Das Gebot der Stunde, oder: Was Angela Merkel und Keith Green verbindet

Man weiß ja nie, was noch alles kommt, aber so, wie es momentan aussieht, ist die Flüchtlingsfrage die größte politische Herausforderung dieses Jahrzehnts, für Deutschland wie für Europa – und die größte geistliche Herausforderung für uns Christen.

Die letzen Wochen waren eine Sternstunde der Zivilgesellschaft, die eine zögernde, planlose und widerwillig agierende Bundesregierung (verkörpert durch den Innenminister) vor sich hergetrieben hat. Dessen „Lösungen“, angefangen vom Beharren auf den Dublin-Verträgen, die die Probleme auf Italien und Griechenland abwälzten, bis hin zum kopflosen Hin und Her, was die Seenotrettung im Mittelmeer angeht, haben samt und sonders versagt und dazu beigetragen, dass sich auch in den anderen europäischen Ländern die Illusion verbreitet hat, man könne sich abschotten. Der Bund deutscher Kriminalbeamter fasste das Versagen jüngst so zusammen:

Hätten sich unsere verantwortlichen Politiker auf EU- und Bundesebene nicht diesen Erkenntnissen nach dem Prinzip der drei Affen (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen) verschlossen, hätten wir uns auf die Situation ganz anders einstellen können. Wir hätten heute keine überquellenden Züge und Bahnhöfe und überforderte Länder, Städte und Kommunen gehabt, die nicht wissen, wie sie der Lage noch Herr bleiben können. Wir hätten fast 5 Jahre Zeit gehabt, uns auf die kommenden Herausforderungen einzustellen. Wir hätten Aufnahmeeinrichtungen in ausreichender Anzahl aufbauen und die notwendige Logistik bereitstellen können. Wir hätten die Flüchtlinge menschenwürdig in ihre Unterkünfte transportieren und unterbringen können. Haben wir aber nicht.

Syrian Refugees by FreedomHouse, on Flickr
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Das muss nun mühsam korrigiert werden, ebenso wie die Versäumnisse dabei, sich rechtzeitig auf den Andrang derer einzustellen, die vor Krieg und Gewalt aus ihrer Heimat fliehen mussten. Erstaunlicher- und erfreulicherweise hat sich die Kanzlerin hier nun klar positioniert, zuletzt gestern, als sie klarstellte:  „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Ein paar wundersame Schwarze hingegen preisen sich stolz als die Stimme der Vernunft an, weil vermeintlich naive Idealisten vor ihrer eigenen kopflosen Hilfsbereitschaft gerettet werden, indem an der Grenze zu Österreich wieder kontrolliert wird. Das alles sind offensichtlich Scheingefechte. Konkret anzubieten haben die Advokaten der Abschottung nur Parolen und bürokratische Konzepte, die schon versagt haben. In dieser Situation reißt sogar bayerischen Katholiken der Geduldsfaden: Der Fürther Dekan Hermany hat die Einladung von Viktor Orban zur CSU nach Kloster Banz nächste Woche scharf kritisiert. Orban schürt in Ungarn seit Jahren Fremdenfeindlichkeit und schränkt die Bürgerrechte massiv ein.

Bleiben wir kurz in der katholischen Welt: Paul M. Zulehner hat in einem äußerst lesenswerten Vortrag zum Umbau der Kirchen in dieser Krisenzeit jüngst auf Jesus und das Evangelium vom Reich Gottes, die Rede vom kosmischen Christus und das Pfingstereignis hingewiesen, und folgert dann:

Die Sorgen der Kirche um das Heil ihrer Mitglieder sowie um die ihr ständig abgeforderte Reform an Haupt und Gliedern, werden nicht belanglos, rücken aber in den Hintergrund. Im Mittelpunkt steht nunmehr die Sorge Gottes um seine eine Welt. […] Das relativiert die Kirche hin auf die mit der Weltgeschichte idente Heilsgeschichte, weitet also ihren Horizont soteriologisch enorm. Wesentlich ist für diese Überlegungen, dass die Menschheit bei allen Unterschieden der Kulturen und Personen als eine gesehen wird. Weil nur ein Gott ist, ist jede eine, ist jeder einer von uns. Also ist auch Aylan, das tote Kind am Strand von Kos, einer von uns.

