bis es zu ihren Absichten passt. Ja, auch für sie ist es ein Zeichen des Widerspruchs: die schreckliche Blasphemie des religiösen Magiers, der das Kreuz dazu bringt, der Barmherzigkeit zu widersprechen! Das freilich ist die äußerste Versuchung des Christentums! Zu sagen, dass Christus alle Türen verschlossen hat, eine Antwort gegeben hat, alles geklärt hat und dann ging, alles Leben eingesperrt ließ in die fürchterliche Widerspruchslosigkeit eines Systems, außerhalb dessen es Ernsthaftigkeit und Verdammnis gibt, innerhalb dessen die unerträgliche Frivolität der Erretteten gibt – während nirgends mehr Raum bleibt für das Geheimnis der Freiheit der göttlichen Barmherzigkeit, die als einzige wahrhaft ernst ist, und es verdient, ernst genommen zu werden.

Thomas Merton, Raids on the Unspeakable, 32f.

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Füttern für den Frieden

Als ich vorgestern nach Hause kam, lag ein totes Rotkehlchen vor dem Fahrradschuppen. Einer der zahlreichen Stubentiger aus unserer Straße dürfte der Übeltäter gewesen sein. Wenn er wenigstens eine der vielen Elstern erwischt hätte, aber an die trauen sich Hauskatzen nicht heran.

Ich war wütend.

Anders als Hunde, deren Jagdtrieb von ihren Haltern weitgehend kontrolliert wird und die auch gar kein Interesse an Singvögeln zeigen, nehmen die Besitzer der lieben Kätzchen es achselzuckend hin, dass die Vogelpopulation um uns her mächtig leidet. Sinnlos, sich bei ihnen zu beklagen, sie müssten ihre Lieblinge schon einsperren (oder ihnen Glocken umhängen).

Gestern hatte ich dann eine Idee, wie sich das Problem eleganter lösen lässt: Katzen lassen sich ja nach meiner Beobachtung von so ziemlich jedem füttern. Wenn ich die Verdächtigen möglichst reichlich mit Nahrung versorge, dann sind sie irgendwann nicht mehr ohne weiteres in der Lage, Meisen und Rotkehlchen zu morden. Nicht, weil sie nicht mehr hungrig wären – Hunger ist nicht ihr Antrieb zum Töten, die Beute wird ja nicht verspeist – sondern weil sie zu langsam und zu schwer sind.

Die Devise heißt also: Füttern für den Frieden.

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Vorbehaltlos lieben

Was hat Navid Kermani am Sonntag für eine bewegende Rede gehalten! Sie war ihres Anlasses – Kernanis Auszeichnung mit dem Friedenspreis der deutschen Buchhandels – in jeder Hinsicht würdig. Kermani befasste sich mit dem Frieden zwischen den Religionen und der Lage in Syrien. Und mittendrin sagte er diese bemerkenswerten Sätze:

Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen – zu einer anderen Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion – kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig, die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber verliebt, wie es Pater Paolo und Pater Jacques in den Islam sind, verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als Muslim nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.

Als Landesbischof Heinrich Bedford-Stohm vor ein paar Wochen ins Kuratorium eines islamischen Zentrums eintrat, da witterten einige christliche Hardliner schon Verrat an der eigenen Sache. In den letzten Wochen ist mir eine solche Haltung leider ganz oft begegnet, die am Eigenen nicht zweifelt und sich rhetorisch ständig im Angriffsmodus gegen das Andere befindet, dem alles Böse dieser Welt zugetraut wird. Ein fundamentalistischer Prediger aus meiner Region schrieb diese Woche auf Facebook: „Ein wirklich gläubiger Moslem kann und will sich nicht integrieren.“

Wer ständig die Extremisten auf der anderen Seite kritisiert und so tut, als wären diese das wahre Gesicht ihrer Religion, der gesellt sich zu den Scharfmachern im eigenen Lager, und weil das umgekehrt ebenso engagiert betrieben wird, fließt früher oder später Blut. Umgekehrt würde ein Schuh draus, aber das würde auch eine Art Bekehrung erfordern: Weg von einem Glauben, der in anderen Religionen nur das Böse am Werk sieht und den Irrtum pflegt, dass jede positive Aussage über sie ein Verrat am eigenen wäre.

Davon hat die Welt jetzt schon mehr als genug.

