Die Teilung der Teilung

Bei Richard Rohr habe ich vor längerer Zeit einmal gelesen „Contemplation refuses to create dichotomies“, Kontemplation weigert sich, Gegensätze aufzustellen. Daran wurde ich wieder erinnert, als ich neulich bei Ina Praetorius von der „Dichotomisierung“ der Menschheit las. Als auf dem Erlanger Poetenfest über Koran und Gewalt diskutiert wurde, ging es auch um den scharfen Kontrast zwischen Gläubigen und Ungläubigen, der in Teilen des Korans eine große Rolle spielt. Aber freilich – nein, leider! – kennen wir solche ausschließenden Denkstrukturen auch zur Genüge aus dem Christentum. Früher waren die Katholiken die apokalyptische Gefahr, heute sind es die Muslime, es spricht nichts dafür, dass die Argumente inzwischen besser geworden sind – im Gegenteil.

Die theologische Antwort darauf finden wir im Römerbrief, wie Giorgio Agamben in seiner nicht immer ganz einfach zu lesenden Auslegung Die Zeit, die bleibt zeigt. Sein drittes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage von Universalismus und Partikularität, der „Aussonderung“ des Paulus als Apostel Christi. Paulus kommt als Pharisäer aus einer Tradition der Aussonderung, doch es ist nicht mehr der nomos, der diese Aussonderung bewirkt (der Zaun von Geboten, die die Pharisäer um die Torah herum errichtet hatten). Die messianische Torah hingegen führt „in eine Aussonderung der zweiten Potenz, eine Aussonderung der Aussonderung selbst, die die Teilungen des pharisäischen Gesetzes teilt und durchquert.“

Das Gesetz teilt die Welt in Juden und Heiden, aber für Paulus teilt es den Menschen auch innerlich in gute und böse Neigungen, und schließlich landet Paulus in Römer 7,23 beim „Gesetz des Hauches“. Auch dieses messianische Gesetz teilt, nämlich zwischen pneuma (Geist) und sarx (Fleisch). Es kommt nun zu einer Teilung der Teilung, bei der auf der Seite der Juden nun eine äußere Zugehörigkeit „nach dem Fleisch“ und eine unsichtbare „nach dem Geist“ (bzw. bei Agamben schön ausgedrückt „nach dem Hauch“) entsteht. Auf der Seite der Heiden ist durch den Geist des Messias dasselbe vorauszusetzen, so dass nun die Situation eintritt, dass der alte Gegensatz nicht mehr aufgeht. Es „bedeutet, dass die messianische Teilung in die große nomistische Teilung der Völker einen Rest einführt, dass als Juden und Nichtjuden konstitutiv »nicht alle« sind.“

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(Meine Grafik, dass ein Kreuz entstanden ist, habe ich erst im Nachhinein gesehen)

Es entsteht mit dem Rest ein Drittes, die „Nicht-Nichtjuden“, die im messianischen Gesetz leben und sich nicht mehr auf die alten Alternativen oder Dichotomien reduzieren lassen:

Sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit für die Juden und die Gojim dar, mit sich selbst zusammenzufallen, sie sind eher so etwas wie ein Rest zwischen einem Volk und sich selbst, zwischen jeder Identität und sich selbst. … Für Paulus geht es nicht darum, die Differenzen zu „tolerieren“ oder sie zu überschreiten, um jenseits von ihnen das Selbe und Universale zu finden. Das Universale ist für ihn kein transzendentes Prinzip, von dem aus er über die Differenzen schauen könnte – er verfügt nicht über einen solchen Standpunkt –, sondern ein Verfahren, das die Teilungen des Gesetzes selbst teilt und unwirksam macht, ohne je einen letzten Grund zu finden.

Agamben folgert folgenreich: „Die messianische Berufung trennt jede klesis von sich selbst, sie erzeugt in ihr ein Spannung zu sich selbst, ohne ihr eine Identität zu geben: Jude als ob nicht Jude, Grieche als ob nicht Grieche.“ Er verfolgt dann das Motiv des Rests durch das Erste Testament und kommt zu dem Schluss:

Eine aufmerksame Lektüre der prophetischen Texte zeigt … deutlich, dass der Rest die Konsistenz oder Figur ist, die Israel in Bezug auf die Auserwählung oder das messianische Ereignis annimmt. Der Rest ist also weder das Ganze noch ein Teil von ihm, sondern bedeutet die Unmöglichkeit für das Ganze und für den Teil, mit sich selbst und untereinander identisch zu sein.

Wenn wir es heute wieder in großen Stil mit der Forderung zu tun bekommen, das Abendland müsse mit sich selbst identisch (und daher von aller Zuwanderung unbehelligt) bleiben, und wenn das Christentum als feststehende Identität und Kultur die Teilungen der Welt nicht mehr teilt, sondern eine neue kategorische Teilung zwischen Recht- und Ungläubigen herbeiführt, bei der die Rechtgläubigen ausschließlich durch das Kriterium der dogmatischen und ethischen Reinheit definiert sind, die nach ewigen und nicht wandel- und verhandelbaren Kriterien bemessen wird, dann hat er das Wesentliche im paulinischen Evangelium missverstanden. Er ersetzt lediglich eine Dichotomie durch eine andere.

Eine Neubesinnung auf die messianischen Wurzeln ist angesagt. Und sie beginnt mit dem kontemplativen Blick, der es wagt, seine Urteile, sein Bedürfnis nach trennscharfer „Klarheit“ und seine Ängste zurückzuhalten.

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