Die leitenden Geistlichen der Evangelischen Landeskirchen haben diese Woche erfreulich eindeutig festgestellt:

Gott liebt alle seine Geschöpfe und will ihnen Nahrung, Auskommen und Wohnung auf dieser Erde geben. Wir sehen mit Sorge, dass diese guten Gaben Gottes Millionen von Menschen verwehrt sind. Hunger, Verfolgung und Gewalt bedrücken sie. Viele von ihnen befinden sich auf der Flucht. So stehen sie auch vor den Toren Europas und Deutschlands. Sie willkommen zu heißen, aufzunehmen und ihnen das zukommen zu lassen, was Gott allen Menschen zugedacht hat, ist ein Gebot der Humanität und für uns ein Gebot christlicher Verantwortung.

Auch wenn nur ein Teil der Helfer, die in Wien, München und an vielen anderen Orten sich spontan organisiert haben, um die Versäumnisse der Politik zu beheben und Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sich explizit als Christen versteht, scheint es mir angemessen, diese Welle der Nächstenliebe als ein Werk Gottes zu verstehen – so wie vor allem das rechtskonservative Christentum, das mit muslimischen Neuankömmlingen noch heftig fremdelt, demnächst wieder die deutsche Einheit als ein solches Werk feiert.

Mir kam heute ein uralter Song von Keith Green in den Sinn, der in diesem Zusammenhang ganz aktuell klingt. Vieles, was Green in seiner Konzentration auf Seelenrettung eher metaphorisch formulierte, ist inzwischen ganz konkret:

Do you see, do you see all the people sinking down?
Don’t you care, don’t you care are you gonna let them drown?
How can you be so numb not to care if they come?
You close your eyes and pretend the job’s done

Ein Volltreffer auch der Verweis auf Matthäus 25, ich nenn’ das einfach mal prophetisch:

… He brings people to you door
And you turn them away as you smile and say
God bless you, be at peace and all heaven just weeps
‚Cause Jesus came to you door you’ve left Him out in the street

Die Frage ist also, ob wir Gott bei diesem Werk tatenlos oder mürrisch zusehen, oder uns dieser Bewegung anschließen. Der Kampf um ein offenes, barmherziges und fremdenfreundliches Europa, die Auseinandersetzung mit unseren Anteilen an den Kriegen, vor denen die Menschen fliehen (Spätfolgen des Kolonialismus, deutsche/europäische Waffenexporte, der Kuschelkurs mit den reichen Ölstaaten auf der arabischen Halbinsel, die den IS und andere Terrorgruppen fördern), die dringen nötige psychologische Unterstützung für traumatisierte Menschen und das Ringen um gute Integration und dauerhaften sozialen Frieden wird noch viel Zeit und Kraft kosten. Und die globalen Flüchtlingsströme werden mit fortschreitendem Klimawandel und dessen soziopolitischen Folgen dauerhaft eher noch ansteigen als nachlassen.

Bei Richard Beck habe ich neulich das folgende Zitat von Thomas Merton gefunden. Es motiviert und entlastet zugleich, und beides ist nötig:

Du bist nicht groß genug, um das gesamte Zeitalter wirksam anzuklagen, aber sagen wir einfach: Du befindest dich im Widerspruch. Du hast keine Position, aus der heraus man Befehle erteilen kann, aber du kannst Worte der Hoffnung sprechen. Soll das die Substanz deiner Botschaft sein? Sei menschlich in dieser unmenschlichsten Zeit von allen; bewahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.

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