Um so mehr hat mich Kernanis Geschichte von Pater Jaques berührt. Der hatte sich strikt dagegen ausgesprochen, dass westliche Politiker nur orientalische Christen, nicht aber vor Krieg und Tod flüchtende Muslime bei sich aufnehmen wollen. Wie wäre es, wir würden uns an den Besten auf allen Seiten messen? An Navid Kermani und Heinrich Bedford-Strohm, den Mönchen von Mar Elian, den verfolgten Sufis und all denen, die den „Dialog der Barmherzigkeit“ pflegen, zu dem Kermani uns aufruft. Jesus und die Bibel geben uns mehr als genug Gründe, ihnen nachzueifern.

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Missverständliches Mitgefühl

In einem Gespräch neulich berichtete jemand von einer Auseinandersetzung und machte seiner Empörung Luft über die Ungerechtigkeit, die ihm dabei widerfahren war. Eine andere Person aus der Gruppe antwortete zustimmend auf seine Äußerung. Ich kannte die andere Seite dieses offenkundig schmerzhaften Konfliktes nicht, daher war ich erst einmal recht zurückhaltend.

Als ich die zweite Person später wieder traf, sagte ich, dass ich über ihre emphatische Zustimmung verwundert war. Und ich entdeckte, dass die Zustimmung nicht dem Urteil des Betroffenen über die Sachlage und die Kontrahenten gegolten hatte, sondern als Ausdruck von Mitempfinden und als Ermutigung gemeint waren, sich nicht von den Sorgen überwältigen zu lassen. Das Problem war nur, dass man den Wortlaut dieses Zuspruchs auch so hätte verstehen können, dass die eine Konfliktpartei recht hat und die andere im Unrecht ist.

Mag sein, dass das sogar zutrifft – ich weiß das nur nicht und kann es auch nicht so leicht herausfinden.

Nachdenklich hat mich das Erlebnis deshalb gemacht, weil ich fürchte, mir und anderen ist es auch schon so ergangen. Wir regen uns über etwas auf, unsere Freunde bekommen das mit und wollen uns aufmuntern. Wir fühlen und dann in unserem gerechten Zorn bestätigt und denken, dass wir einen Verbündeten gefunden haben, der unsere Position teilt und unterstützt. Denn wenn wir unter Druck stehen, dann wollen wir solche Dinge ja auch hören. Vielleicht werden wir dadurch mutiger (oder rücksichtsloser) und versuchen mit aller Macht, uns durchzusetzen.

Das kann ins Auge gehen.

Vielleicht steckt ein ähnliches Muster auch in den Verweisen auf angeblich schweigende Mehrheiten in manchen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Es könnte ja sein, dass auch da jemand das Mitgefühl anderer irrtümlich als inhaltliche Zustimmung zu seiner Position interpretiert. All das macht Konfliktlösungen nicht einfacher.

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Hut ab

Diese Woche habe ich zum letzten Mal an einer Sitzung des Leitungskreises der „Koalition für Evangelisation/Lausanner Bewegung“ teilgenommen. Ich bin, wenn ich mich richtig erinnere, noch im letzten Jahrtausend zu der Runde dazugestoßen, auf Einladung von Ulrich Eggers, der damals den Vorsitz innehatte. Die evangelikale Gremienwelt war für mich damals terra Incognita.

Über die Jahre habe ich viele interessante und engagierte Menschen kennengelernt, vor allem durch die jährlichen „runden Tische“, die ich ein paar Jahre lang mit geplant und vorbereitet habe. Für mich war es immer dann am spannendsten, wenn es den Charakter eines ThinkTanks hatte. So oder so – es war nie genug Zeit, um alle spannenden Themen auszudiskutieren, die angerissen wurden. Sicher eines der beeindruckendsten Erlebnisse war der internationale Kongress 2010 in Kapstadt mit Delegierten aus der ganzen Welt, über den ich einige Blogposts geschrieben habe. Die Stärken (und auch die Grenzen) der Bewegung waren dort mit Händen zu greifen.

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Meine inneren und äußeren Prioritäten haben sich über die letzten Jahre so verschoben, dass ich im Sommer beschloss, diesen „Hut“ wieder abzugeben und Platz zu schaffen für neue Gesichter, die ihre Werke und Verbände dort repräsentieren. Das ist auch deshalb nötig, weil die Truppe für 2017 einen großen Kongress plant (dynamissio soll er heißen), da muss jetzt viel geackert werden. Vielleicht gelingt es ja, etwas von der Weite und Themenvielfalt von Kapstadt in die fromme Szene hierzulande hineinzutragen.

An ein Treffen erinnere ich mich noch besonders. Ich fuhr nach Kassel (dort trifft sich der Kreis fast immer) und stieg am Bahnhof Wilhelmshöhe aus. Als ich die Rampe zum Bahnhof hinauflief, kam mir der Vorsitzende entgegen. Ich fragte, ob er denn heute nicht dabei sei. Er sah mich verdutzt an und erklärte, die Sitzung sei doch erst morgen. Die Terminfindung war etwas kompliziert verlaufen und ich hatte die letzte von mehreren Änderungen nicht in meinen Kalender übertragen. Ich trank einen Cappuccino und fuhr wieder zurück. Als ich am nächsten Tag erneut nach Kassel kam und ein paar Minuten später zur Sitzung erschien, grinste mich der ganze Haufen schon breit an, als ich zur Tür hereinkam. Meine Terminpanne am Vortag war offenbar Punkt 1 auf der Tagesordnung gewesen.

Vielleicht fahre ich jetzt mal nach Lausanne. Da war ich nämlich noch nie. 🙂

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Weisheit der Woche: Korruption

Man hört unablässig das Argument, in all den Diskussionen über Zeitungen, Firmen, Aristokratien oder Parteipolitik, dass man einen Reichen nicht bestechen kann. Tatsache ist freilich, dass der Reiche geschmiert ist; man hat ihn schon bestochen. Deswegen ist er ein Reicher. Die Begründung für das Christentum liegt darin, dass jemand, der an den Annehmlichkeiten dieses Lebens hängt, ein korrupter Mensch ist, geistlich korrupt, politisch korrupt, finanziell korrupt.

 (Gilbert K. Chesterton, Orthodoxy, 111)

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Unvergessliche Tage

Den Gottesdienst am Sonntag, den 21. Mai 2006 werde ich so schnell nicht vergessen. Ich war gerade mitten in meiner Predigt, da sah ich, wie sich hinten im Saal ein paar Quadratmeter Stuck von der Decke lösten und aus etwa sieben Meter Höhe herabfielen. In meiner Erinnerung läuft die Szene immer noch wie in Zeitlupe ab, in Wirklichkeit waren das nur Sekundenbruchteile. Es gab einen dumpfen Schlag und einen überrumpelten vielstimmigen Aufschrei in der Nähe der Staubwolke, die sich zeitgleich vor dem Krabbelteppich mit den Kleinkindern in die Luft erhob. Wie durch ein Wunder wurde niemand ernsthaft verletzt. In einer leeren Babytrage lagen drei bis vier Kilo Gipsbrocken. Die Eltern hatten das Kind Minuten vorher auf den Arm genommen. Wir räumten das Haus umgehend, alles lief besonnen und diszipliniert ab.

Keine Ahnung mehr, was ich damals hatte sagen wollen. Die Predigt war Makulatur, um sprachlich noch etwas im Bild zu bleiben.

Vielleicht ging es den Menschen ähnlich, die in einem überfüllten Haus in Kafarnaum glücklich einen Platz ergattert hatten, um Jesus zu hören, während weitere Neugierige vor der Tür standen und hofften, einen Blick zu erhaschen oder etwas mitzubekommen von der Botschaft. Der Deckendurchbruch dürfte sich durch Geräusche und herabfallenden Dreck ein paar Minuten lang angekündigt haben und vermutlich waren viele schon ziemlich sauer, als schließlich eine Bahre von oben herabgelassen wurde, auf der ein Gelähmter lag. Vier seiner Freunde hatten nichts unversucht gelassen, um ihn in Jesu Nähe zu bringen (vgl. Markus 2,1-12).

Hätten die Freunde den Andrang vorhergesehen, wären sie vielleicht eher da gewesen. Dass auf normalem Weg kein Durchkommen war, hielt sie jedoch nicht davon ab, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Irgendwer war der Meinung „wir schaffen das“, und irgendwer hatte einen unorthodoxen Einfall, wie das anzustellen wäre. Den Freund draußen zu lassen oder wieder umzukehren, kam für sie nicht in Frage. Er war einer von ihnen. Nicht nur ein Teil der Gruppe, sondern ein Teil jedes einzelnen.

Kranke und Versehrte waren im Tempel – Gottes primärem Aufenthaltsort in dieser Welt, an dem er Bitten und Beschwerden entgegennahm und über Lebensschicksale entschied – nicht zugelassen. Aber ein Hausgottesdienst mit einem Wanderpropheten war prinzipiell zugänglich, da mussten nur praktische Probleme gelöst werden.

Hole in Synagogue roof from inside_0734m by hoyasmeg, on Flickr
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Und Jesus schien von der Lösung, die sie schließlich fanden und die seine Predigt jäh unterbrach, ganz und gar nicht negativ berührt. Er wendet sich dem Kranken ohne Umschweife zu, mit einem Wort der Vergebung und der Aufforderung, aufzustehen und mit seiner Bahre loszumarschieren. So geschieht es – zum Erstaunen der Normalos, zum Ärger der Religiösen, zur hellen Freude der Freunde. Dass Jesus von Vergebung spricht, bedeutet nicht, dass er die Krankheit für eine Strafe Gottes hielt, sondern er sagt damit, dass auch dieser Kranke nicht außen vor bleibt, wenn Gott seine Verheißungen wahr macht und den Bund mit seinem Volk erneuert. Die Heilung ist daher kein zweiter Schritt, sondern nur die sichtbare, spürbare Konkretion dieser Heilszusage.

Mich hat diese Geschichte ins Nachdenken gebracht über viele unterschiedliche Anlässe, Gottesdienste wie persönliche Gebetszeiten, wo ich gesagt bekam oder mir selbst sagte, ich solle meine leidenden Freunde gedanklich besser draußen lassen, weil sie die Begegnung mit Jesus stören: Kranke und gebrechliche Angehörige, Trauernde und Depressive, Verschuldete und Entmutigte, Nahe und Ferne.

Das Problem ist nur, dass es nicht geht. Denn sie sind in vieler Hinsicht ein Teil von mir selbst. Sie draußen zu lassen, sie irgendwie auszublenden, hieße, einen Teil von mir selbst außen vor zu lassen. Das geht durchaus, ich habe es erfolgreich ausprobiert. Aber wenn ich das tue, bin auch ich selbst nicht richtig präsent. Wenn ich aber nicht richtig präsent bin, kann ich auch die Gegenwart Gottes nicht erfahren. Und genau da liegt für viele von uns das Problem.

Der vergebliche Versuch, die Freunde draußen zu lassen, geht oft einher mit dem Bemühen, auch unsere Feinde draußen zu lassen. Nicht nur die äußeren Feinde, sondern auch unsere inneren Bedrohungen – Dinge, die wir an uns selber nicht leiden können, die uns erschrecken und zusetzen, deren wir uns schämen. Wir singen was lauter, kneifen die Augen etwas fester zu, verscheuchen die unschönen, lästigen Gedanken und Bilder. Notfalls mit passenden Bibelversen. Am Ende bleibt so viel von uns draußen, dass nicht mehr viel da ist, was die Botschaft der Heilung und Vergebung hören könnte, die diese Welt (und ich selbst) so dringend braucht. Und was noch trauriger ist: Immer wieder mal bekomme ich mit, dass jemand nicht mehr oder kaum noch betet oder an Gottesdiensten teilnimmt, weil es ihr/ihm nicht gelingt, das vermeintlich Störende draußen zu halten.

Um Gott zu begegnen, muss ich ganz da sein. Und das bedeutet, dass Freunde, Feinde und meine dunklen, unansehnlichen der peinlichen Seiten auch da sein dürfen müssen. Für Gott ist das gar kein Problem, und wir können getrost aufhören, eins draus zu machen. Ich habe einmal einem geistlichen Begleiter erzählt, dass ich mich beim Beten fühle wie im 23. Psalm, wo von dem „Tisch im Angesicht meiner Feinde“ die Rede ist. Er antwortete: „Dann lade sie doch ein!“

Immer wieder erinnere mich seither an diesen Rat. Ich muss mich auch tatsächlich immer wieder daran erinnern, dass ich nichts zu verscheuchen oder zu verdrängen brauche. Nolens volens bringe ich alles mit, was zu mir gehört. Ich erkenne an und gestehe ein, dass es ist, wie es ist. Und dann stelle ich jedesmal wieder erstaunt fest, dass Gottes Gastfreundschaft die ungebetenen Tischgenossen alle einschließt. Und so hören sie allmählich auf, mich zu nerven und mein Denken zu beherrschen. Ich stelle fest, dass ich Angst habe oder wütend bin, aber dass ich mehr bin als meine Angst, meine Traurigkeit oder mein Frust. Und auch mehr als meine Freude und mein Erfolg. Und dass Gott mehr ist als beides zusammen.

Unendlich viel mehr.

Und das ist der Moment, in dem etwas heil zu werden beginnt und sich verändert.

Ich habe mir vorgenommen, ganz genau darauf zu achten, wie ich mit anderen über diese Dinge rede. Wie ich Menschen einlade, in einem Gottesdienst achtsam anwesend zu sein und sich auf Gott einzulassen. Ich halte die Augen auf nach Liedern und Texten, die das ausdrücken und transportieren: einen Gott und einen Glauben, der mit der ungeschminkten Wirklichkeit klar kommt und sich nicht in abgeschirmte Heiligtümer flüchtet.

Also – lieber ein Loch in die Decke hauen und einen unvergesslichen Tag erleben.

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Herz über Kopf

Neulich beim Autofahren lief im Radio „Herz über Kopf“. Es geht um eine Beziehung, in der anscheinend nichts mehr funktioniert, aber in der beide Partner sich nicht von einander losreißen können: „Der Zug ist abgefahr’n, die Zeit verschenkt. Fühlt sich so richtig an, doch ist so falsch“.

So weit, so melodramatisch. Steht Verstand gegen Gefühl, verliert eben der Verstand. Oder?

Dasselbe Motiv spielt gerade eine große Rolle in der Politik. Da melden sich selbsterklärte „Stimmen der Vernunft“ zu Wort und halten den anderen, allen voran der Bundeskanzlerin, ihre Gefühlsduselei in der Flüchtlingsfrage vor, mit der sie schweren Schaden anrichtet, und der Hinweis auf das Gewissen wird dann, je nach Bedarf und Couleur, als moralischer Imperialismus, Gutmenschentum, verkappter Egoismus, und Verrat am Volk gewertet. Kopf über Herz, so möchten sich diese Kritiker verstanden wissen.

Beidesmal stimmt die Entgegensetzung aber nicht.

Jemand, der aus Angst, Gewohnheit oder Phantasielosigkeit an einer intimen Beziehung festhält, die ihm nicht gut tut, handelt durchaus rational, wenn auch in einem reduzierten und für Außenstehende befremdlichen Sinn. Und zugleich hört er meist auch nicht genug auf das Herz, das durchaus in der Lage ist, zu erkennen, wann eine Beziehung toxisch geworden ist. Er denkt und fühlt aber nicht weiter als bis zur nächsten kurzfristigen Wiederkehr des Vertrauten – Kater eingeschlossen. Bei einer endgültigen Trennung wäre man ja selbst verantwortlich für das eigene Unglück. Es stimmt also weder im Herzen noch im Kopf.

 

Wer sich für Solidarität mit Flüchtlingen einsetzt, wer das Asylrecht und die Menschenrechte für nicht verhandelbar hält, wer sich hier kategorisch in der Pflicht und unbedingt gefordert sieht, zu helfen und sich einzusetzen (praktisch wie politisch), handelt keineswegs unvernünftig. Er folgt nur nicht der berechnenden, kühl kalkulierenden und konkurrierenden Vernunft derer, die sich das Elend dieser Welt (das sie aktiv und passiv mit verschuldet haben) so weit wie möglich vom Leib halten wollen, etwa mit so realitätsverzerrenden Parolen wie: „Wir können schließlich nicht die ganze Welt retten.“

Vielmehr folgt er oder sie der empathischen Vernunft, die sich mit dem Leid anderer identifiziert, die die eigene Verantwortung und Zuständigkeit nicht nach Gusto, und mit dieser emphatischen Vernunft verbindet sich ein Rechtsverständnis, für das Grund- und Menschenrechte nicht unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Eine Vernunft, die weit genug blickt, um zu erkennen, dass jeder Verzicht auf Mitmenschlichkeit auch bei uns selbst langfristig irreparablen Schaden anrichtet.

Die berechnende Vernunft derer, die nach Zäunen, Truppen und Kontrollen rufen, die die Risiken (freilich geht es nicht ohne Risiko) grell und die Hoffnung blass zeichnet, ist aber auch in einer anderen Hinsicht der Haltung ähnlich, die in „Herz über Kopf“ anklingt: Sie hält an dem ungesunden Verhältnis fest, in dem wir Deutschen und Europäer uns gegenüber dem Rest der Welt befinden – unsere seit Generationen bestehende, dauerhafte Mitverantwortung für Armut und politisch-religiösen Extremismus in Afrika, Syrien, dem Irak oder Afghanistan – als wäre es etwas unverrückbar Schicksalhaftes, und die hätschelt die eigenen Verlustängste, indem sie die Weigerung zu Teilen, zu Verzicht und zur Anpassung des eigenen Lebensstils an veränderte globale und lokale Verhältnisse als eine besonders erhabene Form von Verantwortung verkleidet.

Der eine hat Angst, sich aus einer ungesunden Symbiose zu lösen, weil er dann irgendwie nicht mehr er selbst wäre. Auch sein Kopf versagt vor der Aufgabe, einen neuen Lebensentwurf zu erschaffen. Die anderen schüren die Panik, dass wir nicht mehr wir selbst sein könnten, wenn wir „alles Elend dieser Welt“ über unsere Grenzen „schwappen“ lassen und erwecken den irrigen Eindruck, es gäbe einen Weg zurück zum Business as Usual. Auch hier ist ein neuer Lebensentwurf unausweichlich. In der Charta der Menschenrechte steht nichts von einem Anspruch darauf, von Veränderungen verschont zu bleiben. Und in der Bibel schon gleich gar nicht.

Der Zug zurück in heile (weil vergangene) Welten „ist abgefahrn“. Je eher wir das begreifen und uns der Herausforderung an unsere denkendes Herz (um es mit Etty Hillesum zu sagen) stellen, desto eher schwindet die Angst und mit ihr die Macht derer, die sie für eigene Zwecke ausbeuten.

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Endlich erhältlich: Öffentlich Glauben von Miroslav Volf

Im vergangenen Jahr habe ich Miroslav Volfs A Public Faith für den Francke-Verlag übersetzt und nun ist es endlich so weit, das Buch ist auf dem deutschen Markt. Ganz besonders freut mich, dass Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm das Vorwort für seinen Kollegen aus Yale geschrieben hat.

Die Frage, wie und in welcher Form Christen am gesellschaftliche Leben teilnehmen und teilnehmen sollten, hat schon immer die Gemüter erhitzt. Aktuell etwa positionieren sich die große Kirchen in der Flüchtlingskrise sehr eindeutig, was bei konservativen Parteien und deren kirchlichen Sympathisanten mit Missfallen zur Kenntnis genommen wird (da will man die Bibel auf einmal nicht mehr ganz so wörtlich nehmen). Aber es gab und gibt ja auch die säkularistische Forderung, Kirchen und Religion aus dem öffentlichen Raum möglichst vollständig herauszuhalten.

Miroslav Volf geht davon aus, dass praktisch gelebter Glaube auf „menschliches Gedeihen“ hin angelegt ist, also ein erfülltes Leben und ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft. Die Frage nach dem ewigen Heil Er behandelt zwei Fehlfunktionen, nämlich den weltflüchtigen (und damit untätigen) Glauben und den übergriffigen Glauben.

Volf entwickelt diese doppelte Abgrenzung sehr sorgfältig und buchstabiert dann durch, wie Christen (aber auch Juden und Muslime) in einem säkularen Staat und einer pluralistischen Gesellschaft so leben, dass es dem Gemeinwohl nützt und sich jeder Tendenz zu religiösem Totalitarismus widersetzt. Ein wichtiges Thema, denn

die religiöse Vielfalt westlicher Länder spiegelt die zunehmende religiöse Vielfalt der Welt als ganzer wider. Was die einzelnen Länder angeht ist religiöse Vielfalt freilich kein westliches Phänomen. In mancher Hinsicht ist der Westen sogar spät dran. Einige nichtwestliche Länder wie Indien zum Beispiel leben seit Jahrhunderten mit religiösem Pluralismus.12 Andere werden wahrscheinlich zunehmend pluralistisch, wobei verschiedene Religionen – allen voran Christentum und Islam – um Mitglieder wie um gesellschaftliche Macht und politischen Einfluss wetteifern. Global und national wird religiöse Vielfalt in den nächsten Jahren in wichtiges Thema bleiben. Die modernistische Sehnsucht nach einer säkularen Welt muss zwangsläufig zu Enttäuschungen führen, genauso wie die Nostalgie eines „christlichen Europa“ oder eines „christlichen Amerika“ genau das bleiben muss: unerfüllte Nostalgie.

Nicht die schlechteste Wahl, wenn Ihr demnächst Eure Weihnachts-Wunschzettel zusammenstellt…

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